BILANZ: Herr Tettamanti, als junger Mann waren Sie für Castro und gegen Batista. Heute verteidigen Sie den Kapitalismus. Sind Sie vom Revolutionär zum Angepassten mutiert?

Tito Tettamanti: Nein, ich bin immer noch ein Revolutionär oder, besser gesagt, ein Libertär. Marx behauptet, dass der Kapitalismus eine ständige Revolution ist.

Sie, Herr Gross, sind ein Linker geblieben. Fühlen Sie sich nach dem Ende des Sozialismus als Ewiggestriger?

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Andreas Gross: Für mich bedeutete «links» immer mehr als Demokratie und Freiheit, nämlich, dafür zu kämpfen, dass beides nicht Sache einiger Privilegierter ist, sondern die Sache aller. In diesem Sinn hat es Sozialismus auf der Welt noch nie gegeben. Nur den Missbrauch durch totalitäre Herrschaften. So steckt im Anspruch des Sozialismus viel mehr Utopie als Vergangenheit. Die Demokratisierung der Demokratie, damit alle Menschen auf der Welt das Recht, die Möglichkeit und die Fähigkeiten haben, frei zu sein, ein solches Sozialismusverständnis ist alles andere als von vorgestern.

Herr Tettamanti, Sie haben vor einem Jahr das Buch «Die sieben Sünden des Kapitals» herausgegeben mit dem Motiv, dass man den Kapitalismus verteidigen müsse. Muss man das? Oder wollen Sie das eigene schlechte Gewissen mit guten Argumenten beruhigen?

Tettamanti: Nein. Wir haben es zu tun mit einem verkannten System, aber dem besten, das wir bis heute kennen, um Reichtum zu schaffen. Das muss man besser bekannt machen, man muss gegen Vorurteile kämpfen, gegen emotionale und irrationale Reaktionen, gegen eine Kultur, der es semantisch gelungen ist, das Wort Kapitalismus fast zum Schimpfwort zu machen.

Herr Gross, Sie haben Tettamantis Angebot angenommen und eine Replik geschrieben zu «Kapitalismus: Fluch oder Segen? Eine Debatte»*. Was motivierte Sie?

Gross: Ein solches Buch ruft nach Widerspruch. Es passiert selten, dass Kapitalisten und ihre Kritiker wirklich miteinander diskutieren und aufeinander eingehen. Deshalb schlug ich Herrn Tettamanti ein zweites Diskussionsbuch vor und war sehr dankbar, dass er darauf eingestiegen ist.

Zu den Personen
Tito Tettamanti


Der Tessiner Investor Tito Tettamanti ist mit einem Anteil von 25 Prozent wichtigster Einzelaktionär beim Zürcher Jean Frey Verlag, der unter anderem die BILANZ herausgibt. Immer wieder tritt Tettamanti auch als Autor politischer Schriften in Erscheinung, so im Jahr 2003 mit dem BILANZ-Buch «Die sieben Sünden des Kapitals». Nun hat er Kritiker zu einer Replik animiert, darunter Beat Kappeler, Simonetta Sommaruga, Rudolf Strahm, Daniel Vischer und Andreas Gross. Das Buch erscheint am 11. November.


Andreas Gross


Andreas Gross (52) war 1981 Mitgründer der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA). Gross studierte Allgemeine Geschichte sowie Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Zürich, dann Politikwissenschaften in Lausanne. 1991 wurde er in den Nationalrat gewählt, 1995 wurde er Mitglied im Europarat, 2002 Vizepräsident der parlamentarischen Versammlung des Europarates. Zwischen 1972 und 1975 fuhr Gross mit seinem alten VW-Käfer Autorennen nach und berichtete darüber in verschiedenen Tageszeitungen.

Sie geisseln, allgemein und auch in Bezug auf Tito Tettamantis Thesen, das Primat des Ökonomischen vor dem Politischen. Warum?

Gross: Die Demokratie gleicht heute dem Steuerruder eines Schiffes, das im Wasser liegt, dessen Steuerruder aber nicht mehr ins Wasser reicht. Das Schiff, unsere Gesellschaften also, folgen ganz anderen Gewässern als jenen, die von den demokratisch handelnden Bürgerinnen und Bürgern gewollt sind. Wir sind gleichsam auf die Zeit vor der Französischen Revolution zurückgeworfen. Wir brauchen heute eine transnationale, kontinentale und globale radikale Reform, welche die demokratischen Errungenschaften des Staates ebenso wie die dort erfolgte Zivilisierung des Kapitals neu verfasst. Dies wäre auch im Interesse des Kapitals, das ohne so errungene soziale Legitimität sich selbst zerstören würde.

