Wenn Grosskonzerne ihre Krise überstanden haben, signalisieren sie einen Neuanfang. Aus den Kreditsünden der achtziger und dem Aufbruch der neunziger Jahre entstand der «Neue Bankverein». IBM kürte sich nach seinem Rekordverlust zur «New IBM». Jetzt gibt es ein weiteres Beispiel: die «Neue ABB». So nennt ABB-Konzernchef Göran Lindahl neuerdings seinen Weltkonzern. Hinter ihm liegt allerdings kein Milliardenverlust oder Imagedebakel. Hinter ihm liegt die legendäre Amtszeit des Fusionsstars Percy Barnevik. Und die ist jetzt endgültig vorbei. «Der Managementwechsel hat Impulse gebracht, die die Erfolge der letzten Monate ermöglicht haben», sagt Lindahl unbescheiden. Leicht gebräunt, durch Trennkost um einige Kilo erleichtert, lässt er keine Zweifel daran, wer der alleinige Architekt dieser «New ABB» ist - er, Göran Lindahl, der Mann aus der schwedischen Kleinstadt Umea am nördlichen Polarkreis.

Selten hat ein Manager einen Grosskonzern so radikal umgebaut wie Lindahl die ABB. Der 54jährige hat ein Tempo angeschlagen, dass selbst seinen rasanten Vorgänger Barnevik übertrifft. «Früher hatten wir schon eine hohe Geschwindigkeit», betont ein ABB-Länderchef. «Jetzt sind wir permanent auf der Überholspur.» Von der alten ABB-Schwerindustrie-Identität - Schienenverkehr, Kraftwerkbau - ist kaum noch etwas geblieben, seit Lindahl im Januar das ABB-Daimler-Joint-Venture Adtranz vollständig an Daimler verkaufte und dann im April die ABB-Stromerzeugung mit der französischen Alstom zusammenlegte. Zwar ist die Unsicherheit der Mitarbeiter gross, Klagen über die radikalen Schritte sind an der Tagesordnung, die Euphorie der Barnevik-Jahre ist verflogen. «Wandel wird immer als bedrohlich wahrgenommen, und deswegen sind viele Leute dagegen», beschwichtigt Lindahl. Doch die Analystengemeinde applaudiert, der Kurs steigt. Und das ist letztlich das, was zählt.

Geblieben ist, wenn die Auslagerung der Stromerzeugung Mitte des Jahres vollzogen ist, ein Sechs-Sparten-Konzern mit 160 000 Mitarbeitern und 24 Milliarden Dollar Umsatz (siehe Tabelle). Und die Frage in der breiten Öffentlichkeit, für was die «Neue ABB» eigentlich steht. Diese Frage will auch Lindahl nicht abschliessend beantworten. Viel hat er seinen Mitarbeitern zugemutet in den letzten Monaten. Doch abgeschlossen ist der proklamierte Umbau vom traditionellen Industriekoloss zum leichten Wissenskonzern noch lange nicht. Bis zum ABB-Pensionsalter von 60 Jahren bleiben Lindahl noch sechs Jahre. «Zwei Jahre haben wir für die erste Phase gebraucht, zwei weitere Jahre rechne ich für die zweite Umbauphase. Und dann brauchen wir sicher vier Jahre, um die neue ABB zum Erfolg zu führen.»

Von der «Financial Times» noch als «schüchterner Schwede» bezeichnet, ist Lindahl mit einer Entschlossenheit zu Werk gegangen, die ihn nach nur zwei Jahren Amtszeit mit einer Machtfülle ausstattet, wie sie Barnevik erst am Ende seiner Amtszeit erlangte. Damals, Ende 1996, hatte ihm Barnevik bei seinem Rückzug als Konzernchef - mit gerade 56 Jahren - noch eine Last mit auf den Weg gegeben: Drei gute Jahre würden kommen, proklamierte er. Doch ganz so überzeugt davon scheint er nicht gewesen zu sein. «Er wusste, dass es nach der Fusionseuphorie noch schwieriger werden würde, und deswegen ging er auf der Höhe seines Ruhms», sagt ein langjähriger Barnevik-Vertrauter. Das Angebot als VR-Präsident der schwedischen Investor, der mächtigen Beteiligungsgesellschaft des Wallenberg-Imperiums, sei kein Grund für seinen Rückzug gewesen, es sei erst später gekommen. Die ständigen Auszeichnungen - dreimal hintereinander kürte die «Financial Times» Barnevik zum respektiertesten Unternehmenschef Europas - waren selbst dem Topmanagement unheimlich. Der Mann, der Essen «refueling», Auftanken, nannte und von dem sich die Mitarbeiter erzählten, dass er sogar auf der Toilette arbeite, sah sein Star-Image an der Börse bestätigt: Seit der Fusion der schwedischen Asea mit der schweizerischen BBC 1988 hatte sich der Aktienkurs versechsfacht, war der Kurs jedes Jahr um 23 Prozent gestiegen.

