Die 50 grössten Schweizer Uhrenmarken haben vergangenes Jahr 36'127 Milliarden Franken Umsatz erzielt. 43,7 Prozent davon stammen von den «Big Four», Rolex, Patek Philippe, Audemars Piguet und Richard Mille. Die Zahlen stammen aus dem Branchenreport zur Schweizer Uhrenindustrie, den Morgan Stanley eben publiziert hat. Oliver Müller, Uhrenexperte und Inhaber der Genfer LuxeConsult, ist Co-Autor des Berichts und erklärt, wie die vielen konkreten Zahlen zu einer traditionell sehr intransparenten Branche zustande kommen, welches die Knackpunkte sind und welches die Überraschungen 2023 waren. Und er schätzt ein, wie es weiter geht, nun, da Rolex den grössten Rolexhändler der Welt, Bucherer, besitzt.

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Herr Müller, Morgan Stanley hat soeben den neusten Report über die Schweizer Uhrenindustrie publiziert, die siebte Version. Er hat sich inzwischen als Referenz etabliert. Was können Sie uns als Co-Autor dazu sagen, wie er zustande kommt?

Die Uhrenindustrie ist historisch eine Black Box, wo man auf sehr wenige offizielle Daten zurückgreifen kann. Und die Hauptakteure haben es – mit ganz wenigen Ausnahmen – nicht gern, dass man ihnen über die Schulter schaut. Anders als in der sogenannten Fast-Moving-Consumer-Goods-Industrie, Beispiel Kosmetik, in der Panels existieren und man sich Berichte kaufen kann, wo man erfährt, wie viele Produkte in der Preisklasse XY der Konkurrent verkauft, existiert weder in der Luxus- noch in der Uhrenindustrie etwas Vergleichbares. Es gibt die Exportstatistik des Schweizer Zolls: Sie ist eine zuverlässige, wenn auch nicht perfekte Datenquelle und wird vom Verband der Schweizer Uhrenindustrie (FH) jeweils sehr gut in einem Zahlengerüst aufgebaut und publiziert. Das Problem mit diesen Zahlen ist, dass man hier Daten zum Sell-in hat, das heisst zu den Abverkäufen der Marken ins Ausland, nicht aber zum Sell-out, dem Abverkauf an den Endkunden. Es fehlt auch der Schweizer Markt, also die Abverkäufe an Schweizer Kunden oder in der Schweiz residierende Kunden. Dieser Markt ist nicht ganz unbedeutend und wird momentan von uns auf rund sechs Prozent der gesamten weltweiten Abverkäufe der Schweizer Uhrenindustrie geschätzt. Die Verkäufe an Ausländer – mehrheitlich Touristen – wird hingegen in der Exportstatistik erfasst.

Oliver Müller

Oliver Müller, Inhaber der Genfer Beratungsfirma LuxeConsult, kennt die Schweizer Uhrenszene à fonds.

Quelle: Stefan VOS

Das sagt aber noch nichts darüber aus, wie Sie zu Ihren publizierten Marktanteilen kommen. Wie machen Sie das genau?

Unsere Methodologie beruht darauf, dass wir eine vergleichbare Basis erstellen, indem wir die Abverkaufszahlen der jeweiligen Marken in Umsatzzahlen, basierend auf dem Endverkaufspreis, umrechnen. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Richard Mille macht 100 Prozent des Umsatzes mit eigenen Boutiquen oder Franchisepartnern. Der konsolidierte Umsatz ist natürlich nicht zu vergleichen mit dem von Patek Philippe, die 85 Prozent ihres Umsatzes mit Detailhändlern macht. Wir schätzen beim Wholesale (Grossist, oft eine Filiale der Marke) und beim Retail (Fachhändler) Quoten und Margen ein und ermitteln dann einen auf den Endverkaufszahlen basierenden Marktanteil.

Also eine detaillierte Analyse?

Genau. Ich will jetzt nicht allzu sehr ins Detail gehen, aber unsere Informationsquellen sind von guter Qualität, und da sich unser Report seit 2018 als Referenz etabliert hat, haben viele Manager in der Industrie begriffen, dass sie uns vertrauen und gewisse Informationen austauschen können.

Warum machen Sie diesen Report überhaupt?

