«An der Börse wird es bald zu einer heftigen Korrektur kommen, noch heftiger als nach Ausbruch der Finanzkrise Mitte 2007. Sie wird noch tiefere Aktienkurse bringen als Anfang des Jahres 2009», sagt Brian Whitmer von Elliott Wave International, einer der grössten auf Charttechnik spezialisierten Finanzberatungsfirmen in den USA. Für den Schweizer Aktienindex SMI würde das einen Einbruch von heute über 6000 auf unter 4200 Punkte bedeuten – ein Minus von rund 30 Prozent.

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Einen echten neuen Aufwärtstrend an der Börse sieht Whitmer frühestens 2014. «Vorher wird es immer wieder Zwischenhochs geben, aber grundsätzlich bleiben wir in einer Abwärtsbewegung.»

Die meisten Charttechniker sind sich darüber einig, dass es im zweiten Halbjahr wahrscheinlich eine Korrektur an den Börsen geben wird. Allerdings schätzen viele die Korrektur weniger gravierend ein als Whitmer. «Bis Ende Jahr könnte der SMI auf 5800 bis 5900 Punkte fallen, eventuell sogar bis auf 5500 Punkte, wenn die Umsätze im Abwärtsgang deutlich zunehmen», sagt etwa Philipp Jäggle, Charttechniker bei der Zürcher Kantonalbank. Ab 2011 sieht er den SMI sogar eher wieder steigen.

Die Anleger sollten die Prognosen der Charttechniker durchaus ernst nehmen. Die meisten professionellen Börsenhändler bei Banken tun das jedenfalls und wenden selber Methoden der Charttechnik an. Das will etwas heissen, denn Börsenhändler wenden nur das an, was erwiesenermassen funktioniert – und ob etwas funktioniert oder nicht, darauf erhalten sie unmittelbares und kaum beschönigendes Feedback. Zahlen sind hart, und am Ende des Tages hat einer Gewinn erwirtschaftet oder eben Verlust. Mit Hilfe der Charttechnik scheinen eher Gewinne zu resultieren.

Charttechniker orientieren sich an Kursverläufen und anderen Handelsindikatoren aus der Vergangenheit: Handelsvolumen, Geschwindigkeit eines Preisanstiegs, typische Kursformationen (zu sehen in Grafik 6 «Kopf-Schulter-Formation» auf Seite 70). Daraus leiten sie ihre Prognosen für Kursverläufe ab. Die Theorie besagt, dass die meisten Informationen über künftige Trends an der Börse schon an den Kursen der Vergangenheit erkennbar sind und nur richtig entschlüsselt werden müssen. Als Schlüssel dienen oft Kursformationen in der Vergangenheit. Das sei legitim, so die Charttechniker, weil Haussen und Baissen an den Börsen nach immer gleichen psychologischen Mustern ablaufen (siehe Grafik 2 «Auf und Ab der Emotionen» auf Seite 1 im Anhang).

Allerdings stellt sich immer die Frage, welche Kursformation aus der Vergangenheit die richtige Referenzgrösse für die aktuelle Situation ist. Hier sind Whitmer und Jäggle unterschiedlicher Ansicht. Whitmer vergleicht die heutige Situation mit den dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, also den Zeiten der Weltwirtschaftskrise mit mehreren tiefen Abwärtsstrudeln an der Börse (siehe Grafik 7 «Die Elliott-Wellen» auf Seite 1 im Anhang). Jäggle sieht dagegen das Jahr 2004 als Referenzgrösse. Auch damals gab es nach dem rasanten Kursanstieg ab März 2003 ein Auslaufen des Aufwärtstrends im Jahr 2004 und erst danach weitere Kursgewinne. «Es wäre naiv zu glauben, dass es weiter so schnell nach oben gehen kann wie nach März 2009», sagt Jäggle. Der aktuelle Aufwärtstrend sei jedenfalls gebrochen.

Blindflug. Trends entstehen unter anderem deshalb, weil niemand den korrekten Wert einer Aktie oder eines anderen Finanzinstruments kennt. «Darum orientieren sich die Anleger aneinander. Das ist so, wie wenn man sich in einer grossen Gruppe im Dschungel verläuft. Wenn dann einer beginnt, zielstrebig in eine Richtung zu laufen, dann folgen ihm alle, auch wenn er eigentlich gar nicht weiss, wohin er läuft», so Whitmer.

Die Trends sind oft schon in den Kursgrafiken erkennbar, wenn sie noch lange weiterlaufen. Trends dauern oft Wochen, Monate oder Jahre. «Das hängt damit zusammen, dass Anleger lieber Gewinner- als Verliereraktien kaufen», sagt Jäggle. Das heisst, die Kurse von Gewinneraktien werden über längere Zeiträume immer weiter nach oben getrieben.

