«Wenn wir das schaffen, werden wir in der Lage sein, alles zu tun.» Für Unternehmer Miguel Garcia, Chef und Besitzer von Sellita, stand diese Feststellung im Zentrum, als er beschloss, die Umstellung des Unternehmens zum Werkproduzenten aufzugleisen. Im Zentrum stand das Kaliber SW200 – ein Arbeitstier, welches von einem Grossteil der Uhrenindustrie als mechanischer Antrieb von Uhren eingesetzt wird. Sellita stellt heute etwa 800’000 Stück pro Jahr her, das macht fast die Hälfte der Gesamtproduktion aus, die je nach Marktsituation zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Werken pro Jahr liegt. Das SW200 allein treibt einen Zehntel der rund sechs Millionen mechanischen Schweizer Uhren an, die im letzten Jahr exportiert wurden (Quelle: Statistik des Verbandes der Schweizerischen Uhrenindustrie).

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Darüber hinaus ist dieses Kaliber SW200 ein Symbol. Es verkörpert die bedeutende Veränderung, welche die Uhrenindustrie in den letzten beiden Jahrzehnten durchlebt hat – ausgelöst durch einen Brief, der vor 22 Jahren an alle Marktführer und Kunden von Rohwerken erging. Das Schreiben, welches vom damaligen Swatch-Group-Chef Nicolas G. Hayek unterzeichnet war, setzte die Branche in Aufruhr. Denn Hayek erklärte darin seine Absicht, die Lieferungen von ETA, dem führenden Produktionszentrum für Uhrwerke der Swatch Group, einzustellen.

Für Sellita war dies ein Schock: Die einzige Aktivität des Unternehmens bestand im Zusammenbau von ETA-Uhrwerken für Drittanbietermarken. Miguel Garcia, damals Geschäftsführer, reagierte, wandte sich an die zuständigen Behörden und suchte als Unternehmer und Industrieller nach einer Lösung angesichts des Vakuums, das durch das Ende der ETA-Lieferungen entstehen würde. Im Jahr 2003 begann er mit der Umstellung von Sellita vom Monteur zum Uhrwerkhersteller – und übernahm dafür das volle Risiko.

Miguel Garcia ist Besitzer und Chef des Werkebauers Sellita.

Miguel Garcia ist Besitzer und Chef des Werkebauers Sellita.

Quelle: ZVG

Zwanzig Jahre später zeugt das Sellita-Sortiment von der Kraft des Unternehmens: 15 Basiskaliber, ergänzt um 21 spezifische Funktionen. Damit werden die Standards und Spezialitäten abgedeckt, die ETA damals produzierte und an Dritte lieferte.

Doch das Unternehmen liess es nicht dabei bewenden. Obwohl der Angebotskatalog jetzt «eher in einer Stabilisierungsphase» ist, wird er weiterhin an die Nachfrage angepasst und alle zwei Jahre aktualisiert. Dazu wurde 2018 unter dem Namen Manufacture AMT eine Abteilung für die Entwicklung und die Produktion von kundenspezifischen Uhrwerken eröffnet.

Die Entwicklung zeigt sich vor Ort in Le Crêt-du-Locle, wo das atemberaubende Tempo der Erweiterungen auch architektonisch sichtbar wird. Es gab Sellita 1, dann Sellita 2, das bald über eine überdachte Brücke mit Sellita 3 verbunden wurde, wo AMT untergebracht ist. Sellita 4 ist fürs nächste Jahr geplant und wird in einem grossen Gebäude eröffnet, das von der amerikanischen Medizinaltechnikfirma Stryker übernommen wurde, gleich auf der anderen Strassenseite.

Sellita gibt es auch in Glashütte

Dazu kommen weitere Unternehmen im Portfolio: Gurofa, ein Rohwerkhersteller im deutschen Glashütte; Technicor, ein Betrieb für Galvanisierung und Veredelung in Les Breuleux JU, sowie Helios, ein Dreh- und Fräscenter in Bévilard BE. Helios, schon früher Lieferant von Sellita, stand kurz vor der Insolvenz, zwischen 2020 und 2023 hat Sellita das Unternehmen schrittweise erworben und modernisiert. Parallel dazu wurde Gurofa zum dritten Mal erweitert und das Stryker-Gebäude übernommen. Und überdies schaffte man es, Anlagen in La Chaux-de-Fonds in Betrieb zu halten, obwohl sie der Jahrhundertsturm im vergangenen Juli verwüstet hatte. Heute zählt die Sellita Holding 850 Mitarbeiter, davon 600 im Mutterunternehmen.

