Kurt Imhof (46) besetzt seit Dezember 2000 an der Universität in Zürich einen Lehrstuhl für Publizistikwissenschaften und Soziologie.
Der gebürtige Thurgauer hat sich auf dem zweiten Bildungsweg vom Hochbauzeichner zu einem der führenden Schweizer Soziologen gemausert. Einem grösseren Publikum bekannt ist Imhof spätestens, seit er 1997 die Leitung des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) an der Universität Zürich übernommen hat und Gesellschaftsfragen häufig am Fernsehen zu beantworten versucht. Über die systematische Analyse der öffentlichen Kommunikation erforscht er die Wirkungen der Medialisierung auf politische Organisationen und privatwirtschaftliche Unternehmen.
Imhofs Forschungsbereich arbeitet gewinnorientiert und nutzt die Erträge für den Ausbau der Kapazitäten. Gegenwärtig hat Imhof rund 22 ständige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf seiner Lohnliste. Insgesamt sind mehr als 50 Personen in seinem Forschungsbereich tätig, den er in den letzten Jahren zu einem «Kommunikations-Cern» ausgebaut hat. Er sagt: «Analog zum Cern in Genf, das sich mit den kleinsten Teilchen der physischen Welt befasst, widmen wir uns den kleinsten Teilchen der sozialen Welt: dem Kommunikationsereignis. Wenn man erkennt, wie diese kleinsten Teilchen Karriere machen und zusammenstossen, kann man daraus eine Definition der Gesellschaft ableiten.»


BILANZ: Welche Aufgabe haben die Medien?
Kurt Imhof: Seit den Achtzigerjahren haben sich die Medien aus dem politischen System ausdifferenziert. Zuvor waren sie wesentliche Bestandteile des politischen Systems oder der Kirchen. Heute orientieren sie sich an Aufmerksamkeitswerten beziehungsweise den Unterhaltunsbedürfnissen des Publikums.

Was heisst das für den Medieninhalt?
Wir sehen heute eine Moralinvasion in der öffentlichen Kommunikation. Nicht nur in der politischen, sondern auch in der wirtschaftlichen Berichterstattung. Dort kann man besonders gut zeigen, dass sich die Kommunikation über die Wirtschaftselite und über die Ökonomie moralisch in einem ungeheuren Mass aufgeladen hat.

Wie funktioniert diese Überladung?
Wirtschaftsakteure wollen sich möglichst gut dargestellt wissen. Die Medien hingegen wollen eine möglichst grosse Moraldifferenz herstellen. Die Medien bewirtschaften das persönliche Versagen. Das Geschäft von politischen und wirtschaftlichen Medien ist immer mehr auch Empörungsbewirtschaftung.

Wie viel Moral erträgt die Wirtschaft?
Die Wirtschaft ist nicht mehr frei – sie ist moralbelastet. Die Antwort auf die Deregulation der Neunzigerjahre ist die moralische Re-Regulation. Man müsste die Wirtschaft nicht vom Staat, sondern von der Moral befreien. Moral wirkt als Verteuerungsfaktor. Sie stellt für die Wirtschaft das Risiko dar, den grösstmöglichen Reputationsschaden zu erleiden.

Welches wäre dieser Reputationsschaden?
Wir reden vom Verlust des Sozialprestiges. Das gewachsene Sozialprestige eines Unternehmens wird zunehmend vom Image seines Spitzenvertreters abhängig, weil sich die Wirtschaftsspitze selber personalisiert hat, möglichst charismatisch verkauft und weil die Medien die Wirtschaft systematisch über Personen abbilden. Das ist gefährlich. Vor allem dann, wenn wir davon ausgehen, dass Institutionen langlebiger sind als Menschen.

Nehmen wir das Beispiel der Credit Suisse. Lässt sich Ihre These belegen?
Bei der CS handelt es sich – wirtschaftsgeschichtlich betrachtet – um einen Niedergang sondergleichen. Innerhalb kurzer Zeit hat sich ein während über hundert Jahren gewachsenes Sozialprestige, das höchste Zuverlässigkeit vermittelte und einen ganz besonderen Kundenkreis hatte, zur Firma Mühlemann gewandelt. Die CS und die Medien haben in einem Prozess der Personalisierung während der Neunzigerjahre den CEO hochgejubelt – und der wird nun heruntergerissen. Übrig bleibt eine Firma, deren gewachsenes Sozialprestige zerstört ist und die daher einem äusserst kostspieligen Vertrauensverlust ausgesetzt ist.

