Das Online-Magazin «Hodinkee», so etwas wie die Lifestyle-Bibel jener, die Uhren toller finden als alles andere, sorgt dieser Tage mit einem kleinen, an sich recht unscheinbaren Text für heisse Diskussionen unter Watch-Aficionados. «Wer wird die nächste Rolex?», fragt «Hodinkee». «Wer wird die Krone als die bekannteste und begehrteste Uhrenmarke ablösen?» Und um die Provokation nach den teilweise fast als blasphemisch empfundenen Fragen perfekt zu machen, liefert «Hodinkee» gleich die Antwort mit: «In den schummrigen Ecken von Uhrenforen und an Uhrentreffs», so das Magazin, «wird oft der Name Grand Seiko erwähnt (wenn auch meist erst nach dem zweiten Bier)».

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Man soll «Hodinkee» durchaus dafür loben, die in Sachen Rolex weitum vorherrschende Medien-Omertà ganz ungeniert zu ignorieren. Und trotzdem drängt sich die Frage auf: Ist die Vorstellung, dass die japanische Marke Grand Seiko dereinst Rolex als heisseste Uhrenmarke ablösen könnte, einfach nur lächerlich? Oder hat das was? Gibt es wenigstens einen Hauch von Realismus in der zweifellos bewusst platzierten Provokation?

Wir machen den Reality-Check.

Rolex spielt in einer eigenen Liga

Also zu den nackten Zahlen. Respektive zu den Schätzungen zu den nackten Zahlen. Und da gibt es schlicht niemanden, der Rolex auch nur annähernd das Wasser reichen kann. Mit gut 8 Milliarden Franken macht Rolex mehr Umsatz als die vier direkten Verfolger – Cartier, Omega, Audemars Piguet und Longines – zusammen.

Zudem ist die Dynamik auf der Seite der Krone: Mehr als die Hälfte des zusätzlichen Umsatzes von 5,3 Milliarden Franken, welchen die 15 Gewinnermarken zwischen 2019 und 2021 erwirtschafteten, entfällt allein auf Rolex. Konkret 53 Prozent oder 2,85 Milliarden. Rolex hat seit 2019 also deutlich mehr Zusatzumsatz gebolzt als die anderen 14 Gewinnermarken zusammen.

Grand Seiko wiederum spielt zahlenmässig mehrere Ligen darunter, etwa auf der Höhe von Swatch, Chanel, Rado oder A. Lange & Söhne. Der Umsatz wird von Kennern und Kennerinnen auf 220 Millionen Dollar geschätzt, die Stückzahlen auf gut 65 000. Ein stattliches Business also, aber weit weg von der Milliardenmarke, die in der Branche als kommerzieller Ritterschlag gilt, den aber nur wenige erreichen.

Auch Festungen wie Rolex können eingenommen werden

Ist die Festung Rolex also uneinnehmbar? Kurzfristig ja, langfristig nein.

Als Rolex 1905 gegründet wurde, war Omega der grosse Schweizer Uhrmacher. Er produzierte bereits seit 1889 über 100 000 Uhren pro Jahr. Eine Menge, die Rolex erst Anfang der 1960er Jahre erreichte (heute sind wir bei rund 1 Million Stück angelangt). Aktuell diskutieren wir, wie ein KI-Startup namens Chat GPT dem Giganten Google gefährlich werden könnte. Und die Geschichte zeigt: Auch fest etablierte oder gar dominante Player können ganz schnell im Abseits des Marktes landen; die Stichworte Xerox, Kodak oder Nokia sprechen eine deutliche Sprache.

Zudem gibt es Studien, die voraussagen, dass bis 2030 rund 50 Prozent der heutigen Luxusbrands von der Bildfläche verschwinden werden. Dass dies das Schicksal von Rolex sein wird, ist zwar höchst unwahrscheinlich. Aber auch die Krone könnte Fehler machen, die ihr die Kundinnen und Kunden nicht verzeihen.

Ein Problem für Rolex ist, dass das Unternehmen die Nachfrage nach seinen Produkten nicht befriedigen kann. Jeden Tag frustriert die Krone damit Kundinnen und Kunden. Ein Teil von ihnen wartet gerne jahrelang auf das begehrte Stück, ein anderer Teil – derzeit ein wachsender Teil – wendet sich alternativen Marken zu.

Grand Seiko hat technisch meisterhafte Uhren im Programm

Und hier kommt Grand Seiko tatsächlich bei vielen ins Spiel. Technisch meisterhaft, in den Details prächtig, im Design klassisch sind die Uhren der japanischen Edelmarke aus dem grossen Uhrenkonzern Seiko. Sie sprechen Kennerinnen und Kenner an, die auf die prestigeträchtige Aura von Rolex verzichten können, nicht aber auf sportliche, bestens gemachte Uhren, die grossartige Geschichten erzählen. Zudem gehört Grand Seiko – wie Rolex – zu den wenigen Uhrenmarken, die vertikal fast vollständig integriert sind.

Kein Wunder also, dass Grand Seiko zunehmend auch auf dem europäischen Markt Fuss fasst und eine wachsende Fangemeinde für sich einnimmt. Selbst auf dem Secondhandmarkt, auf dem Rolex, Patek Philippe und Audemars Piguet den Ton angeben, hat sich Grand Seiko einen Namen erarbeitet.

Marcel Speiser Handelszeitung
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