BILANZ: Herr Rihs, Sie wurden kürzlich 60 Jahre alt. Wie haben Sie den Geburtstag gefeiert? Andy Rihs: Ich wollte zunächst gar nicht feiern. Aber es wurde unumgänglich, weil so viele Freunde von meinem Geburtstag wussten. Am Schluss habe ich in meinem Hotel Al Porto in Lachen ein grosses Fest organisiert. Es kamen 180 Gäste, viel mehr, als ich erwartet hatte. Wir mussten sogar noch ein Zelt anbauen. Was war das Besondere an der Party? Dass eine derart grosse Familie versammelt war. Bei mir gibt es seit langem keine Trennung mehr zwischen Privat- und Geschäftsleben. Viele der 2500 Phonak-Angestellten sind langjährige Weggefährten. Auch die meisten Kunden kenne ich persönlich. Das gibt einen richtigen Family-Spirit. Wie war es für Sie, 60 zu werden? Der Geburtstag bekam darum eine Bedeutung, weil ich einige Vorsätze gefasst hatte. Mit 50 nahm ich mir zum Beispiel vor, dass ich mit 60 sicher nicht mehr operativ arbeiten will. Was Sie knapp geschafft haben. Im Oktober hat mit Valentin Chapero ein neuer Konzernchef angefangen, nachdem Ihr erster Versuch, einen Nachfolger zu installieren, gescheitert war. In der Zwischenzeit mussten Sie nochmals in die Hosen steigen. Wie war das für Sie? Es hat mich geärgert, dass mein erster Versuch, die Nachfolge zu regeln, misslungen war. Ich war sauer auf mich selbst. Ich musste akzeptieren, dass unsere Pläne revidiert werden mussten. Die Wirren an der Spitze führten unter anderem dazu, dass Phonak das schlechteste Jahr in der Firmengeschichte durchlebte. Nach drei Gewinnwarnungen haben Sie in der Finanzgemeinde Ihren Ruf als Ausnahmekönner verloren. Going public bedeutet being public, mit allen Vor- und Nachteilen. Das war mir schon bewusst. Natürlich ist es unangenehm, Fehlprognosen eingestehen zu müssen, aber ich will nichts beschönigen über die Vergangenheit. Ich bin für Transparenz. Man muss Fehler eingestehen können. Es ist schwierig, Prognosen zu stellen, weil die Probleme schleichend kommen. Mal verzögert sich hier eine Produkteeinführung, dann wird dort das Marketing vernachlässigt. Bis man plötzlich die Zahlen auf dem Tisch hat. Dann muss man raus damit. Wie konnten Sie sich in so einer Situation motivieren, die Zügel nochmals in die Hand zu nehmen? Indem ich mir Ziele setzte. Je älter ich werde, desto stärker arbeite ich auf Ziele hin. Sonst fehlt einem die Motivation, etwas durchzuziehen. Meine drei Ziele lauteten: einen Nachfolger suchen, neue Produkte lancieren, Kundenbeziehungen pflegen. Doch meine grösste Motivation kommt aus der Branche selbst: Der Markt der Hörgeräte bietet ein riesiges Entwicklungspotenzial. Die Hälfte der Menschen über 60 haben Hör- und damit Kommunikationsschwierigkeiten. Mich ärgert es, wenn Potenziale nicht ausgeschöpft, Chancen nicht gepackt werden. Die Prognosen über potenzielle Käufer von Hörgeräten klingen imposant, sind aber zu hoch gegriffen. Es zeigt sich, dass viele Menschen lieber schlecht hören als ein Hörgerät tragen. Das Marktwachstum ist kleiner als erwartet. Tatsächlich zögern viele das Problem hinaus und kaufen erst dann ein Hörgerät, wenn es nicht mehr anders geht. Man will sich nicht gern als Schwerhöriger kennzeichnen. Auch Brillenträger galten einst als Aussenseiter. Doch die Industrie hat es geschafft, aus einer unförmigen Sehhilfe ein modisches Accessoire zu machen. Warum gelingt das nicht mit Hörgeräten? Es ist schwieriger, das Gehör zu korrigieren als die Augen. Es geht ja nicht darum, einfach die Lautstärke zu erhöhen, sondern man muss alles Gehörte deutlicher machen. Dann gilt es, zwischen Lärm und Sprache zu unterscheiden. Allerdings will man manchmal aus Sicherheitsgründen Strassenlärm hören, dann wieder nicht. Mit dem Ohr kann man bewusst entscheiden, was man hören will und was nicht. Ein Hörgerät kann das nicht. Vor 20 Jahren war ein Hörgerät weit entfernt von der Idealvorstellung. Heute sind wir ihr schon ziemlich nahe gekommen. Nicolas Hayek zeigt sich immer mit ein paar Swatch-Uhren am Handgelenk. Sie gelten auch als Marketing- und Verkaufstalent. Warum stellen Sie kein Hörgerät zur Schau? Ich habe ein Hörgerät, trage es aber nicht immer. Es kommt darauf an, wo. In der Beiz trage ich es eher als jetzt hier mit Ihnen beim Interview. Wichtig bin nicht ich, sondern zufriedene Kunden, die ihre Erfahrungen weitergeben. Ich habe Radrennfahrer