Ist das Bild des charismatischen Wirtschaftsführers ein Phänomen der Neunzigerjahre?
In dieser Form, ja. Selbstverständlich hat es stets Unternehmerpersönlichkeiten gegeben.

Können Sie diese These am Beispiel der Credit Suisse erläutern?
Dramatisch ist die Auswirkung des Personalisierens auf die Corporate Identity eines Unternehmens, auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Während die Aussenkommunikation eines Unternehmens hochgradig auf einzelne Personen abgestützt ist, ist die Binnenkommunikation eine «Wir»-Kommunikation im Sinne von: Wir sind alle wichtige Rädchen in einem grossen Betrieb. Die Aussen- und die Binnenkommunikation divergieren heute überall, nicht nur im Fall der CS. Elementar ist, dass die Binnenkommunikation ihre Glaubwürdigkeit verliert und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die eigene Firma nur noch über die Massenmedien beziehungsweise über die CEO-Berichterstattung wahrnehmen. Das zerstört die Firmenbindung.

Über welche Prädikate definiert sich der CEO in den Massenmedien?
Über Leistung und über sein Charisma. Die Personalisierung erfordert das. Über seine Fähigkeit, die Share- und Stakeholders davon zu überzeugen, dass sein Reorganisationspfad der einzig richtige ist. Die Erzeugung von Charisma baut immer darauf, die Umwelt davon zu überzeugen, dass an dieser Person die ganze Zukunft hängt. Jeder neue CEO muss deshalb ein Reformprogramm durchziehen und sich so von seinem Vorgänger absetzen, wie es zum Beispiel bei der ABB mehrere Male geschehen, binnenbetrieblich jedoch nicht mehr nachvollziehbar gewesen ist. Eines der erstaunlichsten Phänomene der Neunzigerjahre ist für mich der dramatische Verlust an Rationalität in der Wirtschaft: Die Gnadengaben von Einzelpersonen ersetzten den Commonsense.

Wer ist für das überhöhte Bild des Charismatikers in erster Linie verantwortlich: die Mitarbeiter, die Unternehmenskommunikation, die Medien?
Lukas Mühlemann hatte 1995 McKinsey verlassen, war zum Versicherungschef avanciert und hatte auf einen Schlag Shareholder-Value kreiert. Genau mitten in der Periode, in der in der Schweiz die Zeit des Shareholder-Value angebrochen war. Dadurch wurde er zum Helden. 1995 kolportierten die Schweizer Medien: Endlich haben auch wir einen Starmanager. Mühlemann selber verstand in dieser Phase, dass er eine neue Art der Kommunikation verfolgen musste. Der inzwischen zum Chef der CS avancierte Manager kommunizierte direkt und viel offener, als es Unternehmer zuvor getan hatten. Er realisierte, dass sein Charisma auf dem Vertrauen der Öffentlichkeit in seine Person gebaut war. Denn Charisma ist nichts anderes als Vertrauensdelegation. Die Medien und die Kommunikationsabteilungen bauen dies auf und ergänzen sich gegenseitig.

Können Sie diesen Vertrauensgewinn belegen?
Wir hatten bei Mühlemann für die Zeit der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre Reputations-Spitzenwerte gemessen. Damals verglichen wir explizit die UBS mit der CS. Resultat: Der Strahlemann Mühlemann riss alles heraus. Die UBS hingegen steckte – gemessen an der veröffentlichten Meinung – in der Krise. Jedermann dachte beim Stichwort UBS an Fusionitis, an Hedge-Funds, an eine knochentrockene Angelegenheit, an die alten Bankgesellen, an die Offizierskaste. Dem gegenüber stand die strahlende CS mit dem genialischen McKinsey-Mann, Schweizer, Spitzenbanker. So war der Rohstoff geschaffen, den es später und bis heute zu zerstören galt.

Nach dem Prinzip: zuerst hochjubeln und anschliessend herunterschreiben?
Das ist eine Mechanik, die im System angelegt ist.