Zudem laufen fundamentale Umschichtungen nicht schlagartig, sondern meist langsam ab. Dies, weil unterschiedliche Investorengruppen unterschiedlich schnell auf fundamentale Veränderungen reagieren. Zum Beispiel die Umschichtung vom Euro in den Schweizer Franken (siehe Grafik 4 «Abwärtstrend» auf Seite 2 im Anhang): Als Erste verkaufen die klügsten und agilsten Investoren – oft sind das Hedge Funds – den Euro und kaufen Franken. Dann merken weitere Investoren, woher der Wind weht; die fundamentale Euroschwäche und die Frankenstärke werden allgemein erkannt. Allerdings können noch lange nicht alle Investoren sofort darauf reagieren. Viele institutionelle Anleger, etwa Pensionskassen, müssen grössere Anlageentscheide zuerst von einem Gremium absegnen lassen, was dauern kann. Von den agilsten bis zu den langsamsten Investoren können Monate vergehen. Viel Zeit, um einen Trend zu erkennen, darauf zu setzen und damit Geld zu verdienen.

Wegen der langsamen Umschichtungen achten viele Charttechniker auf relative Trends. So auch Alfons Cortés, Charttechniker mit eigener Firma, Unifinanz Trust, und Kolumnist bei «Finanz und Wirtschaft». Er sieht derzeit neben dem Trend aus dem Euro in den Franken auch einen hin zum deutschen Aktienindex DAX (siehe Grafik 5 «Relativer Trend» auf Seite 2 im Anhang). «Seit Mitte März hebt der DAX im Vergleich zum SMI ab», sagt Cortés. «Der sinkende Eurokurs stärkt Exportfirmen in Deutschland wie Siemens, Daimler und die Spezialchemiefirma Lanxess.»

Vorsicht Gold! Neben absoluten und relativen Trends achten viele Charttechniker auch auf den emotionalen Zustand der Anleger. «Sind sie extrem positiv, dann ist das ein Verkaufssignal», sagt Whitmer. Bestes Beispiel ist Gold: Über 90 Prozent der von Bloomberg befragten Analysten, Investoren und Händler erwarten einen weiteren Kursanstieg beim gelben Metall. Trotz dem klaren Kurstrend kann Whitmer deshalb nur von Investitionen in Gold abraten (vergleiche Grafik 3 «Aufwärtstrend» auf Seite 2 im Anhang).

Dem Rat bezüglich Gold zu folgen, ist derzeit besonders schwierig, weil massenpsychologisch alles fürs Edelmetall spricht: Alle wollen es. Um diesem massenpsychologischen Druck standhalten zu können, bietet die Charttechnik auch Hilfsmittel. Gleitende Durchschnitte können Investoren dazu anleiten, diszipliniert zu investieren, auch gegen die eigenen Emotionen. Äusserst erfolgreich war, wer sich in den vergangenen zehn Jahren an die Kauf- und Verkaufssignale des gleitenden Durchschnitts über 200 Tage hielt (Grafik 1 «Im Gleitflug» auf Seite 1 im Anhang).

Wie schwierig es für Anleger ist, sich an solche Signale zu halten, erklärt Rolf Bertschi in einem Grundlagenpapier zur technischen Analyse für das Private Banking der Credit Suisse. Bertschi ist Leiter der globalen technischen Analyse bei der CS und zeigt in einer Grafik, wie Anleger von der Börsenpsychologie an der Nase herumgeführt werden und oft zu Höchstkursen kaufen und zu Tiefstkursen verkaufen (siehe Grafik 2 auf Seite 1 im Anhang).

Ein Gleichnis. Nassim Nicholas Taleb, Autor des Erfolgsbuchs «Der Schwarze Schwan», erklärt mit einem Gleichnis, wie sich Anleger emotional falsch verhalten: Ein Truthahn wird tausend Tage lang gefüttert. Jeden Tag kommt ein Mensch und gibt ihm zu fressen. Der Truthahn ist am Anfang noch scheu, dann wird er zutraulicher und immer überzeugter, dass der Mensch ihm nur Gutes will. Am tausendundersten Tag ist der Truthahn überzeugter denn je, dass er jetzt sein Fressen bekommt. Doch er bekommt etwas ganz anderes. Gerade zum Zeitpunkt, da er sich am sichersten fühlt, passiert das für ihn Schlimmste: Er landet im Kochtopf.

Ähnlich ergeht es Anlegern. Je höher die Kurse steigen, desto überzeugter sind sie, dass es so weitergeht. Und wenn sie überzeugter sind denn je, voller Vertrauen, dann ist oft der dümmste Moment gekommen. Bezüglich Gold könnte der dümmste Augenblick bald da sein.