Ferdy Kübler ein Hörgerät verordnet, und als er im Fernsehen davon erzählte, setzte ein Nachfrageschub ein. Auch der frühere Migros-Chef Pierre Arnold gehört zu denen, die sich zunächst kein Hörgerät anschaffen wollten. Heute ist er begeistert davon. Ist es überhaupt erstrebenswert, alles zu hören? Phil Collins hat sich entschieden, keine Konzerte mehr zu geben, weil er schlecht hört. Wenn Sie Ihren Beruf nicht mehr ausüben können, wird Hören existenziell. Sie haben mehrfach erklärt, Marktführer werden zu wollen. Auf dem Weg dazu hat Phonak die kanadische Unitron übernommen. Warum wollen Sie nicht ein kleiner, feiner Anbieter bleiben? Es macht nur Sinn, in der Branche mitzuspielen, wenn man auch vorne dabei ist. Als technologieorientierte Wissensunternehmung müssen wir gross sein, um die Kosten decken zu können. Wenn man wenig Masse hat, kommt man in die Situation, dass man die Ideen nicht umsetzen kann, weil sie zu teuer sind. Sie haben sich aber mit den Grössenfantasien ein blaues Auge geholt. Unitron war sehr teuer, zudem haben Sie die Integration organisatorisch unterschätzt. Sicher ist die Rechnung dort noch nicht aufgegangen. Aber wir haben ja nicht nur einen Hersteller gekauft, sondern einen ganzen Markt: den der günstigeren Hörgeräte. Wie gross war das psychologische Moment, einen Coup zu landen, zumal in einer Zeit, in der die ganze Wirtschaft auf Akquisitionen setzte? Wir haben zurückhaltender akquiriert als die Konkurrenz. Denn die Integration ist immer schwieriger als die Akquisition. Mit Unitron haben wir zum ersten Mal einen Hersteller erworben, nachdem wir früher immer Distributoren gekauft hatten. Der Druck von Investoren und Analysten auf die Firmenchefs hat zugenommen. Bereuen Sie es, Phonak dem Publikum geöffnet zu haben? Sie können nicht den Fünfer und das Weggli haben. Wollte ich die absolute Sicherheit, würde ich heute einen Bratwurststand führen. Mit dem Börsengang wollten wir die Abhängigkeit von den Banken verringern. Wir waren drei Gründungspartner und hatten alle die Beispiele von Familiengesellschaften vor Augen, die in zweiter Generation heruntergewirtschaftet worden waren. Sie hätten auch verkaufen können. Ja, aber dann wäre die Firma in kurzer Zeit demontiert worden. Die Kultur wäre verloren gegangen. Für die unkonventionelle Firmenkultur sind Sie berühmt geworden. Wie ist die Stimmung derzeit im Unternehmen? Wieder gut. Wir sind durch eine schwierige Phase gegangen, unter die wir einen Schlussstrich ziehen mussten. Wie konnten Sie die Leute wieder aufbauen? Indem Sie durch die Gänge liefen und Sprüche klopften? Nein, mit Sprüchen ist nichts getan. Wichtig ist, Fehler offen zu diskutieren und alle einzuladen, an der konstruktiven Kritik teilzunehmen. Ich habe mich nie mit Jasagern umgeben. Die Leute müssen ihren Frust abladen können. Da muss ich ein guter Zuhörer sein. Und wenn die Fehler diskutiert worden sind, muss der Chef klar erklären, wie es weitergeht. Alles beginnt mit einer Vision. Eine Vision ist aber keine abgehobene Vorstellung von der Zukunft, sie besteht aus Plänen und Massnahmen. Zum Beispiel, die Bürokratie und die Überregulierung im Unternehmen ab- und die Qualitätssicherung aufzubauen. Dann muss der gesunde Menschenverstand übernehmen. Sie sind die gute Seele des Unternehmens – und zugleich auch sein Handicap. Phonak ist untrennbar mit Rihs verbunden. Diese Interpretation stimmt nicht. Es ist schön, dass ich geschätzt werde, und die Firma wird auch immer mit meinem Namen in Verbindung gebracht werden, nur schon weil ich den Börsengang durchgezogen habe. Gewisse Dinge, die ich zusammen mit meinem Partner Beda Diethelm geprägt habe, sind wohl nie mehr wegzubringen: zum Beispiel die offene Architektur des Hauptgebäudes. Aber es geht nicht darum, eine egozentrische Tour zu betreiben. Das Ziel ist, dass viele Leute einen guten Job machen. Analysten kritisieren, Phonak sei zu breit organisiert: ein Weltkonzern, der immer noch patronal geführt wird. Ich sehe mich nicht als Patron, sondern als Leader, wobei ich nicht der Einzige bin, der Leadership ausstrahlt. Wir sind eine klassenlose Gesellschaft. Wer bei uns am Hauptsitz in Stäfa reinschaut, wird nicht herausfinden, wer der Chef ist. Es gibt keine Statussymbole, weder eine Kantine noch reservierte Parkplätze für die Chefs. Kollegialität steht an