Lindahl, mit dem Mythos seines Vorgängers konfrontiert, sah nur eine Wahl: ihn systematisch aus dem Unternehmen zu drängen. Nachdem Barnevik nach London gezogen war, übernahm er sein Haus an der Zürcher Goldküste. In der ABB-Zentrale quartierte er sich sofort in dessen Büro ein und bestand darauf, dass sich Barnevik so weit wie möglich davon entfernte, in ein kleines Büro im ersten Stock des roten Ziegelsteinbaus. «Barnevik wurde vom ersten Tag an klargemacht, dass er hier unerwünscht sei», betont ein langjähriger ABB-Mitarbeiter. Heute kommt Barnevik nur noch etwa einmal pro Quartal nach Zürich, zu den Verwaltungsratssitzungen. Auch legte Lindahl fest, dass Barnevik alle Informationen über ABB nur von ihm direkt beziehen und daher keinen Kontakt mit anderen ABB-Mitarbeitern aufnehmen dürfe. Daran hält sich Barnevik eisern; als er etwa auf dem letzten Weltwirtschaftsforum in Davos aus der Ferne ABB-Manager sah, wich er ihnen konsequent aus.

Die Passivität Barneviks als ABB-VR-Präsident liegt jedoch nicht nur in seiner Arbeitslast begründet, die nicht geringer ist als früher; neben ABB und Investor ist er auch VR-Präsident bei dem frisch fusionierten schwedisch-englischen Pharmaunternehmen Astra Zeneca und sitzt im Verwaltungsrat von General Motors. Vor allem ist das schwedische Verständnis eines VR-Präsidenten nicht mit dem schweizerischen gleichzusetzen. In Schweden hat der Präsident lediglich eine Kontrollfunktion und muss Strategieentscheidungen der operativen Führung überlassen, was Barnevik bei Investor leidvoll erlebt. Zudem hat er aus eigenen Erfahrungen gelernt. Als Barnevik noch Konzernchef war, hat er sich geärgert, wenn ihm die damaligen Kopräsidenten David de Pury und Peter Wallenberg hineinreden wollten.

Doch Lindahl hat ihn auch zur Zurückhaltung gedrängt. Wenn er das Geschäft nicht leiten könne, wie er wolle, müsse man sich halt einen anderen suchen, drohte er schon einmal. Heute spricht er von einer «guten Beziehung» zu Barnevik, man telefoniere alle zwei bis drei Wochen. Doch dann fügt er hinzu: «Ich habe den Vorteil, dass ich die Firma von unter her kenne, ich war Ingenieur, ich war im Verkauf, im Marketing.» Und das erkläre die Rollenverteilung: «Die Fragen sind so komplex, da kann der Verwaltungsrat keine aktive Rolle spielen.» Ein früheres ABB-Konzernleitungsmitglied betont: «Das Verhältnis von Lindahl und Barnevik in Form einer wirklichen Kontrolle ist nicht mehr intakt. Lindahl hat vollkommen die Macht übernommen.»

Auch in der Konzernleitung hat er seine Macht systematisch abgesichert. Bei der Stabübergabe an Lindahl hatte Barnevik noch angekündigt, seine Doppelaufgabe - CEO und Finanzchef - teilen zu wollen. Mit Renato Fassbind präsentierte er einen Schweizer als Finanzchef und neues Konzernleitungsmitglied, und das beruhigte jene Schweizer Gemüter, die sich daran stiessen, dass auch der zweite Konzernchef des fusionierten Gebildes ein Schwede war. Doch ein Finanzchef wie in anderen Grosskonzernen ist Fassbind nicht: Lindahl lässt noch immer die zentrale Kontrollfunktion der Internen Revision an sich rapportieren, auch die Investor Relations liegen direkt bei ihm. Das Anlagegeschäft leitet der Schwede Jan Roxendaal, er ist mit seiner Sparte Finanzdienstleistungen seit letzten Sommer auch in der Konzernleitung vertreten. Fassbind bleibt vor allem die Buchhaltung und die für ABB sehr wichtige Bewirtschaftung der Immobilienbestände.

Auch die beiden letzten Barnevik-Verbündeten verliessen die Konzernleitung: Der Schwede Sune Carlsson, Leiter der wichtigen Sparte Gebäudetechnik und vier Jahre älter als Lindahl, wollte sich nicht unterwerfen und bat Barnevik, ihm einen neuen Job in Schweden zu verschaffen, was der auch tat; Carlsson leitet dort heute ein mittelständisches Unternehmen. Und der langjährige Europa-Chef Eberhard von Koerber schied im letzten Sommer ebenfalls aus der Konzernleitung aus, sollte aber, so die offizielle Sprachregelung, weiter als Berater für ABB arbeiten. Davon ist mittlerweile keine Rede mehr: Von Koerber betreibt in Zürich eine Unternehmungsberatung und hat der ABB und Lindahl den Rücken gekehrt.