Können Sie uns die Mechanik der Medienarena Schweiz erklären?
Am Sonntagabend und am Montag nehmen die elektronischen Medien die grossen Themen der Sonntagspresse auf. Die Tagespresse wiederum reagiert stark auf die elektronischen Medien. Im Regelfall ist auf diese Weise festgelegt, welches Thema während der Folgewoche bewirtschaftet wird. Die am besten funktionierende Verwertungskette innerhalb der Medienarena ist das Duo «SonntagsBlick» und «Blick». Eine andere gut rotierende Verwertungskette beginnt mit der TV-Sendung «10 vor 10» auf SF DRS, an der sich die Printmedien stark orientieren. Die Wochenpresse, die am Donnerstag oder aufs Wochenende hin erscheint, muss sich stets überlegen, ob sie den Themenpfad, beispielsweise Kritik an Bundesrätin Ruth Metzler, weiterverfolgen will oder ob sich gegen das Wochenende hin nicht eher eine Ebner-Geschichte aufdrängt.

Wie hat Mühlemanns Abstieg stattgefunden?
Eine Figur wie Mühlemann wird das Opfer des eigenen Image. Es gibt keine Checks and Balances mehr, weil für alle, auch für die Beteiligten selber, klar ist, dass die Firma inzwischen mit einer einzigen Figur steht und fällt. Alle wissen es: die Verwaltungsräte, die Finanzmärkte, die Mitarbeiter, die Medien. Die Firma wird so Opfer des eigenen Charismatikers. Sie muss ihn immer mehr ins Schaufenster stellen, weil dieser von Krisenbewältigungen lebt. Ein Charismatiker benötigt per se Krisen, damit alle an ihn glauben. Wenn aber die Kaskade der Krisen zu gross wird, dann gerät auch der Charismatiker in Schwierigkeiten. Im Falle Mühlemanns ist es gleichzeitig zu einer Trendwende im neoliberalen Gesellschaftsmodell zurück zu einer Remoralisierung der Wirtschaft gekommen.

Was verstehen Sie unter Remoralisierung der Wirtschaft?
Die Remoralisierung der Wirtschaft ist eine Antwort auf die Deregulation in den Jahren zuvor. Über die öffentliche Kommunikation findet derzeit eine neue moralische Regulation der Wirtschaft statt. Auf diesem Pfad verabschieden wir uns alle vom neoliberalen Gesellschaftsmodell, von Enron, von WorldCom – mitten in die Krise von Corporate America.

Woher kommt die Remoralisierung?
In den Siebzigerjahren formten sich die sozialen Bewegungen und Protestparteien zu neuen Kräften in den Parlamenten. Von den Sozialwissenschaftlern bis zu den Politikern sprachen alle von der Ära der sozialen Bewegung, die tatsächlich einige Bereiche der Politik für sich gepachtet hatte: Umwelt-, Frauen-, Sicherheitspolitik. Damals operierten sie stark über medienwirksame Aktionsformen und verdrängten so die etablierten Kräfte von der politischen Agenda. Sie funktionierten nach dem Gesetz des Skandals: Es gab den Skandalisierer, das Skandalmedium und den Skandalisierten. Die neuen sozialen Bewegungen traten als Skandalisierer auf. Inzwischen haben die Medien die Bewegungen als wichtigste Skandalisierer abgelöst.

Warum ist vor allem die Spezies des Spitzenmanagers im Fokus des Skandalisierers?
Ein Blick auf die wichtigsten Skandale in der Deutschschweizer Medienarena in den letzten hundert Jahren zeigt, dass das Spitzenpersonal der Wirtschaft praktisch nie skandalisiert worden ist. Erst in jüngster Zeit hat sich dies völlig gewandelt. Erklärbar ist dies mit der neoliberalen Gesellschaftsidee, die in eine Krise geraten ist.

Wie lässt sich die neoliberale Gesellschaftsidee skandalisieren?
Innerhalb der letzten 15 Jahre haben sich die Wirtschafts- komplett von den Politikeliten getrennt. Die Eliten in diesem Land waren immer homogen, definiert übers Militär, über den Service-Club, über dieselben bürgerlichen Parteien. Die soziale Kontrolle funktionierte wechselseitig. Wirtschaftshistorisch gesehen, lebt der Sonderfall Schweiz genau von dieser übergreifenden Elite. Die Kraftwerke, Kantonalbanken und grossen Firmen wären nie zu Stande gekommen, hätten sich Eliten nicht vertrauensbildend im Militär, in derselben Partei und in der Politik vernetzt. Das neoliberale Gesellschaftsmodell hat diese Symbiose indes gespalten, begleitet von einer Marginalisierung der Politik. Die Wirtschaftseliten argumentierten, dass Moral gleich Marktlogik sei. Währenddessen setzte sich der Verlust der sozialen Kontrolle weiter fort, was ein Blick auf die exorbitant gewachsenen Managerlöhne beweist.