oberster Stelle bei uns. Es braucht Leader, aber es darf kein Klassendünkel entstehen. Niemand darf sich Dinge herausnehmen, die ihm nicht zustehen. Bei der Crossair hat auch Moritz Suter das Unternehmen zusammengehalten. Als er weg war, wurde die Belegschaft orientierungslos. Ich kenne Moritz Suter, er hat seine Fluggesellschaft in gutem patronalem Stil geführt und damit viel Erfolg gehabt. Aber Phonak ist eine Know-how-Bude. Ich kann doch nicht meinem Forscher dreinreden; ich kann nur dafür sorgen, dass wir auf der richtigen Route bleiben. Weil wir stark interdisziplinär arbeiten, braucht es eine breite Organisation. Mir stellen sich weniger Fragen nach der Organisation, sondern danach, wie ich die Leute begeistern kann. Die Motivation läuft nicht übers Geld, sondern über die Idee und die Vision. Die Leute wissen, dass mir ihr Wohl am Herzen liegt. Entscheidend ist, das zu tun, was man will. Wenn man sich intellektuell und emotional mit einer Sache beschäftigt, wird sie interessant und macht Spass. Viele Spitzenmanager behaupten, nur über hohe Löhne gewänne man die besten Leute. Wir haben nie die hohen Löhne gezahlt. Früher zahlten wir schlecht, heute marktgerecht. Trotzdem haben wir immer gute Mitarbeiter gefunden. Die Firmenkultur ist weitaus die bessere Motivation als Geld. Die Leute arbeiten gerne am Abenteuer Phonak. Dadurch, dass sie Leistung fürs Unternehmen erbringen, schaffen sie für sich selber einen Wert. Es ist wichtig, dass die Leute einen Wert in der Arbeit finden und über ihren Wert respektiert werden. Das führt am Ende zu höherer Wertschöpfung. Ihr Nachfolger, Valentin Chapero, wird es schwer haben, aus Ihrem Schatten zu treten. Sie bezeichnen sich als «active chairman». Das klingt nach Omnipräsenz. Da kennen Sie Herr Chapero nicht. Er weiss, was er kann, und setzt sich auch durch. Ich kannte ihn schon länger und hätte nicht gedacht, dass ich ihn bekomme. Aber er wollte sich bei Siemens nicht mehr stark mit Interna herumschlagen, sondern stärker an der Front arbeiten. Wir haben klar abgemacht, dass ich mich sukzessive zurückziehe. Ich mache jetzt nur noch einige Projekte fertig. Ab Januar 2003 bin ich mit meinem Arbeitspensum wieder dort, wo ich vor einem Jahr gewesen bin. Was tun Sie in der gewonnenen Freizeit? Ich hatte meine Agenda fürs Jahr 2002 bereits im Januar weggeworfen. Als ich ins operative Geschäft zurückkehrte, musste ich mir wieder eine zulegen. Irgendwann werfe ich auch den Terminkalender für 2003 weg. Dann kann ich endlich wieder das tun, was ich will. Ich freue mich auf ein Leben ohne Zeitdruck. Wenn ich nicht arbeite, liebe ich es, zu «blööterlen». Zudem fahre ich Rad, spiele Golf und lese viel, vor allem ausländische Magazine. Schliesslich habe ich ein grosses Reiseprogramm. Es führt vor allem nach Südamerika. Die Provence, wo ich ein Domizil besitze, ist meine zweite Heimat geworden. Dieses Jahr hätte ich mindestens drei Monate dort verbringen wollen. Vielleicht reicht es nächstes Jahr. Oder wenn nicht nächstes, dann bestimmt übernächstes.

Ein unternehmerischer Geist
Das Jahr 2002 verlief für Phonak-Besitzer Andy Rihs nicht wunschgemäss. Konzernchef Peter Pfluger wurde abgesetzt, dreimal musste die Gewinnprognose revidiert werden. Um den Aktionären die Sachlage zu erklären, berief Verwaltungsratspräsident Rihs im Frühling einen Tag der offenen Tür ein, an dem er sich unter anderem für die Vorkommnisse entschuldigte. Dieses Vorgehen ist typisch für den Mitgründer des Stäfner Hörgeräteherstellers. Nach einer kaufmännischen Ausbildung hatte Rihs 1966 zusammen mit Bruder Hansueli sowie Beda Diethelm die Einmannfirma in Stäfa von seinem Vater übernommen und entwickelte sie zu einem Weltkonzern mit 2500 Mitarbeitern und einem Umsatz von 580 Millionen Franken. Dann fand die Erfolgsgeschichte ein jähes Ende. Phonak kam zu spät mit der Digitaltechnologie, die Übernahme der kanadischen Unitron überforderte das Unternehmen. 2002 endet als schlechtestes Jahr der Firmengeschichte. Der seit Oktober tätige neue Konzernchef Valentin Chapero soll Phonak wieder auf Kurs bringen. Womit Rihs wieder mehr Zeit für seine zahlreichen übrigen Engagements hätte, etwa die Rinderzucht in den USA, das Weingut Framingham Winery in Neuseeland oder die Velofabrik VMC in Grenchen.
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