Wie stark Lindahl den Konzern dominiert, zeigte auch die jüngste ABB-Bilanzpressekonferenz Anfang Februar. Als Barnevik auf seiner letzten Pressekonferenz als Konzernchef in Warschau auf einem Podest über dem Rest der ABB-Welt thronte, fühlten sich die Konzernleitungsmitglieder zurückgesetzt. Lindahl signalisierte nach seinem Amtsantritt einen stärkeren Teamgeist, und bei seinen ersten Pressekonferenzen gab er das Wort gern an andere Topmanager weiter. Jetzt war es wie zuletzt unter Barnevik: Drei gleich lange Tische waren aufgebaut, einer stand erhöht in der Mitte, dahinter sass Lindahl, die sieben andern Konzernleitungsmitglieder mussten sich die beiden restlichen Tische teilen. Erst nach einer Stunde Lindahl-Präsentation kam einer von ihnen - kurz - zu Wort. «Als Barnevik noch Chef war, gab es immer zwei oder drei Kandidaten, die ihn hätten ersetzen können. Heute ist da niemand», betont ein langjähriger ABB-Manager. «Nach Lindahl kommt lange nichts.» Als zweiter Mann des Konzerns gilt am ehesten noch der Schwede Sune Karlsson, der als einziger zwei Sparten leitet, Stromübertragung und -verteilung.

Jedoch: Die Radikalmassnahmen der letzten Monate - Adtranz-Verkauf, Alstom-Joint-Venture, Einheitsaktie, Kauf des Automationsspezialisten Elsag Bailey - dürften mehr aus der Not geboren sein, als Lindahl es glauben machen will. Die Auftragseingänge, die die zukünftigen Erträge widerspiegeln, stagnierten seit 1995. Die bröckelnde Ertragskraft liess sich nur durch ausserordentliche Erträge aufrechterhalten. Zudem traf die Asienkrise Lindahl ganz persönlich. Lindahl hatte 1980 als junger Asea-Ingenieur erste Pläne für das Bakun-Projekt, den Bau des grössten Wasserkraftwerks Malaysias, entworfen. Der Vertragsabschluss im Juni 1996, mit 6,4 Milliarden Franken der grösste Auftrag in der ABB-Geschichte, war sein Erfolg; mehr als 30mal war er zu Verhandlungen nach Malaysia geflogen, und der Rekordabschluss war ein entscheidender Pluspunkt bei der Berufung zum Barnevik-Nachfolger. «Bakun ist mein Baby» verkündete er stolz. Als die malaysische Regierung im September 1997 das Projekt kündigte, brach der ABB-Kurs erstmals in der Geschichte massiv ein: Er fiel von 2400 auf 1700 Franken.

Es war die bis dahin grösste Niederlage für den Musterkonzern ABB und seinen Musterknaben Lindahl. Der reagierte radikal: Abbau von 10 000 Arbeitsplätzen, vor allem in Westeuropa und Asien. Es war ein Verhaltensmuster, das sich wiederholen sollte: Von diesem Tag an griff er immer dann zu radikalen Massnahmen, wenn der Aktienkurs stark gefallen war. Dabei waren seine Aktionen wenig visionär und wurden in der Konzernleitung unter Barnevik schon seit Jahren diskutiert: die Einführung der Einheitsaktie, das Ausgliedern der margenschwachen Stromerzeugung, der Ausbau rentablerer Gebiete wie der Automation. «Unternehmensführung ist zu 5 Prozent Strategie und zu 95 Prozent Umsetzung», lautete das Credo Barneviks. Doch vor derart radikalen Massnahmen war er immer zurückgeschreckt, dazu liefen die Geschäfte zu gut. Jetzt zog Lindahl sie durch, und dem VR-Präsidenten Barnevik blieb keine Wahl, als zu akzeptieren.

Wie geschickt Lindahl in den beiden ABB-Machtzentren in Schweden und der Schweiz vorging, hat ihm allseits Respekt eingebracht. Die Einführung der Einheitsaktie scheiterte bislang vor allem am Widerstand der Wallenberg-Familie, die aus nationalen Gründen ihre schwedische ABB AB an der Stockholmer Börse halten wollte. Dem unterwarf sich auch Barnevik. Dadurch hatte der Weltkonzern nicht weniger als vier Aktienklassen, Inhaber- und Namenaktien der schwedischen ABB AB und der schweizerischen ABB AG. Das drückte den Kurs und passte deshalb Lindahl nicht. Um den schwedischen Widerstand zu brechen, kam ihm der BZ-Bankier Martin Ebner gerade recht. Der hatte Ende 1997 begonnen, in grossem Stil Schweizer ABB-Aktien zu kaufen und forderte die Einheitsaktie. «In dieser Zeit fanden mehrere längere Gespräche zwischen Ebner und Lindahl statt», berichtet ein Insider.