Angesichts steigender Staatsquoten und steigender Verschuldung scheint der Politik jedoch der Sinn für das ökonomisch Machbare abhanden gekommen zu sein.

Gross: Es gibt kein Land, in dem so sorgfältig mit öffentlichen Geldern umgegangen wird wie in der Schweiz. Je mehr die Bürgerinnen und Bürger in der Gestaltung des Staates und der Politik direktdemokratisch mitwirken können, desto sorgfältiger wird Geld ausgegeben.

Tettamanti: Gemäss OECD erreicht heute in der Schweiz die Staatsquote 50 Prozent und ist somit eine der höchsten Europas. Nur Schweden, Griechenland und Dänemark liegen höher. Mit der Staatsquote sind auch die öffentlichen Schulden von 1990 bis 2001 von 98 auf 230 Milliarden Franken angestiegen. In Anbetracht solcher Zahlen sind keine Zweifel über die Übermacht der Politik angebracht.

Was für Rezepte haben Sie gegen diese fatale Entwicklung?

Gross: Die wirtschaftliche Elite muss sich auch politisch wieder engagieren. Darin liegt heute eines der grossen Probleme der Schweiz. Die Eliten bedienen sich ihr nur noch, machen gute Geschäfte.

Tettamanti: Wollen wir wirklich gegen diese fatale Entwicklung kämpfen? Ich habe meine Zweifel, wenn ich eine Gesellschaft sehe, in der die Moral der Verantwortlichkeit sowie die Aufopferungsbereitschaft verschwunden sind. Heute glaubt jeder, ein Recht zu haben auf alles, und die Probleme sollen vom Staat gelöst werden. Man vergisst, dass so die Freiheit verloren geht.

Also, was ist zu tun?

Tettamanti: Wir müssen klaren Wein einschenken. Geht die Verschuldung so weiter, werden wir in der Pro-Kopf-Statistik vom BNP (Bruttonationalprodukt) innerhalb der 23 Nationen der OECD im Jahr 2030 vom heute vierten Platz auf Platz 21 zurückgestuft. Es muss uns klar sein, dass die heutigen Probleme der Gesellschaft nicht mehr jene des letzten Jahrhunderts sind. Wir brauchen starke Ideen und Lösungen, die von einer Elite vorgeschlagen werden, die keine Furcht hat, unpopulär zu werden, sondern kämpft.

Sie, Herr Gross, plädieren dagegen für den Homo politicus, für engagierte politisch aktive Persönlichkeiten, die wirtschaftlich-gesellschaftliche Prozesse gestalten. Wir haben nicht zu wenig Politiker, sondern zu viele schlechte. Die Besten engagieren sich jedenfalls nicht für den Staat.

Gross: Wenn jene, die meinen, sie gehörten zu den Besten, sich nur noch für ihr Geschäft und ihren Profit engagieren und die Politik den anderen überlassen, ist das verantwortungslos. Politik ist vielleicht mühsamer, aufwändiger und weniger unmittelbar profitabel als das Business. Aber es gibt keine gesunde Wirtschaft in einer schlechten Politik. Deshalb müssen sich gerade jene, die wirtschaftlich erfolgreich sind und sich kompetent fühlen, selber in die Politik gehen. Ich wäre für eine Systemreform, aber nicht zum Preis der Zerstörung unserer Stärken wie der Dezentralität und der Demokratisierung der Macht. Etwas mehr Konkurrenz in der Regierung könnte aber nicht schaden.

Tettamanti: Nicht das System ist zu ändern, sondern die Mythen, die wir erfunden haben und die seinerzeit auch Dienste geleistet haben. Unser demokratisches System setzt nicht um jeden Preis die Zauberformel, die Konkordanz, die Konsensfähigkeit voraus. Es braucht eine Mehrheitsregierung, die Kraft und innere Entschlossenheit besitzt, Politik und Reformen vorzuschlagen und Beschlüsse durchzusetzen. Das Volk – das normalerweise mit gesundem Menschenverstand abstimmt, ungeachtet von Parteien und Medien – entscheidet.

Herr Gross, Sie werfen Tettamanti vor, eine ungerechtfertigte Attacke gegen staatliche und bürokratische Macht zu reiten. Ist sie derart abwegig angesichts des gewaltigen Reformstaus im Land?

