In einer dickbauchigen Flasche schwimmt ein Stück Sandwich. Aufgequollen in der gelblichen Lösung, weisslich der Schinken. Daneben steht eine Flasche voller grauer Fleischmasse, präpariert für die Analyse und kaum identifizierbar als Zwiebelmett.

Im Hamburger Natec Institut für naturwissenschaftlich-technische Dienste testet der Genfer Warenprüfkonzern Société Générale de Surveillance (SGS) Lebensmittel. Hier wird überprüft, ob sich in Schokolade, Babybrei oder Heringsalat schädliche Pilze und Bakterien verstecken. Diesen Job soll die SGS besser machen als jedes andere Institut der Welt. So will es Sergio Marchionne. Der Mann, der von sich sagt, er hasse Stillstand und Mittelmässigkeit, ist vor acht Monaten angetreten, die SGS zum besten Warenprüfkonzern der Welt zu machen. Das könnte ihm gelingen.

Die Brötchen sind nicht das Problem. SGS testet seit beinahe 125 Jahren Waren aller Art in mehr als 140 Ländern, mit rund 32 000 Mitarbeitern. Die Leute wissen, wie so was geht. Aber über die Jahre hat der Konzern Patina angesetzt. Die SGS hat Probleme, weil es zu viele Kontrolleure gibt, die Kontrolleure kontrollieren – ein riesiger Wasserkopf. Weil mit den Jahren Geschäft um Geschäft hinzugekommen ist, ohne dass man sich je gefragt hätte, ob es nicht sinnvoll wäre, einige miteinander zu verbinden. Weil Manageraufgaben doppelt verteilt waren. Weil einige Dinge so gehandhabt werden wie schon 1878. Und weil zum Beispiel in Holland und Belgien ein und dieselbe Dienstleistung völlig unterschiedlich erstellt wird – jedes Land erfindet den Prozess neu.

All das soll sich ändern. Sergio Marchionne will aufräumen. Seine Ziele: ein Umsatz von 3,2 Milliarden Franken im Jahr 2004, Gewinnmargen in allen Geschäftsbereichen von mindestens zwölf Prozent – wie sie die beiden wichtigsten Konkurrenten, Intertek Testing Services (ITS) und Bureau Veritas (BV), bereits erzielen. 2001 lag der Umsatz bei 2,3 Milliarden Franken. Der Konzern soll nun doppelt so schnell wachsen wie in den vergangenen Jahren.

Ganz von vorne beginnen
Alles eine Sache der Führung, meint Marchionne. Leadership ist sein grosses Thema. Mit den richtigen Leuten und der richtigen Einstellung, so seine Theorie, müsse SGS zur Nummer eins in puncto Rentabilität aufsteigen.

Als seine Aufgabe begreift es Marchionne, das Umfeld dafür zu schaffen. Seine Leute setzt er auf die grüne Wiese und lässt sie überlegen: Wie zöge man das Geschäft auf, könnte man nochmals ganz von vorne beginnen? Mit aller Freiheit der Welt. «Es ist nicht leicht, dieses Denken durchzusetzen. Aber die Leute begreifen langsam, dass das eine Lebenseinstellung ist», sagt Marchionne. Das sei genau das richtige Rezept, meint ein ehemaliges Kadermitglied: «SGS braucht eine starke Führung. Die Leute müssen mitziehen, sich identifizieren. Aber das wird nicht einfach.»

Gewöhnungsbedürftiger Führungsstil
Dem Traditionskonzern SGS ist solches Denken fremd. Der neue Chef sorgte für einige Aufregung. Aus heiterem Himmel fragte der Mann in Sitzungen seine Leute nach ihrer Meinung, auch wenn es gar nicht um deren Spezialgebiet ging. Anfangs herrschte regelmässig betretenes Schweigen.

Er rief 137 Manager zusammen und veranstaltete ein internes Assessment-Center – nur etwa 20 von ihnen befand er für gut. Er urteilt schnell über Menschen. Wen er schätzt, der geniesst sein uneingeschränktes Vertrauen. Was er hasst: «Leute, die diese unglaubliche Fähigkeit mitbringen, sich immer gut zu fühlen, indem sie sich selbst belügen.» Wenn er solches Verhalten bemerkt, schreit er auch mal los – um die Erwartungen dieser Leute zu «redimensionieren», wie er sagt.