Doch die Verbindung berge Konfliktpotential: «Lindahl glaubt, er benutzt Ebner, und Ebner glaubt, er benutzt Lindahl.» In der neuen ABB wird Ebner mit mehr als sechs Prozent Kapitalanteil der grösste Einzelaktionär sein, vor den Wallenbergs und Stephan Schmidheiny (die ihm beide, so wollen es Gerüchte, ein Paket verkauft haben sollen). Der Einzug von Lindahl und Ebner in den Verwaltungsrat ist die logische Folge. Für den ABB-Chef ist er die Krönung: Barnevik trat immer für eine strikte Trennung zwischen Verwaltungsrat und operativer Führung ein. Er soll dann auch nicht erfreut gewesen sein über den Eintritt Lindahls in einen Verwaltungsrat, dessen Präsident er immerhin ist. Doch gewehrt hat er sich nicht. So hat sich die Macht verschoben.

Auch das Auslagern des Kraftwerkbaus in das ABB-Alstom-Joint-Venture hat Lindahl geschickt eingefädelt. Schon im Sommer letzten Jahres zeichnete sich mit der Absetzung des bisherigen Spartenchefs Armin Meyer und der Ernennung des bisherigen Asien-Chefs Alexis Fries der Ausstieg ab. Meyer war in diesem Geschäft ein Schwergewicht, hatte selbst im wichtigsten Standort Baden zwei Jahre lang die Stromerzeugung geleitet. Fries dagegen hatte nur wenig Erfahrung auf diesem Gebiet. «Von diesem Moment war uns klar, dass dieses Geschäft für die Konzernleitung keine Priorität mehr hatte», betont ein hochrangiger Ex-ABB-Schweiz-Manager. Doch von Fries war sicherlich weniger Widerstand gegen das Ausgliedern zu erwarten als von Meyer, und das erklärt die Nominierung. Fries schluckte dann auch die Degradierung zum stellvertretenden Chef des Joint Venture, obwohl seine Sparte fast das Dreifache des Alstom-Umsatzes einbringt. Lindahl kürte den Franzosen Claude Darmon zum Chef und sich selbst zum VR-Präsidenten. Dazu bekam er 1,5 Milliarden Dollar für den weiteren Umbau, ein schönes Geschäft.

Wenn ABB Alsthom im Sommer seine Arbeit aufnimmt, gilt das Abstossen der 50-Prozent-Beteiligung als erster Schritt für den weiteren Umbau. Natürlich bestreitet Lindahl den Totalverkauf, doch das hat die Konzernleitung bei Adtranz auch getan. Tatsache ist: Auch bei einem möglichen Verkauf lässt sich ein hoher Preis nur dann erzielen, wenn das Joint Venture ein Erfolg wird. Das Abstossen wäre jedoch nur ein weiterer Schritt für die Umgestaltung zur «Neuen ABB». Lindahl selbst gibt sich extrem bedeckt («Ich werde unsere nächsten strategischen Schritte nicht öffentlich diskutieren»), und das spricht dafür, dass er weiter Grosses vorhat.

Seit er die alten Kerngeschäfte verkauft oder ausgelagert hat, weiss jeder, dass es keine Tabus mehr gibt, und das schürt die Unsicherheit. Weil etwa zwei Drittel der Kunden der Stromerzeugung mit denen in der Stromübertragung und Stromverteilung übereinstimmen, halten hochrangige ABB-Strommanager sogar einen Verkauf dieser beiden Sparten für möglich, zumal das Wachstumspotential nicht sehr gross ist (siehe «ABB-Geschäftsfelder und ihr Potential»). CS-Analyst Christoph Röder kann sich auch einen Verkauf der Sparte Produkte und Contracting, von Meyer geleitet, vorstellen. Natürlich wird Lindahl auch weiter akquirieren, etwa im Automationssegment, in dem ABB nach dem Elsag-Bailey-Kauf schon Weltmarktführer ist.

So ist die «Neue ABB» bisher ausschliesslich in Lindahls Kopf konzipiert. Kritiker werfen ihm vor, die Vision vom Wissenskonzern sei nur eine Sprechblase, um den Kurs in die Höhe zu treiben. Doch wenn Lindahl davon schwärmt, dass er statt elektronischer Schaltungen lieber elektronische Software produzieren wolle und dass ABB bereits acht Milliarden Dollar Umsatz mit Dienstleistungen erziele, dann bleibt kein Zweifel: Dieser Mann hat noch viel vor.

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