Zu addieren wären noch rund hundert externe Lieferanten, ein Netzwerk, das Miguel Garcia seit Beginn des Projekts im Jahr 2003 aufgebaut hat und auf das er immer noch setzt – um sowohl den neuen Kapazitätsbedarf als auch die oft drastischen konjunkturellen Schwankungen aufzufangen: Der Geschäftsführer erwartet bereits Auswirkungen der sich abzeichnenden Krise – alle Anzeichen sind vorhanden – mit einem möglichen Volumenrückgang von 20 Prozent im nächsten Jahr, von 1,5 Millionen Einheiten auf 1,2 Millionen.

Abgesehen von den Unruhspiralen, den regelnden Organen der mechanischen Uhr, die immer noch von der Swatch Group über ihre Tochter Nivarox-FAR geliefert werden, sowie einigen speziellen Komponenten wird im Sellita-Universum alles beherrscht: die Rohwerkproduktion, das Drehen, die Veredelung, die Montage, die Konstruktion, die Entwicklung und die Serienproduktion. Man bietet Exklusivität, ist gleichzeitig Architekt, Bauherr und Generalunternehmer, liefert gemäss Katalog oder nach Mass zu festgelegten Preisen. Die Marken sollen so von der industriellen Belastung befreit werden und sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können. Tatsächlich nimmt Sellita heute die Position ein, die ETA für die gesamte Branche innehatte, sogar wenn es um exklusive Entwicklungen und Komplikationen geht. Mit einem wichtigen Unterschied: Sellita ist völlig unabhängig, ohne angegliederte Marke und ohne externe Investoren.

Hunderte von Marken als Kunden

Hunderte von Marken werden so versorgt und können auf einen zuverlässigen Lieferanten von Swiss-Made-Uhrwerken zu festen Preisen zugreifen. Miguel Garcia kennt natürlich die zentrale Rolle von Sellita und packt seine Erkenntnis in eine vielsagende Frage: «Wie sähe die heutige Uhrenlandschaft aus, wenn uns das nicht gelungen wäre?»

Im Rückblick hat es die Frage in sich – auch angesichts der aktuellen Entwicklungen. Denn nach einem Jahrzehnt der vertikalen Integration sind viele Marken heute zur Vernunft zurückgekehrt und betrachten die Herstellung von Uhrwerken nicht mehr als ihr Kerngeschäft. Angesichts der Kosten, der Gewinnmarge, der Qualitätskontrolle, der konjunkturellen Schwankungen und der Regeln des neuen Swiss Made ist der Weg zur industriellen Produktion steinig – Nicolas G. Hayek wusste das, andere mussten es lernen.

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Zu Beginn des Jahrtausends war der Einstieg in die Herstellung mechanischer Uhrwerke für Sellita ein Quantensprung. Das Unternehmen beruhte immer noch auf seinen Wurzeln, einer Montagewerkstatt, die 1950 in La Chaux-de-Fonds gegründet worden war. Als Miguel Garcia 1987 als Lagerarbeiter eintrat, nachdem er eine kaufmännische Ausbildung abgebrochen hatte, war die Produktion des Unternehmens noch bescheiden, obwohl es bereits zu den grössten Montagebetrieben von ETA-Uhrwerken gehörte. ETA lieferte Rohwerke – fertige mechanische und elektronische Uhrwerke verliessen am Ende die beiden Montageketten von Sellita (Quarz wurde später fallengelassen).

Nach dem Start im Lager durchlief Miguel Garcia verschiedene Positionen, darunter Auftragsabwicklung und Preisverhandlungen, eine «Training on the job»-Erfahrung, wie er es ausdrückt, die ihn schliesslich in die Position des Generaldirektors führte. 2001 erreichte ihn der Brief von Nicolas G. Hayek, 2002 entschied er sich, das Unternehmen auf die Herstellung von Uhrwerken umzustellen. Der 81-jährige Eigentümer leistete Widerstand, Garcia fertigte eine Unruhspirale an, um zu beweisen, dass alles machbar ist. Er erhielt freie Hand und erkannte rasch die Herausforderung: «Allein gegen die Macht der Swatch Group, das Risiko des Scheiterns war enorm.»