Wir machen den Bericht nicht für die Industrie, wie alle denken. Morgan Stanley ist eine Bank: Sie hat Kunden, die investieren, unter anderem in börsenkotierte Uhrenkonzerne. Bei den Uhren haben wir die Anomalie, dass die führenden Marken privat sind, es um sie herum jedoch eine Richemont, eine Swatch Group und eine LVMH gibt, in welche die Bankkunden investieren können. Damit diese den Gesamtmarkt besser verstehen, machen wir den Report. Eigentlich ist es «Analystenfutter», wurde aber in der Industrie zur «Bibel» gekürt. Diese Einschätzung stammt übrigens nicht von mir, sondern von einem bekannten Fachjournalisten.

Auch die börsennotierten Konzerne legen die Zahlen einzelner Marken nicht offen. 

Ja, und sie haben auch keine Verpflichtung dazu. LVMH ist da eine Ausnahme, sie hat bei einigen Marken kein Problem mit der Transparenz. Allerdings ist für sie das Uhrenbusiness aufs Ganze gesehen auch – noch – fast irrelevant: Im Konzern machen Uhren und Schmuck etwa sechs bis sieben Prozent vom Ganzen aus. Bei der Swatch Group und bei Richemont muss man sich durcharbeiten, und wir wissen und verstehen, dass man gewisse Marken besser darstellen will, als sie tatsächlich sind. Fakt ist, dass ein konsolidierter Wert vorliegt, der publiziert wird und den man nicht schönreden kann. Wissen Sie, gesamthaft gesehen, ob börsenkotiert oder nicht: Wenn ich auf das hören würde, was man mir sagt, müsste unsere Industrie doppelt so viel Umsatz machen.

Zum Report: die grössten drei Überraschungen 2023?

Es gab einige. Vacheron Constantin ist der neue, achte Umsatzmilliardär, und die Marke hat es auch verdient, denn sie legt tolle Arbeit an den Tag. Man muss fairerweise auch sagen, dass ihre Overseas stark vom Unterangebot bei den «Trophy Watches» (Nautilus von Patek Philippe oder Royal Oak von Audemars Piguet) profitiert hat. Und die Swatch Group hat mit Tissot dank der PRX wieder eine dritte Marke unter den Top 10. Das ist eine tolle Leistung. 

Swatch ist wieder da.

Ja, Swatch hat mit ihrer Kollaboration mit Omega, der MoonSwatch (zwei Millionen verkaufte Uhren 2023, drei Millionen seit der Lancierung), einmal mehr gezeigt, dass die Schweizer Uhrenindustrie auch im Einstiegssegment siegen kann. Ich war vor ein paar Jahren der Marke gegenüber sehr kritisch und fand die erste Version der Biokeramik-Uhren lustig, aber sie war ein Flop. Die zweite Version hat eingeschlagen, weil man das Grundrezept einer Kollaboration angewendet hat, zwei gegensätzliche Pole miteinander kreativ werden zu lassen. 

Und drittens?

Es haben es erstmals drei unabhängige Marken in die Top-50-Liste geschafft: F.P.Journe, H. Moser und Greubel Forsey. Allgemein sieht man einen sehr positiven Trend bei den sogenannten Unabhängigen (auch wenn bei F.P.Journe Chanel mit 20 Prozent investiert ist), die ein tolles Jahr hinter sich haben und die Kreativität grossschreiben. Ihr ökonomischer Wert mag mit zwei Prozent des Gesamtumsatzes der Schweizer Uhrenindustrie zwar marginal sein, und sie können ja auch nur in einem Ökosystem mit den Grossen existieren, doch ihre Bedeutung ist unbestritten. Die Uhrenindustrie braucht Volumen – von den grossen Marken wie Swatch Group und Rolex –, um die Produktion aufrechtzuerhalten, aber auch Nischenangebote.

Deren Zahlen zu schätzen, ist ja wohl noch viel schwieriger als von grossen Marken? 

Im Gegenteil, denn da kann ich von meinem persönlichen Netzwerk, das ich mir in fast drei Jahrzehnten aufgebaut habe, profitieren. Und einige Uhrenhersteller haben inzwischen verstanden, dass es besser ist, im Vornherein ein paar Informationen abzugeben, als im Nachhinein sauer zu sein. 

Diese Marken wollen also in die Liste. Wozu? 

Renommée – und niemand wird gern unterschätzt. Und dann gibt es einen praktischen Mehrwert bei Mergers & Acquisitions, bei der Einschätzung des Unternehmens oder auch dabei, den besten Standort für eine Boutique zu ergattern. Der Bericht wird von vielen Leuten gelesen und nicht nur in der Finanz- oder Uhrenindustrie.

Die Emporkömmlinge dürften vor allem die grossen Konzerne interessieren, die immer auf der Suche nach weiterem Wachstum sind. 

