Herr Zysset, wenn es nach Ihnen ginge, würde man heute besser Wirtschaft studieren, anstatt sich in Klimawissenschaften ausbilden zu lassen. Warum?
Wir brauchen nicht unbedingt mehr Klimawissenschaftler, denn wir wissen schon sehr viel über den Klimawandel und die drohenden Konsequenzen. Was wir brauchen, sind Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die die nachhaltige Entwicklung ernst nehmen und den Übergang der Wirtschaft ins postfossile Zeitalter vorantreiben.
Was muss die neue Generation von Ökonomen können, was die aktuelle nicht kann?
Sie muss ein neues Verständnis von Wirtschaft entwickeln, das wirtschaftliches Handeln mit den planetaren Grenzen in Einklang bringt. Das heute vorherrschende Denkmodell, das Wirtschaftswachstum über alles stellt, führt uns nachweislich in die Sackgasse. Es wurde bis jetzt noch nie wissenschaftlich aufgezeigt, dass eine absolute Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum wirklich möglich ist.

Wirtschaftswachstum ohne Ende? Gemäss Simon Zysset geht das nicht auf.
Wenn «Wachstum über alles» in die Sackgasse führt – haben es dann unsere Ausbildungsstätten verpasst, die Wirtschaftsstudiengänge auf die Zukunft auszurichten?
Ja, teilweise schon. Zwar haben heute fast alle Hochschulen eine Nachhaltigkeitsstrategie und Nachhaltigkeitsverantwortliche. Aber immer noch verlassen viele Absolventinnen und Absolventen die Hochschule, ohne eine gute Einführung zu nachhaltiger Entwicklung gehört zu haben – gerade in den Wirtschaftswissenschaften. Um ein interdisziplinäres, systemisches Verständnis der globalen Herausforderungen entwickeln zu können, müssen angehende Ökonomen auch etwas von Naturwissenschaften, Ökologie und Soziologie verstehen.
Was müsste sich bei unseren Wirtschaftsschmieden konkret ändern?
In der Volkswirtschaftslehre geht es insbesondere darum, andere Wirtschaftstheorien zu vermitteln und über Wirtschaftsmodelle nachzudenken, die keinem Wachstumszwang unterliegen. In der Betriebswirtschaftslehre sollten die Studierenden lernen, wie eine Firma erfolgreich sein und langfristig überleben kann, ohne ständig den Gewinn optimieren und wachsen zu müssen. In den Banking- und Finance-Studiengängen sollte schliesslich vermittelt werden, wie Investitionen und Geldflüsse gelenkt werden können, um eine nachhaltige Entwicklung und Netto-Null zu fördern.
Es gilt also, über den Tellerrand hinauszuschauen und Verständnis zu schaffen?
Ja, aber nicht nur. Es geht auch um die Förderung der Reflexion von Werten – der eigenen und der Werte von anderen – sowie um die Entwicklung von Handlungskompetenzen, um gemeinsam mit anderen konkrete Lösungen für die nachhaltige Entwicklung finden und umsetzen zu können.
Wie lassen sich Reflexionsfähigkeit und Handlungskompetenzen fördern?
Das geht nicht mit Vorlesungen. Dazu braucht es Ansätze wie projektbasiertes oder problembasiertes Lernen oder Service Learning – ein Ansatz, der freiwilliges Engagement mit dem Lernprozess der Studierenden verbindet. Die beste Wirkung kann erzielt werden, wenn die Hochschulen mit Praxisakteuren zusammenarbeiten, also mit Firmen, mit der öffentlichen Verwaltung oder mit NGOs. Im Bereich der persönlichen Entwicklung der Studierenden und der Resilienzförderung hat sich in den letzten Jahren der Ansatz der Inner Development Goals (IDGs) etabliert: In den fünf Dimensionen Sein, Denken, Beziehung, Zusammenarbeit und Handeln wird aufgezeigt, wie die relevanten Kompetenzen für die nachhaltige Entwicklung gefördert werden können.