Gross: Herr Tettamanti nennt Staat und Bürokratie meist im gleichen Atemzug. Er scheint sich nicht bewusst zu sein, dass wir einen der schlanksten, unbürokratischsten Staaten der Welt haben. Andererseits entwickeln auch Konzerne bürokratische Strukturen, die jenen mancher Staaten in nichts nachstehen. Ich plädiere für Differenziertheit statt Rundumschlägen. Wir haben auch Reformen geschafft, die anderen noch bevorstehen: In der Landwirtschaft etwa, denken Sie an die Ökologisierung der Verkehrspolitik, die Liberalisierung von Drogen.

Tettamanti: Wenn ich in meinem Buch von Staat und Bürokratie spreche, meine ich nicht nur die Schweiz. Es stimmt, dass es Staaten und Demokratien mit stärker ausgebauten und ineffizienteren Bürokratien gibt. Ich will auch nicht von den 286 Presse-Attachés im Bundeshaus oder von einer Eidgenössischen Zentralstelle für Kriegswirtschaft sprechen, die 60 Jahre nach Kriegsende noch immer existiert.

Worum geht es denn?

Tettamanti: Es genügt, die Entwicklung der Staatskosten mit der steigenden Beamtenzahl in den letzten 50 Jahren zu vergleichen. Die erschreckende Progression beweist, der Staat hat immer mehr Aufgaben übernommen und die Beamtenzahl steigt stetig. Je grösser der Staat, desto mächtiger die Politiker; je mehr Beamte, desto mehr Verteidiger des Systems. Alles wird kostspieliger, grösser; was jedoch kleiner wird, sind die Räume für die individuelle Freiheit. Und in diesem Punkt sollte ein leidenschaftlicher Demokrat wie Nationalrat Gross mit mir einig sein.

Es sind aber nicht die Politiker, die heute am Pranger stehen, sondern die Manager mit ihren teils exorbitanten Gehältern.

Tettamanti: Die Frage, wie viel ein Manager verdienen soll, ist sinnlos. Man muss diesen an den Resultaten messen. Das ist nicht meine Aufgabe, sondern die des Marktes, der leider manchmal von inkompetenten oder verfilzten Verwaltungsräten verraten wird.

Gross: Eine solche Frage kann man nicht mit dem Markt beantworten, denn der Markt ist blind, wenn es um so etwas wie Gerechtigkeit geht. Die Arbeit eines Menschen kann nicht tausendmal mehr wert sein als die eines anderen. So viel mehr Geld verdient er nicht. Er erhält es nur, weil die Gesellschaft für dieses Unrecht kein Empfinden hat.

Haben Sie einen Vorschlag, wie sich dies ändern liesse?

Gross: Ein Unternehmen könnte eine ganz andere Ethik entwickeln und das vom Markt definierte Gehalt eines Managers in einen Fonds leiten, aus dem besondere Leistungen aller Mitarbeiter abgegolten werden könnten. Eine solche Firma wird intern eine kooperative, produktive Kultur entwickeln und nach aussen eine besondere Attraktivität haben für besonders talentierte Mitarbeiter.

Sie, Herr Tettamanti, stellen immer wieder fest, dass Manager und Unternehmer auf Kapitalismuskritik eher dünnhäutig reagieren. Warum? Sind diese angesichts der zunehmenden Systemkritik nicht einmal mehr in der Lage, das System argumentativ zu verteidigen, das viele von ihnen reich gemacht hat?

Tettamanti: Ich teile Ihre Meinung nicht. Das System bräuchte nicht einmal verteidigt zu werden. Es sollte genügen anzuerkennen, dass kein besseres existiert, um Reichtum zu schaffen. Der Kommunismus mit seiner Planwirtschaft ist Pleite gegangen. Ich begreife, dass Leute, die das System nicht genau kennen, misstrauisch bleiben gegenüber Meritokratie und gegenüber einem System, das nicht träumen lässt. Die Leute leben auch von Illusionen und geben gern die Schuld von möglichen Misserfolgen an Dritte weiter.

Herr Tettamanti, Sie sagen, Länder, die sich in den Globalisierungsprozess eingegliedert hätten, hätten ihr BIP steigern können. Was macht Sie da so sicher?

