Herr Müller, am Dienstag vermeldete der Schweizer Zoll einen geschäftigen April. Ihr Kommentar?
Das hat mit der Androhung von Strafzöllen bei der Einfuhr in die USA zu tun. Angefangen hat es am 2. April mit der Ankündigung von 31 Prozent, davon wurden bis dato «nur» 10 Prozent umgesetzt. Aber Anfang April haben die Schweizer Uhrenmarken sofort reagiert und schon am nächsten Tag damit begonnen, massive Warensendungen in die USA zu schicken. Das zeigt das Plus von 149 Prozent in Richtung USA, verglichen mit April 2024. Wenn man den Wertzuwachs vom amerikanischen Markt wegrechnet, bleibt unter dem Strich ein Minus von 6,4 Prozent. Die schlechtesten Zahlen kommen weiterhin aus China mit minus 30,5 und Hongkong mit minus 22,8 Prozent.
Gab es etwas in der jüngsten Statistik, das Sie überrascht hat?
Leider nicht, weder positiv noch negativ. Der Langzeittrend ist im Durchschnitt leicht und bei gewissen Marken stark negativ.
Wie wird sich das Geschäft in den folgenden Monaten entwickeln?
Man kann nur hoffen, dass in den USA – unserem wichtigsten Exportmarkt – eine gewisse Stabilität einkehrt. Und dass China endlich die Talsohle erreicht hat, denn wir sind inzwischen seit mehreren Jahren im negativen Bereich, und ich erwarte nicht, dass man das Vor-Corona-Niveau jemals wieder erreichen wird. Die Volumen werden weiter sinken.
Das bedeutet?
Längerfristig eine nicht lösbare Herausforderung für eine Branche, die ihren industriellen Sockel verliert. Für vertikalisierte Marken wie Rolex oder Patek Philippe und industrielle Konglomerate wie Swatch Group ist das kein Problem. Aber für viele andere ist es eine Überlebensfrage, weil sie ihre Komponenten dereinst nicht mehr in der Schweiz herstellen lassen können.
Und was bleibt?
Starke und dominante Marken werden noch dominanter und die Industrie als Ganzes noch stärker nach oben polarisiert. Drum herum gedeiht ein Haufen Nischenanbieter in allen Preislagen – Uhrmacher, Mikro- und Konzeptmarken.
«Alleine die Produktionskapazitäten der Swatch Group würden ausreichen, um die gesamte Schweizer Uhrenindustrie doppelt zu beliefern.»
Und was ist mit allen andern?
Langfristig wird die Uhrenindustrie mehrheitlich zu einem Segment des Luxus mit geringen Volumen und hohen Durchschnittspreisen werden. Das geht nicht für alle gut, denn Luxus ist Synonym für Rarität, und nicht alle Marken haben alles, was es dazu braucht.
Nämlich?
Eine Geschichte, handwerkliches Können und eine Daseinsberechtigung.
Es heisst, die Uhrenindustrie leide bereits jetzt an Überkapazitäten. Wahr?
Ein Vergleich sagt alles: Alleine die Produktionskapazitäten der Swatch Group würden ausreichen, um die gesamte Schweizer Uhrenindustrie doppelt zu beliefern. Letztes Jahr wurden rund 15,3 Millionen Swiss-made-Uhren verkauft. Ich schätze, dass wir leicht das Dreifache produzieren könnten, aber der Markt braucht das nicht. Bref: Es gibt Überkapazitäten in einem gigantischen Ausmass, da die Volumen seit 20 Jahren nach unten zeigen und wir etwa nur noch halb so viel produzieren wie im Jahr 2000. Wir werden langfristig nie mehr das Volumen erreichen, das die bestehenden Produktionskapazitäten rechtfertigen würde.
Es gibt Marken, die offenbar anders kalkulieren und Kapazitäten aufbauen.
Marken wie Rolex oder Audemars Piguet investieren effektiv viel Geld in die Vergrösserung und die Modernisierung ihrer Manufakturen, um unabhängig von externen Lieferanten zu werden. Da haben wir auf der einen Seite also immer weniger Uhren sowie steigende Preise und auf der anderen immer mehr Produktionsmittel, die nur einer Marke oder einer Unternehmensgruppe zur Verfügung stehen. Wo das hinführt? Das treibt weiter am Rad der Kosten, aber auch der Margen. Und diese Marken werden noch erfolgreicher, als sie es schon sind.
Was erwarten Sie in Bezug auf die Preisentwicklungen, insbesondere bezüglich Gold?
Ich habe keine Kristallkugel, aber halte es für sehr wahrscheinlich, dass der Goldpreis weiterhin steigen wird. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die direkten Materialkosten, sondern auch auf den Cashflow der Marken, denn man muss am Anfang des Produktionsprozesses ein Mehrfaches des gelieferten Gewichts investieren. Bei Gehäusen zum Beispiel kalkuliert man mit dem Faktor 5. Wenn Sie ein Goldgehäuse herstellen wollen, das 50 Gramm wiegt, müssen Sie während ein paar Wochen 250 Gramm Gold finanzieren. Bei einer bescheidenen Losgrösse von 50 Gehäusen ergibt das beim derzeitigen Goldpreis und allen Nebenkosten eine Investitionssumme von 1,3 Millionen Franken. Für Marken, die alles oder fast alles in der Schweiz produzieren, kommt der steigende Franken erschwerend dazu. Er macht unsere Produkte noch teurer.
Klingt alles ziemlich besorgniserregend, oder?
Der Zerfall der Wertschöpfungskette in der Schweiz seitens der Zulieferer und der Detailhändler ist meine grösste Sorge. Ganz schlimm trifft es die Zulieferer, die auf Volumen ausgerichtet sind. Es werden weniger Fabriken nötig sein, weil Volumen stetig schrumpfen und andererseits die starken Marken immer mehr vertikalisieren und immer mehr selber machen, statt dies Externen zu überlassen. Fakt ist: Swiss made schützt unsere heimischen Zulieferer sehr wenig, und wir müssen uns längerfristig überlegen, ob und wie man dieses Label effizienter gestalten könnte.
Welches ist der beste Rat, den Sie als Experte und Brancheninsider derzeit geben können?
Als Brand muss man fokussiert sein. Weniger und besser mit einer klaren Ankündigung, die der Kunde versteht. Nicht behaupten, man sei eine Manufaktur, wenn man nur standardisierte mechanische Werke verwendet. In allen Preisklassen gelten dieselben Marktregeln: radikal agieren und kommunizieren. «One size fits all»-Marken gibt es schon zur Genüge. Lieferanten ihrerseits müssen diversifizieren und andere Industrien als Kunden gewinnen, zum Beispiel Medtech, die Luftfahrt und wieso nicht die Rüstungsindustrie, die momentan, leider aus schlechten Gründen, boomt? Alle diese Präzisionsindustrien haben ähnliche Vorgaben wie die Uhrenindustrie, die vor allem auf absolute Präzision setzt. Ich wage zu behaupten, dass wir Schweizer darin immer noch in der Weltklasse unterwegs sind. Übrigens, nächste Woche, vom 3. bis zum 6. Juni, findet die EPHJ in Genf statt, eine Messe der Zulieferer der erwähnten Industrien.