Die immer wiederkehrende Frage für Marchionne: Habe ich die richtigen Führungskräfte ausgewählt? «Das ist das Einzige, was mich nachts um den Schlaf bringt», sagt er. «Ich mache mir keine Sorgen, zu viel versprochen zu haben, aber ich frage mich ständig, ob ich die richtigen Leute hier habe.»

Der neue Führungsstil hat schon einiges bewirkt. «Die Leute freuen sich darauf, Sachen anzupacken», sagt Jens Zimmermann, Vertriebschef in Hamburg. «Er schafft es, das Management zu motivieren – und dieses trägt die Motivation weiter.» Weiterer Anreiz für die SGS-Mitarbeiter: Marchionne hat Leistungslöhne eingeführt.

Im Grossen und Ganzen, heisst es, sei die Stimmung inzwischen wieder gut. Die Veränderungen haben viele verunsichert. Wenn auf das Unwetter strahlender Sonnenschein folge, könne man es aushalten, meint einer. Aber nicht jeder kann Marchionnes forderndes Wesen gut ertragen: 270 Mitarbeiter haben SGS verlassen, rund 70 davon in Genf. Mitziehen – oder sich besser einen anderen Job suchen. Wer bleibt, ist häufig fasziniert. «Ich lerne immer von ihm», sagt ein enger Mitarbeiter, «auch wenn wir nur plaudern.»

In einem Jahr soll die Hierarchie von zehn auf fünf Stufen reduziert sein, teilweise ist sie es schon. In den ersten zwei Monaten hat Marchionne das Topmanagement bereits deutlich ausgedünnt. Die siebenköpfige Generaldirektion wurde abgeschafft; an ihre Stelle rückt der Operations Council mit momentan 20 Mitgliedern, langfristig sollen es 25 bis 30 sein.

Vorschusslorbeeren abverdienen
Ein auf den ersten Blick umständliches Gebilde: Im Operations Council treffen sich Chief Operating Officers, verantwortlich für die Geschäfte in den Regionen, Executive Vice Presidents, zuständig für Entwicklungen in den Geschäftsbereichen, und Senior Vice Presidents, die Stabsstellen in Kommunikation oder Finanzen. «Ungewöhnlich, dass jemand so viele Leute direkt führt», sagt ein ehemaliger Manager. In Zeiten der Veränderung mag das klappen, aber langfristig? Völlig zufrieden damit scheint Marchionne auch nicht zu sein: Das Kader diskutiert noch, wie einige Aufgaben verteilt sein sollen.

Es muss sich noch weisen, ob sich Marchionnes Vision einer eigenverantwortlichen Führungskultur in den Ergebnissen niederschlagen wird. 400 Millionen Franken operativen Gewinn (2001: 137 Millionen Franken) soll SGS 2004 erzielen, 150 bis 200 Millionen Franken sollen davon Kosteneinsparungen und Effizienzsteigerungen ausmachen. Sparen kann Marchionne gut. Ob auch Umsätze schaffen, das muss er erst beweisen.

Die Ziele sind ehrgeizig. Zu ehrgeizig, sagen einige. «Die internen Erwartungen sind noch höher», sagt Marchionne. Solcher Ehrgeiz ist keine schlechten Voraussetzung. Das erste Halbjahr 2002 liess sich ganz gut an: Der Reingewinn stieg um die Hälfte auf 66 Millionen Franken, der Betriebsgewinn wuchs um 59 Prozent. Die operative Marge, der Massstab im Vergleich zu ITS und BV, erhöhte sich von 5,2 auf 8,1 Prozent.

Die Zahlen für die ersten sechs Monate sind allerdings nicht allein Marchionnes Verdienst. Bis Ende Januar führte Antony Czura die Geschäfte der SGS. «Ich habe eine Basis geerbt, auf der ich gut aufbauen konnte», sagt Marchionne.

Antony Czura, ein langjähriger SGS-Mann, hatte 1998 die Führung des Unternehmens übernommen. In einer katastrophalen Situation: Generaldirektion und Verwaltungsrat hatten offen gegen die langjährige Verwaltungsratspräsidentin und Konzernchefin Elisabeth Salina Amorini rebelliert und sie zum Rücktritt gezwungen. Der Verwaltungsrat selbst trat geschlossen ab. Salina Amorini hinterliess ein Unternehmen, das durch jahrelange Kämpfe und den Zusammenbruch des einst so wichtigen Geschäfts mit Regierungsverträgen geschwächt war. Die SGS schrammte knapp an der Zahlungsunfähigkeit vorbei; Czura brachte den Konzern wieder auf Kurs. Bereits Ende 2000 bemängelte der Verwaltungsrat jedoch, Czura walte nicht mit genügend harter Hand. Sergio Marchionne eilte der Ruf voraus, ein harter und kompromissloser Restrukturierer zu sein. Und er war ein Firmenfremder. Das kann ein Vorteil sein, wenn man hart durchgreifen will.

