Das Glas der Taschenuhr im Goldgehäuse ist abmontiert, das Grand-Feu-Email-Zifferblatt ebenso – und so wird der Blick frei auf Zahnräder, Hebel, Brücken, Wellen, Steinlager und zwei Federhäuser im Inneren der Uhr. Spitzenuhrmacherin Marion Müller steht an ihrem Etabli, sie hält die Uhr in der Hand, schaut lange darauf, macht eine Pause und sagt zunächst nur einen Satz: «Es ist eigentlich sehr schade, dass man diesen Blick auf das Werk normalerweise gar nicht hat.» 

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Marion Müller ist keine Frau der verbalen Selbstbeweihräucherung oder der rhetorischen Purzelbäume. Und schon gar nicht neigt sie zur theatralischen Begeisterungs-Eruption. Sie hält sich an die Fakten. Dabei wäre die Uhr, die sie eben in der Hand hält, vielen Sammlern einen ergriffenen Kniefall wert. Und einen sehr tiefen Griff aufs Bankkonto: «A. Lange & Söhne, Glashütte, B/Dresden», steht auf dem weissen Zifferblatt, darunter in roter Farbe die Nummer 18130. 

Marion Müller restaurierte legendäre Uhr Breguet N° 217

Die Uhr hat es in sich: Chronograph und sowie Viertelrepetition mit Selbstschlag. Will heissen: Die Preziose läutet die ganzen Stunden oder auf Wunsch auch die Viertelstunden «en passant», also automatisch. Dass ein kleiner Hebel die Funktion «Ruhe» einstellen lässt, also das Läutwerk zum Schweigen bringen kann, sei nur am Rande erwähnt. Wie auch das Wappen-Monogramm aus Brillanten auf dem Sprungdeckel.

«Bis jetzt war der Zustand gar nicht so schlecht», sagt Marion Müller über ihre erste Analyse zur Taschenuhr trocken. «Die Uhr tickte, und die Komplikationen funktionierten.»

Marion Müller ist eine Uhrendoktorin – man könnte auch sagen: eine Uhrenchirurgin –, und zwar eine mit magischen Händen. Sammler vertrauen ihr die besten Stücke an. Legendär ist zum Beispiel die Breguet N° 217, die sie in ihrem Atelier restaurierte. Das Stück gehört zu den seltenen Perpétuelle-Uhren des Meisters und hat als Komplikationen Tages- und Monatskalender, Gangreserve sowie, besonders selten, eine Anzeige der Zeitgleichung. Nebenbei: Das vor ein paar Jahren für gegen 3,3 Millionen Franken versteigerte Stück hatte einst dem brillanten General Jean Victor Marie Moreau (1763–1813) gehört, der unter Napoleon Bonaparte diente, bevor er abtrünnig wurde. Später kam sie in den Besitz von Charles Louis Havas (1783–1858), der als Erfinder der Nachrichtenagenturen gilt und die Agence France Press gegründet hat. 

Lange & Söhne-Taschenuhr
Foto: ZVG
Foto: ZVG

Gerade 15 solcher Uhren gibt es von Abraham-Louis Breguet. Und so etwas geben Sammler nur handverlesenen Restauratoren mit bestem Ruf in die Hand. Wie auch die erwähnte Lange & Söhne N° 18130 im 57-Millimeter-Gehäuse. Wenn Marion Müller solche Stücke anvertraut bekommt, ist ihr Vorgehen immer gleich. Ganz zuerst gibt es eine Analyse des Ist-Zustandes: Was geht noch, was geht nicht mehr? Funktioniert das Grundwerk? Ist es verharzt? Defekt? Fehlen Teile? 

Handarbeit bei alten Uhren

Dann kommt die Demontage. Und dann der Wiederaufbau. Was einfach klingt, kann auch einmal detektivische Arbeit erheischen und mitunter Frustrationen auslösen. Einmal zum Beispiel lief eine restaurierte Uhr eine Woche lang tadellos. Dann blieb sie hängen. Die Analyse zeigte, dass sich der Tenon oder Stift eines Rädchens für die Zeitanzeige in der «Waschmaschine» ganz leicht gelöst hatte – im Hundertstelmillimeter-Bereich. «Solche Erfahrungen sind übrigens der Grund dafür, dass ich bei alten Uhren nie maschinell oder mittels Ultraschall reinige», sagt Müller. Gute, alte Handarbeit sei schonender und besser.

