An das erste Mal erinnert man sich sein ganzes Leben lang. Egal, ob es gut war oder nicht. Bei mir ist es jetzt auch so weit. Endlich. Sie ist keine klassische Schönheit und auch kein Leichtgewicht. Doch im Vergleich mit ihrer Familie wirkt sie aus der Art geschlagen, exotisch und fast schon wieder zierlich. Sie ist Amerikanerin, wiegt 249 Kilogramm und hört auf den Namen LiveWire (LW): die erste elektrisch angetriebene Harley-Davidson.

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So sieht sie also aus, die Zukunft. Schon optisch macht die LW klar: Ich bin anders als die anderen Kinder. Das Elektromotorrad der amerikanischen Traditionsschmiede fährt sich nicht wie ein «normales» Motorrad, sondern viel leichter. Das gefühlvolle Zusammenspiel von Gas und Kupplung zum Anfahren? Unnötig. Die E-Harley hat keine Kupplung. Die Wahl des richtigen Gangs vor Kurven? Unnötig. Sie hat auch keine Schaltung. Aber ich greife nicht ins Leere oder zucke mit dem Fuss suchend nach dem Schalthebel. Warum auch, eine Gangschaltung dient ja nur dazu, ein Fahrzeug mit einer zur Geschwindigkeit passenden Drehzahl und Übersetzung bei Laune zu halten. Und genau das ist hier nicht nötig. Die LiveWire ist immer «bei Laune»: im städtischen Stop-and-go oder um direkt loszusprinten.

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Emotion ohne Ton?

Im Stadtverkehr merke ich: Ich bin wirklich lautlos und befinde mich vom Level der Wahrnehmung durch andere motorisierte Verkehrsteilnehmer her auf der Stufe eines Velos. So was passiert einer Harley mit Auspuff natürlich nicht. Bei einem Stopp spüre ich ein gleichmässiges Pochen, den «Herzschlag» des Elektromotorrads – an meinem Allerwertesten. Okay, das fühlt sich jetzt ein wenig creepy an. Es lebt! Während ich über Land fahre, hänge ich philosophischen Gedanken nach, zum Beispiel zur Wichtigkeit der Geräuschkulisse, insbesondere der eigenen.

Ist der Sound wirklich wichtig? Handelt es sich nur um eine akustische Duftmarke? Klingt er dem Fahrer wie Musik in den Ohren? Dient er der Sicherheit, um andere auf einen aufmerksam zu machen? Oder soll er vielleicht Wild davor warnen, die Fahrbahn zu überqueren? Loud pipes save lives, heisst es. Aber es heisst auch: Loud is out.

Ich wundere mich, dass ich den wohltönenden Klang eines Verbrennungsmotors nicht vermisse. Im Gegenteil, es fühlt sich sogar ganz gut an, im Tarnkappenbomber-Modus unterwegs zu sein.

Harley-Davidson LiveWire

Der niedrige Schwerpunkt macht die elektrische Harley sehr handlich. In Kombination mit Traktionskontrolle, dem elektronisch gesteuerten Fahrwerk und der beeindruckenden Power wird sie zum Gute-Laune-Spassmobil.

Quelle: Matthias Göbel

Brachial, aber legal

Als ich bei geringer Geschwindigkeit das erste Mal richtig Gas gebe, wird auf einen Schlag brachiale Kraft in Beschleunigung transformiert, dass es mir die Arme lang zieht. In null Komma garnix verwandelt sich die bisher so brave Musterschülerin in einen Vamp, bei dem einem Hören und Sehen vergeht. Soundlevel: Warp Drive!

Und da passiert es: Ich grinse. Das geschieht mir beim Motorradfahren nur selten, da ich mich aufs Fahren konzentriere. Und konzentrieren und grinsen funktioniert bei mir bauartbedingt nicht gleichzeitig. Dachte ich. Doch die LiveWire – oder ist es der elektrische Vortrieb? – setzt bei mir offensichtlich verborgen schlummernde Grinskapazitäten frei. Mehr Spass kann man im legalen Bereich kaum haben!