Neben dem Besuch von Vorlesungen (wie hier an der Hochschule St. Gallen) sollten Wirtschaftsstudierende gemäss Simon Zysset auch praxisbezogene Erfahrungen im Nachhaltigkeitsbereich machen.
Gibt es Hochschulen mit Vorbildfunktion, die das bereits sehr gut machen?
Ja, in Deutschland. An der Leuphana Universität in Lüneburg steht die nachhaltige Entwicklung bei den wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen im Zentrum. Daneben gibt es eine Reihe interdisziplinärer Studiengänge zu Themen der nachhaltigen Entwicklung. Noch weiter geht die kleine Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz. Dort sind alle Studiengänge konsequent nach einem Transformations-Curriculum aufgebaut, das die Absolventinnen und Absolventen zu Changemakern ausbilden will.
Neben den Ökonomen spielen Ihrer Ansicht nach auch die Verhaltenspsychologinnen und -psychologen eine wichtige Rolle für die Zukunft. Inwiefern?
Wenn wir wirklich nachhaltiger leben wollen, erfordert das zum Teil recht einschneidende Verhaltensänderungen. Um zu verstehen, wie Menschen dazu motiviert werden können, brauchen wir die Expertise der Verhaltenspsychologie. Die Ernährung ist hierfür ein gutes Beispiel.
Inwiefern?
Wir wissen, wie wichtig es ist, weniger tierisches Protein zu konsumieren – also von Fleisch- und Milchprodukten wegzukommen und mehr pflanzliche Proteinquellen zu essen. Allerdings ist Essen ein hoch emotionales Thema. Wir werden in unserer Kindheit darauf geprägt. Dieses erlernte Verhalten zu verändern, ist eine grosse Herausforderung. Verhaltenspsychologen können mit Strategien wie Nudging – im Sinne eines positiven, spielerischen Anstupsens – helfen, diese Verhaltensänderungen zu erleichtern.
Was heisst das konkret?
Hinweise zu einem nachhaltigen Verhalten müssen zum richtigen Zeitpunkt, konkret, zielgruppengerecht und einfach kommuniziert werden. Und es müssen nachhaltige Angebote und Lösungen unkompliziert und zu einem akzeptablen Preis zur Verfügung stehen. Besonders wirkungsvoll sind Menschen in unserem Umfeld oder Prominente, die eine nachhaltige Verhaltensweise vorleben.
Sie schlagen auch vor, für wichtige Ressourcen klare Grenzen festzulegen und die Ressourcen dann sinnvoll zuzuteilen. Wie stellen Sie sich das konkret vor?
Das Konzept der Ressourcenbudgets beschäftigt sich mit der Frage: Wie viel einer bestimmten Ressource – zum Beispiel Energie oder Getreide – darf eine Branche, ein Unternehmen oder ein Mensch gerechterweise verbrauchen, damit sich die Ressource erneuern kann und die planetaren Grenzen eingehalten werden.

Energie, Getreide und vieles mehr: Die Schweiz verbraucht in einem Jahr die Ressourcen von fast drei Erden.
Wer legt die Grenzen fest und bestimmt, welche Zuteilung sinnvoll ist?
Es geht vorerst um einen neuen Ansatz, der aufzeigen will, wie ungleich die verschiedenen Ressourcen auf der Welt – aber auch schon innerhalb der Schweiz – verteilt sind und was ein verträgliches Mass für unsere Erde ist. Es geht nicht darum, dass alle Menschen genau die gleichen Ressourcen zur Verfügung haben, aber dass die Überschreitung der planetaren Grenzen verhindert und die extreme Ungleichverteilung verkleinert wird.
Ist dieser Lösungsansatz überhaupt realistisch?
Im Kleinen ja: Ich kenne Menschen, die versuchen, mit den Ressourcen, die ihnen gemäss Ressourcenbudget zur Verfügung stehen, auszukommen. Im Grossen: eher nein. Politik und Gesellschaft sind dafür wohl noch nicht bereit – und es würde unser jetziges Wirtschaftssystem sehr stark herausfordern.
Auch Verbote sind für Sie denkbar. Woran denken Sie da konkret?
Wenn wir Netto-Null erreichen und den Klimawandel bremsen wollen, kommen wir um ein Verbot fossiler Energieträger nicht herum. Das sagt auch die Wissenschaft. Beim FCKW-Verbot hat es ja sehr effektiv funktioniert: Das Ozonloch hat sich erholt.
Um welche Probleme muss sich die neue Generation von Ökonominnen und Ökonomen am dringlichsten kümmern?
Sie sollte eine Wirtschaftsweise anstreben, die die legitimen Bedürfnisse der Menschen befriedigt, ohne die planetaren Grenzen zu überschreiten – wie dies die Donut-Ökonomie vorschlägt. In diesem Denkmodell soll sich die Wirtschaft im Raum zwischen zwei Grenzen bewegen: zwischen einer inneren Grenze der legitimen Grundbedürfnisse der Menschen und einer äusseren, planetaren Grenze – wie ein Donut.

Unser aktuelles Wirtschaftssystem führt mit seinem Drang nach stetigem Wachstum zu Problemen. Bei der sogenannten Donut-Ökonomie werden die Grundbedürfnisse der Menschen und die Grenzen des Planeten berücksichtigt.
Was braucht es, damit wir das Netto-Null-Ziel erreichen?
Der Umstieg auf erneuerbare Energien muss durch soziale und technische Innovationen gefördert und mit Energiesuffizienzmassnahmen ergänzt werden, um dem Reboundeffekt vorzubeugen. Beim Rebound- oder Bumerangeffekt werden Effizienzgewinne durch zusätzlichen Konsum, zum Beispiel wegen der eingesparten Kosten, zunichtegemacht.
Haben Sie konkrete Beispiele dafür?
Wenn Energie günstiger wird, kann es sein, dass mehr verbraucht wird. Oder wenn jemand glaubt, weil er oder sie immer Bio kauft, sei es dafür okay, mit dem Flugzeug in die Ferien zu fliegen. Und es bringt uns nicht weiter Richtung Netto-Null-Ziel, wenn der Zubau erneuerbarer Energie wächst, der Verbrauch fossiler Energien aber auf dem gleichen Niveau verharrt. Das bedeutet zum Beispiel den Verzicht auf immer mehr und immer schwerere SUVs – und führt letztendlich zur Frage: Was ist ein gutes Leben? Und welche Ressourcen brauche ich und braucht die Gesellschaft dafür wirklich?