Absolut, weil sie bekanntlich nicht in der Lage sind, eine Marke von null an aufzubauen. Aber sie wissen sehr wohl, wie man aus 100 Millionen Umsatz 500 Millionen macht. Man muss auch unterscheiden, wer investiert. Eine Luxusgruppe wird sich normalerweise nicht für eine Marke interessieren, die gerade mal 20 Millionen Umsatz einfährt, ein Family Office hingegen sehr wohl. Aber bleiben wir realistisch und gehen davon aus, dass von 100 neu lancierten Marken gerade mal etwa fünf Prozent die fünf «Migros Data»-Jahre überleben. Und pro Jahrzehnt gibt es nur gerade eine richtige wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Zum Beispiel Richard Mille.

Welches waren für Sie 2023 die drei überraschendsten negativen Entwicklungen?

Breitling hat es nicht geschafft, die Milliarde Umsatz zu knacken, und hat Marktanteile verloren. Doch das schmälert nicht den bisherigen Erfolg, ich denke, sie werden einfach mehr Zeit brauchen, als sie angenommen haben. Der Zukauf von Universal Genève ist eine positive Nachricht und strategisch klug, wird aber nicht Breitlings Wachstum ankurbeln, zumindest nicht kurzfristig. Bei Richemont ist es IWC, die Sorgen macht und Umsatz verloren hat. Aber mehr als an Umsatz hat die Marke an Relevanz verloren und Marktanteile an direkte Konkurrenten wie Breitling (bis vor 2023) oder Omega abgegeben. Und bei der Swatch Group ist der unaufhaltsame Abstieg von Breguet seit Jahren ein Thema für die ganze Industrie. Die Marke bräuchte einen Push, wie ihn Hayek senior 1999 nach dem Aufkauf gegeben hat. Er hatte es geschafft, innerhalb von ein paar Jahren auf Augenhöhe mit Patek Philippe zu kommen. Und ich kann Ihnen versichern, dass Breguet auf der uhrmacherischen Ebene einiges mehr zu erzählen hat als Patek.

Sie erwähnen nicht, dass Rolex die Zehn-Milliarden-Franken-Grenze überschritten hat …

… und damit nun einen Marktanteil von 30,3 Prozent hat, inklusive Tudor sogar von 31,9 Prozent. Das ist wirklich eindrücklich, kommt aber nicht unerwartet, und Sie haben ja nach Überraschungen gefragt. Es gibt keine andere Luxusmarke auf der Welt, die in ihrem Bereich eine derart dominante Stellung hat. Markant auch: Die vier grössten Gruppen, Rolex, Richemont, Swatch Group und LVMH, verfügen über einen Marktanteil von 75 Prozent des gesamten Schweizer Markts. Und vier Marken – die «Big Four» Rolex, Audemars Piguet, Patek Philippe und Richard Mille – haben fast 44 Prozent Marktanteil, und alle vier sind nicht börsenkotiert. Vielleicht ein Zeichen, dass langfristiges Denken mehr Erfolg bringt.

Rolex verkaufte bis vor der Übernahme von Bucherer ausser in einer Boutique in Genf keine Uhren selber. Was wird sich am Zahlenwerk ändern?

Wenn Rolex alle Uhren direkt vertreiben würde, hätte der Umsatz 2023 gemäss unseren Schätzungen 15,2 Milliarden betragen. Bucherer wird es der Gruppe ermöglichen, ihre Wirtschaftlichkeit mittelfristig zu verbessern. Aber das ist nicht der Hauptgrund dieser Akquisition. Rolex will vielmehr ihre Distribution selbst kontrollieren und damit auch dem Graumarkt Einhalt gebieten, also dem Wiederverkauf ausserhalb der offiziellen Kanäle, oft zu nicht üblichen Konditionen. Wir gehen zudem davon aus, dass Rolex die aktuell 1560 Verkaufsstellen weiter reduzieren wird, um die Präsenz der Marke auf bestimmte Flagshipstores weltweit zu  konzentrieren. Der Aufkauf von Bucherer war übrigens keine defensive Massnahme, wie gewisse Kommentatoren glauben, sondern das erste Kapitel einer durchdachten Strategie, die mit den Certified-Pre-Owned-Aktivitäten bei Bucherer begonnen hat. Ich sagte das übrigens schon 2018 zu gewissen Kunden von Morgan Stanley, und die dachten, ich spinne total. Einer – ein Investmentfonds – hat sich kürzlich bei mir dafür entschuldigt.

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