Nach und nach nimmt die Meisterin ihre Uhr auseinander, entnimmt der Mechanik Hebel für Hebel, Zahnrädchen für Zahnrädchen, Triebe, Federn, Steine – alles. Und dabei habe sich für sie eine ganz bestimmte Vorgehensweise bewährt: «Jede Komponente, die ich der Uhr entnehme, wird umgehend untersucht, poliert, vielleicht rolliert und bei Bedarf auch gleich repariert.» Erst dann kommt das nächste Teil dran. Das kann zum Beispiel ein Steinlager sein, das ersetzt werden muss. Oder eine Sprungdeckelfeder, die nicht mehr tut und nachgebaut werden muss. Bei der Demontage ist akribisches Vorgehen angesagt, auch ein Federhaus wird zum Beispiel vollständig zerlegt und untersucht.

Erfahrung und Erfurcht

Wird man da nervös bei der Arbeit an solch wertvollen Stücken? Zittrig? Demütig? Marion Müller lacht. «Ich mache das seit bald 40 Jahren. Da sollte man langsam wissen, was man tut.» Aber Ehrfurcht, doch, das habe sie immer wieder. Wenn sie zum Beispiel einen Steinzylinder von Abraham-Louis Breguet in den Händen hält, bei dem peinlichste Sorgfalt angesagt ist. Ginge er in die Brüche, hätte die Uhrmacherin ein ernsthaftes Problem.

Kleinere Sorgen ist sie gewohnt. Manchmal fehlt ein Teil. Dann muss sie es nachbauen. Nur, so drängt sich die Frage auf, wie baut man ein Teil nach, von dem man die exakte Form und Dimension gar nicht kennt, weil es ja gar nicht da ist? «Erfahrung», sagt Marion Müller. Man kenne die Funktion, man könne sich also oft ziemlich präzis vorstellen, wie das Originalteil ausgesehen habe. Und dann gebe es alte Dokumente, antike Bücher oder auch einmal einen Kollegen, der vielleicht einen Tipp hat.

Das Kaliber der Lange & Söhne-Uhr aus dem Jahr 1884.
Foto: ZVG
Foto: ZVG

Marion Müller beugt sich über das Kaliber der Lange & Söhne aus dem Jahr 1884. Mit ihrer spitz zulaufenden Feinuhrmacher-Pinzette nimmt sie einen kleinen Hebel aus dem Werk und legt ihn aufs Etabli. Jedes Teilchen hat darauf einen festen Platz, denn manchmal gebe es auch mal zwei Schräubchen, die optisch identisch seien. In Wirklichkeit aber sind sie es nicht, differieren vielleicht in der Länge um einen unsichtbaren Hundertstelmillimeter: Vertauscht eingebaut wäre das fatal, die Uhr stünde still, die Fehlersuche würde ewig dauern. 

Der Hebel, den Marion Müller eben aus dem Werk genommen hat, wird leicht poliert, mehr muss nicht sein. Er ist aus Stahl, und dazu hat die Uhrmacherin erstaunliche Erfahrungen gemacht. «Ich weiss nicht, warum es so ist», sagt sie, «aber die Qualität der alten Stähle ist wesentlich besser als die der neuen.» Das zeige sich zum Beispiel bei kleinen Trieben, die in den Steinen drehen. Sie seien trotz Reibung meist kaum abgenützt – kein Vergleich mit modernen Uhren. Dort komme oft nach der Revision beim Hersteller ein Plastiksäckchen mit allerlei Teilchen zurück, die ausgetauscht wurden. Bei alten Uhren sei der Austausch eines Teilchens selten nötig. 

Sensation an Basler Uhrenmesse

Beim Zusammenbau sind Erfahrung und ein Gespür für feinste Mechanik imperativ, Drehmomenttabellen mit Angaben darüber, wie viel Druck man mindestens anwenden soll und höchstens darf, gibt es nicht. «Bei Ewigen Kalendern ist das schwieriger, bei Chronographen eher einfach», sagt Marion Müller. Denn bei Chronographen helfe die Exzenterschraube.

Es sind mitunter die vermeintlich einfacheren Aufgaben, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, das Ölen der Teile beim Zusammenbau zum Beispiel. Schnell kann, weil man vielleicht abgelenkt wird, ein Tröpfli am richtigen Ort vergessen gehen, und schon ist der Schaden programmiert. 

Marion Müller kann übrigens nicht nur restaurieren. Legendär ist das fliegende Drei-Achsen-Tourbillon, welches sie zum 150-Jahr-Jubiläum von Gübelin gebaut hat – 221 Teilchen umfasst allein das Tourbillon, 400 das ganze Werk. Drei Jahre lang arbeitete sie an der Uhr, die 2004 zur Sensation an der Basler Uhrenmesse avancierte. Irgendeinmal, das hat sie sich fest vorgenommen, wird sie auch noch ihre eigene Uhr bauen – etwas Spezielles, das es bis heute noch gar nicht gibt. Die Idee dazu hat sie schon, die Pläne sind im Kopf parat. Nur eines fehlte ihr bislang: die Zeit. |

Dieser Text erschien zuerst in «Watch Around».

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