Doch Garcia sah keine Alternative: Absturz oder Aufstieg. Und er wollte die Sache auf seine Weise anpacken, nach seinen Managementmethoden: «Wenn du erfolgreich bist, verdankst du es anderen. Wenn du scheiterst, ist es deine Schuld.» Er wollte Handlungsfreiheit, die Übergabe wurde organisiert. 2003 übernahm er die volle Kontrolle über Sellita: 120 Mitarbeiter, eine Million montierte ETA-Uhrwerke pro Jahr und eine gewaltige Umstellung als Projekt. Anderthalb Jahre später präsentierte er an der Baselworld das erste SW200-Uhrwerk.

Miguel Garcia wollte mit dem Wesentlichen starten. Daher entschied er sich für das Klonen des ETA-Referenzkalibers 2824, eines automatischen Dreizeiger-Traktors mit Datum, kostengünstig und zuverlässig, der im Uhrensektor seit Langem am häufigsten verwendet wird. So wurde das SW200-Programm gestartet, weitgehend, aber nicht ganz auf einem weissen Blatt, da die technischen Pläne des 2824 schon lange öffentlich zugänglich waren.

«Ich habe alles auf dieses Abenteuer gesetzt», sagt Manuel Garcia und klingt dabei wie ein Kapitän nach dem Sturm. Die Macht der Swatch Group sei überwältigend gewesen. Die Bedrohung eines Lieferstopps, als die Alternative noch nicht bereitstand, liess die Branche den Atem anhalten. Niemand wollte das Risiko eingehen, die Bezugsquelle offen zu wechseln: «In Basel kamen die Kunden durch eine Hintertür.»

Einige Vorreitermarken begleiteten Sellita dennoch von Beginn an. Know-how wurde aufgebaut, der Katalog reifte heran. Das SW200 wurde zum SW200-1. Bald kamen das erste Chronographenkaliber, ein Damenuhrwerk und dann viele weitere Kaliber hinzu. Nach und nach wurden die ETA-Uhrwerke aufgrund der Nachfrage schrittweise durch eigene Kaliber ersetzt. Gleichzeitig entwickelten sich die ETA-Lieferungen zu einer Art nationaler Fortsetzungsgeschichte, orchestriert von der Wettbewerbskommission, mit Untersuchungen, Spannung und dramatischen Wendungen. Bis die Swatch Group schliesslich 2020 von der Verpflichtung befreit wurde, an Dritte zu liefern.

Während dieser Zeit entwickelte sich der Montagebetrieb zu einer vollständigen Uhrwerkmanufaktur. Alles wurde in die Produktionsanlagen reinvestiert: «Um so industriell wie möglich zu sein, uns zu stärken, sozusagen die Muskeln zu stählen, aber ohne Etappen zu überspringen.» Berufe wurden integriert, Produktionslinien nach Bedarf hinzugefügt. Dazu gehörten die Herstellung von Werkteilen, das Einsetzen von Lagersteinen, der Kauf Dutzender zusätzlicher Maschinen, aber auch die Optimierung der Nebenbereiche wie Logistik und Lagerung. Es brauchte zusätzliche Produktionslinien und mehr Aufwand bei der Kontrolle. Zwei Labors wurden dafür eingerichtet, eines für die Uhrmacherkunst – wo alle Homologationen durchgeführt werden – und eines für Materialien, in dem ständig zwei Physiker und ein Lehrling beschäftigt sind. Last but not least: «eine Menge» Schulung. Sellita betreibt sogar eine eigene Schule für die Operateure. «In einem Projekt muss man alles tun können und sich für alles vorsehen.»

Miguel Garcia blieb während der Aufbaujahre sehr diskret: kein Lärm, minimale Medienpräsenz. Er konzentrierte sich auf seine unternehmerische Vision, die auf Unabhängigkeit und einer Ethik als Industriepartner basiert. Motto: vor allem «keine Politik», weder bei der Auswahl der Marken noch bei den Preisen. Auch kein übermässiges Wachstum, dafür Zurückhaltung – gerade angesichts der immer vorhandenen Spannungen in der Branche. Generell sei Demut angebracht, meint Garcia, «es ist ein Glücksfall, dass sich die mechanische Uhr in die richtige Richtung entwickelt hat». Seine klare Linie wurde kürzlich von der Branche gewürdigt – mit einem Gaïa-Preis.

Dieser Artikel erschien zuerst bei «Watch Around».