So sieht das auch die Börse: Als Marchionne am 23. Januar zum Konzernchef von SGS ernannt wurde, kletterte der Kurs am selben Tag um 13 Prozent. Seitdem schlägt die Aktie den Swiss Market Index (SMI) um Längen.

Marchionne hat in der Vergangenheit schon ein Schweizer Traditionsunternehmen auf den Kopf gestellt. Als Chef von Alusuisse Lonza trieb er die Profitabilität hoch und plante die Fusion mit dem deutschen Mischkonzern Viag, die im letzten Moment scheiterte. Es folgte 1999 die geglückte Fusion von Alusuisse und der kanadischen Alcan zur Algroup. Lonza wurde selbstständig, Marchionne ihr Chef. Er verkaufte grosse Teile des Geschäfts und fokussierte das Unternehmen als Pharmazulieferer auf den Bereich Feinchemie.

Zukäufe, Verkäufe, Fusionen
Das Geschäft habe ihn irgendwann gelangweilt, sagen Gerüchte. Zu wenig Bewegung, zu viel tägliche Knochenarbeit. «Er ist immer auf der Suche nach Neuem, will Firmen kaufen, verkaufen, fusionieren», sagt jemand, der ihn aus Marchionnes Zeit bei Alusuisse und Lonza gut kennt. SGS, meint ein ehemaliges Verwaltungsratsmitglied, könne den geplanten Umsatz von 3,2 Milliarden Franken bis 2004 nur mit Hilfe von Übernahmen erreichen. «Bevor wir an Akquisitionen denken, müssen wir aufräumen», sagt Marchionne. Nur für den neu gegründeten Bereich Life Sciences (Pharma, Biotechnologie) denkt er konkret über Akquisitionen nach, das Geschäft bliebe sonst zu klein.

«Die bessere Frage ist», sagt Marchionne, «ob ich mir eine Fusion vorstellen könnte. Die Anwort ist ja.» Nicht mit ITS oder BV allerdings – die Geschäfte überlappen einander weitgehend. Interessanter: etwas, was das technische Wissen von SGS erweitern würde. Was immer das heisst. Konkret geplant ist nichts, aber früher oder später? Nicht ausgeschlossen.

Verseuchter Kakao
Der Ruck, der durch die SGS ging, war überall dort spürbar, wo sich der Konzern auf altbewährten Traditionen ausgeruht hatte. Den Lebensmittelkontrolleuren in Hamburg ist es reichlich egal, dass in Genf ein neuer Chef sitzt. Ihr Alltag bleibt gleich.

In grossen pinkfarbenen Eimern rühren sie eine Art Kakao an, ein Gemisch aus Milch, Schokolade und Nährlösung. Ein Gebräu, das Salmonellen lieben. Andere Bakterien ziehen Blut oder Gurkenextrakt vor. Bei 37 Grad brütet der Kakao, dann ziehen die Tester eine weitere Probe und kippen sie zusammen mit neuem flüssigem Nährboden in eine Petrischale. Sitzt die Schale irgendwann voller kleiner dunkler Flecken, stimmt was nicht mit der Schokolade. Wahrscheinlich waren die Rohstoffe verseucht, Salmonellen in der Milch, giftige Pilze in den Nüssen.

Die Nährböden kocht das Institut selbst, das geht schneller und ist billiger, als sie zu kaufen. Auf einem alten Gasherd rühren die Nährbodenköche Granulat mit destilliertem Wasser an, erhitzen die Brühe, bis sich das Granulat bei 100 Grad Celsius löst, und kippen die fertige Nährbouillon in Flaschen. Es riecht nach Milch, oft auch nach Käse und manchmal gar so schlimm, dass man im gesamten Gebäude am liebsten mit Nasenklammer herumliefe.

Das war schon immer so, warum sollte es sich ändern? Am Briefpapier sehen sie, dass sich in Genf etwas tut, obenauf prangt ein neues Logo – und das gefällt nicht allen: «Diese begrenzenden Linien, das ist doch nichts für uns, wir sind doch ein Weltkonzern», sagt eine Mitarbeiterin. Wenn das nur mal die einzige Veränderung bleibt, die den Hamburgern nicht gefällt!
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