Tettamanti: Meine Überzeugung stammt von den Statistiken und dem Buch «Globalization, Growth and Poverty», das die Weltbank veröffentlicht hat. Ich glaube, man kann diese Daten nicht allgemein in Frage stellen. Für den, der solche Länder bereist hat, sind die Fortschritte zudem augenscheinlich.

Gross: Es gibt sehr unterschiedliche und widersprüchliche Zahlen. Ein UNDP-Bericht von 1997 besagt etwa, dass 1960 die 20 Prozent Reichsten dieser Welt 30-mal mehr verdienten als die 20 Prozent Ärmsten; 1997 verdienten die 20 Prozent Reichsten 74-mal mehr als die 20 Prozent Ärmsten. Dies würde also gegen den allgemeinen Fortschritt sprechen. Oder man müsste mindestens sagen, alle profitieren ein wenig, aber die Besitzenden profitieren überdurchschnittlich.

Ist das alles?

Gross: Nein. Auf der anderen Seite zeigt der UNDP-Bericht von 2001, dass von all den Menschen der Welt, über deren Einkommen Zahlen existieren – da dürften die Allerärmsten nicht dabei sein –, 1975 ein Drittel zu den Ärmsten gehörte und etwas weniger als die Hälfte zur mittleren Kategorie. 1999 gehörten zwei Drittel zur mittleren Kategorie und nur noch ein Zehntel zu den Ärmsten. Dies spricht eher für Tettamantis Fortschrittsthese.

Herr Gross, nach gängiger Globalisierungskritik fördert die Globalisierung das soziale und ökonomische Gefälle zwischen Erster und Dritter Welt. Richtig?

Gross: Nicht die Globalisierung ist das Problem. Dies ist eine Etappe der kapitalistischen Wirtschaft wie früher der Kolonialismus oder der Imperialismus. Das Problem ist, dass die Märkte und die Kapitalfreizügigkeit zwar globalisiert sind, nicht aber die Demokratie und somit die Menschenrechte und die sozialen Grundrechte. Wäre die Welt auch demokratisch verfasst, müsste auch das globale Kapital Rücksicht nehmen auf die Armen, die Natur und die Randregionen. Es würde ein Ausgleich erfolgen, der heute völlig fehlt. Die heutigen Defizite sind somit eine Folge der ungleichen Globalisierung und nicht der Globalisierung an sich.

Herr Tettamanti, Sie sagen: Nicht Globalisierung und Kapitalismus katapultieren die Dritte Welt in die Armut, sondern die Abwesenheit davon. Eine erklärungsbedürftige These.

Tettamanti: Zur Unterstützung meiner These betreffend Armut in der Dritten Welt rate ich jedem, zwei Bücher zu lesen: «In Defence of Globalization» von Jagdish N. Bhagwati, einem weltbekannten und anerkannten indischen Professor, der selbstverständlich die Realität der Entwicklungsländer besser kennt als wir, und «The Mistery of Capital» von Hernando de Soto. Jagdish N. Bhagwati erklärt, warum die wildesten Gegner der Globalisierung sich in den reichen Ländern befinden und nicht in der Dritten Welt. Hernando de Soto beweist, dass die Armen arm sind und bleiben wegen der Politik und der ineffizienten und korrupten Verwaltungen.

Inwiefern?

Tettamanti: Die korrupten Verwaltungen erteilen beispielsweise die Eigentumstitel für die Häuser nicht, welche die Armen für sich gebaut haben und benützen. Die Studie de Sotos hat geschätzt, dass das Vermögen der ganz Armen in den Favelas, Ranchitos und Slums aller Länder auf ungefähr 9000 Milliarden Dollar bewertet werden könnte. Ein riesiges Kapital, das brachliegt, nur weil die Benützer keinen Eigentumstitel haben. Wenn sie jahrelang warten und noch dazu zahlen und Missbräuche dulden müssen, um irgendwelche Bewilligungen von der Bürokratie zu erhalten, ergibt sich als Konsequenz eine riesige Schattenwirtschaft.

Herr Gross, was halten Sie von dieser Aussage?

Gross: Ich kenne beide Bücher, und sie sind tatsächlich wichtig und sehr interessant. Ich würde Herrn Tettamanti vorschlagen, wir legen sie einem dritten Buch von ihm zu Grunde: Diesmal wäre es ein Diskussionsbuch zwischen den Linken und den Rechten in der Schweiz und den Intellektuellen aus dem Süden, aus Indien und Südamerika. Auch diese Diskussion fehlt.