Mein erster Weg führt mich zum Stammtisch einer Gruppe heterogener Individualisten, die tolerant gegenüber anderen Töffs sind – sofern es ein klassisches englisches Motorrad ist. Unter ihnen sind Bewahrer der reinen Lehre, für die schon eine elektronische Einspritzpumpe knapp am Untergang des benzinverbrennenden Abendlands vorbeischrammt. Beim Rauchen entdeckt einer meinen Raumgleiter auf dem Parkplatz, und schon pilgert die Bande los, um sich die Zukunft der Mobilität in natura anzusehen.

Die statistische Wahrscheinlichkeit, in freier Wildbahn eine LiveWire zu sichten, ist übrigens gering: Bisher sind in der Schweiz laut Motoriker.ch 29 Exemplare eingelöst, alle 2020 und 14 davon in Schwarz. Aber ich schweife ab. Das Urteil der Höckler fällt überraschend wohlwollend aus. Einer will sogar Probe sitzen. Na also, geht doch.

Ist die LW auch eine Spassmaschine für zwei oder nur was für den Lonesome Rider? Ich überrede die beste Sozia von allen zum Mitfahren. Das begeisterte «Noch mal!» nach dem kurzen Ritt im Zürcher Oberland sagt eigentlich schon alles. Auch eine mehrstündige Tour anderntags durch den Schwarzwald ändert an ihrem Votum nichts. Ihr Urteil: «Der Soziussitz ist viel bequemer, als er aussieht.»

Punktabzug gibt es von ihr nur in der Sound-Wertung: «Das klingt für mich wie ein Tinnitus.» Interessant. Mich stört der Klang kein bisschen, auch das Abrollgeräusch der Pneus finde ich spannend, da sich die Geräuschkulisse je nach Strassenbelag ständig ändert.

Ladelust und Ladefrust

Reichweiten zwischen 150 und 220 Kilometern sind drin – je nach Fahrweise, Temperatur und Topografie. Doch es hat natürlich seinen Grund, warum einem der Ladezustand so penetrant unter die Nase gerieben wird: damit man die Batterie nicht leer fährt. Klingt trivial, ist aber fatal. Man kann ja schlecht zur Stromtankstelle laufen, um mit dem Akku-Pack vom Handy etwas Strom zu zapfen.

Falls es eine Lademöglichkeit gibt, muss man sich in Geduld üben: Für nur 15 Kilometer Reichweite nuckelt die LW eine Stunde an einer haushaltsüblichen Dose. Zwischen neun und zehn Stunden dauert es, bis der Akku voll ist – das ist okay in der heimischen Garage, aber nicht, wenn man unterwegs ist und Motorrad fahren will.

LW in Zahlen

Antrieb: HD-D Revelation
Batterie: 15,5 kWh
Drehmoment: 116 Nm
0–100 km/h: in 3 s
Leistung: 105 PS / 78 kW
Vmax: k.A.
Reichweite: ca. 150 bis 220 km
Ladezeiten: Level 1: ca. 15 km / Ladestunde, Schnelllader DCFC 0–80%: 40 Min., 0–100%: 60 Min.
Sitzhöhe: 761 mm
Preis: ab 36 500 Fr.

Die Antwort auf dieses Problem sind Schnellladesäulen, eine clevere Routenplanung und gut getimte Pausen. Online oder per App werden Ladeplätze und deren Infrastruktur in der Umgebung angezeigt. Rund 100 Kilometer zusätzliche Reichweite stehen mit einem Schnelllader schon nach zwanzig Minuten auf dem Tacho. Wer allerdings vorhat, in Rekordzeit 800 Kilometer Autobahn abzuspulen, sollte zu einem Töff mit Verbrennungsmotor greifen. Sorry, Greta. Ist halt so. Dass die E-Harley keine Heizgriffe hat – geschenkt. Aber dass es Harley-Davidson nicht für nötig hält, eine Wegrollsperre einzubauen, wundert mich dann doch.

Ist die LiveWire ein Motorrad für klassische Harley-Fahrer? Bestimmt für einige. Ob die LiveWire neue Käuferschichten anzieht? Auf jeden Fall. Viele sind begeistert, bis die Sprache auf den Grundpreis von 36 500 Franken kommt.

Würde Harley-Davidson mir eine «LoveWire» (sic!) anbieten, im Tausch gegen meine treue, geliebte Triumph Bonneville, ich würde ablehnen. Dazu bin ich zu sentimental. Aber in meiner Garage hätte es schon noch ein Plätzchen für ein Elektromotorrad – zusätzlich.