Herr Tettamanti, Sie sagen, die Globalisierung hat den Entwicklungsländern Nutzen gebracht. Welchen?

Tettamanti: Zunächst gilt es festzuhalten, dass mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums die globalisierte Welt einige Milliarden Arme geerbt hat und dass deren Planwirtschaft ganze Volkswirtschaften zerstört hat. Aber Sie wollen den Nutzen sehen. Also: Pro Kopf der Bevölkerung ist das Bruttosozialprodukt von Ländern, die am Globalisierungsprozess beteiligt sind, in den Neunzigerjahren jährlich um fünf Prozent gestiegen und bei den nicht beteiligten Ländern um ein Prozent gefallen. Seit 1980 ist die Zahl der Armen trotz einem deutlichen Anstieg der Gesamtbevölkerungszahlen nicht weiter gestiegen, sondern sogar um 200 Millionen zurückgegangen. Die Lebenserwartung ist dagegen gestiegen, ebenso ist die Bildungsrate und die Kindersterblichkeit zurückgegangen. Die Liste liesse sich verlängern.

Genügt dies?

Tettamanti: Sicher noch nicht. Vieles ist noch zu tun. Natura non facit saltus – die Natur macht keinen Sprung. Aber besser diese ständige Evolution mit all ihren Schwächen und Lücken als die grossen Schüsse ins Leere von Tagungsdelegierten, die in kostspieligen Hotels, die von Dritten bezahlt werden, debattieren und wohnen.

Was sagen Sie dazu, Herr Gross?

Gross: Einer von fünf Erdenbürgern hat weniger als einen Dollar zum Leben. Jeden Tag bleibt einer von fünf auf dieser Welt hungrig – das sind immerhin 800 Millionen Menschen. Nicht die Globalisierung der Wirtschaft ist das Problem, sondern dass nur so wenige von ihr profitieren. Das hat damit zu tun, dass die Demokratie und die Menschenrechte noch nicht ebenso globalisiert sind. Beispielsweise wird in 150 Ländern der Welt noch immer gefoltert.

Die andere Seite ist: Sobald es teuer wird, ruft auch die kapitalistische Wirtschaft doch den Staat, der zahlen soll. Beispiel Rekapitalisierung der Swiss. Sind Sie, Herr Tettamanti, dafür gewesen, Milliarden von Steuergeldern zu investieren?

Tettamanti: Absolut nicht. Mit der gleichen Summe, vorbehältlich gewisser gesetzlicher Hindernisse, hätten wir die Möglichkeit gehabt, Grossaktionär von British Airways zu werden. Das hätte den Interessen der Schweiz sicherlich mehr genützt.

Und Sie Herr Gross?

Gross: Ich war damals dafür, weil ich nicht einfach 30 000 Menschen auf die Strasse stellen wollte. In Zukunft darf die Swiss aber auch von denen, die damals dafür waren, keine weiteren öffentlichen Gelder erwarten.

Die Schweiz gilt gemeinhin als Land der Kartelle – was ist zu tun, um diese aufzubrechen?

Gross: Die Schweiz ist eine Hochpreisinsel, weil neben der Landwirtschaft vor allem im Bauwesen, in der Autobranche und in mancherlei Gewerbebereichen und der Konsumgüterindustrie der Wettbewerb nicht spielt und zu viele unausgesprochene Preisabsprachen zu beobachten sind. Hier gilt es, das Kartellgesetz zu verschärfen und den echten Wettbewerb zu fördern.

Tettamanti: Es gibt in der Schweiz einen klaren Widerspruch zwischen der exportorientierten Wirtschaft und der Binnenwirtschaft. Die erste kämpft und floriert oft, ist immer produktiver geworden wegen des internationalen Wettbewerbes. Die Binnenwirtschaft paralysiert das Wachstum (ähnlich wie in Japan) und bürdet den Schweizer Konsumenten zu hohe Preise auf. Und leider macht das nicht die «Leistungsgeber» überreich, sondern dient lediglich dazu, die Ineffizienz zu bezahlen. Die Antwort: Auch wenn mit anfänglichen Schmerzen – eine echte Liberalisierung.

* Tito Tettamanti, Herausgeber: Kapitalismus: Fluch oder Segen? Eine Debatte. BILANZ, 240 Seiten, Fr. 34.– für BILANZ-Abonnenten, Fr. 39.– für Nicht-Abonnenten. Das Buch ist ab 11. November erhältlich.