Die Schweiz erlebt seit zehn Jahren eine wirtschaftliche Stagnation. Warum wird nicht dies thematisiert, dafür umso mehr auf den Einzelfall Manager eingedroschen?
Gegenwärtig führen wir in der Schweiz auch noch die Bankgeheimnis- und die Apartheidgold-Debatte. Beides wird sich zuspitzen. Ich nehme an, dass diese Themen die Nationalratswahlen vom nächsten Jahr tangieren werden. Was die Schweiz in der Vergangenheit immobil gemacht hat, ist der Fall des Musterknaben, des Sonderfalls, des demokratischen Edelgewächses im Ost-West-Dualismus. In dieser Periode kam das Einschlagen auf die Schweiz politisch einer Partei zugute, welche die Deregulation zusammen mit dem Nationalstaatsideal der geistigen Landesverteidigung gepredigt hat. Es ist für mich ein Phänomen, dass die SVP über den Mythos der geistigen Landesverteidigung und des starken Staates gross wurde und gleichzeitig radikal einen Anti-Etatismus predigte. Wirtschaftpolitisch führte diese Linie in die Vertrauenskrise, die wir jetzt haben, aussenpolitisch führte es in die Isolation. Nach dem Fall der Mauer hat jedes Einschlagen auf die Schweiz dieser Partei zu einem weiteren Aufschwung verholfen. Und auch deshalb ist die Schweiz nach dem Ost-West-Dualismus intern gespalten, was die politische, aber auch was die Polit- und Wirtschaftselite betrifft. Die moderne Schweiz ist – auf Grund der Gespaltenheit ihrer Elite – in ihrer Geschichte noch nie so führungslos gewesen, wie sie es heute ist.

Kann die Remoralisierung Abhilfe schaffen?
Für die Wirtschaft hat sie negative Folgen. Wirtschaft ist in erster Linie dazu da, Güter und Dienstleistungen zu produzieren zum möglichst billigen Preis. Natürlich ist wirtschaftliches Handeln nicht moralfrei. Doch die Politik muss in erster Linie für die moralischen Fragen zuständig sein, weil sie dies auch viel besser kann. Wenn wir die Wirtschaft damit belasten, belasten wir sie mit unglaublichen Kosten und Reputationsrisiken. Nun könnte man einem strukturkonservativen Gedanken folgen und sagen: Die Wirtschaft ist dann frei, wenn sie die Moral wieder an den Staat und an die Politik hat delegieren können. Wenn dies nicht geschieht, wird die Wirtschaft moralüberladen und dadurch hochvolatil – das wäre das Schlechteste, was geschehen könnte.

Also müssen Wirtschaftsvertreter den Kampf gegen die Moralisierung aufnehmen?
Der Prozess der Moralisierung der Wirtschaft ist zurzeit nicht aufzuhalten.

Wie sollen sich Wirtschaftseliten als Skandalisierte verhalten, damit eine neue Moralbalance gefunden werden kann?
Moral reagiert systematisch auf Vertrauensverlust. Wer kein Vertrauen mehr hat, muss die Menschen auf der Moral behaften. Der Vertrauensverlust ist im Fall der Wirtschaft gerechtfertigt. Alle Checks and Balances sind ausgehebelt worden. Ich erinnere an die Ana- lysten, an Ratingagenturen, an die deregulierende SEC in den USA. Die Messlatten der Wirtschaft sind nicht mehr verlässlich.

Wie kommt die Wirtschaft darüber hinweg?
Indem sie den Weg hin zu gescheiter Regulation sucht. Gefragt ist der smarte Staat, der neben dem Regulationsmedium Recht und Institutionen der sozialen Sicherheit vermehrt Verhandlungsprozesse initialisiert, also so reguliert, dass die Selbstregulation optimiert wird. Der Weg geht nur über eine Kontrollbehörde, die staatlich organisiert ist.

Befinden wir uns bereits in dieser Phase des Suchens nach einer vernünftigen Regulation?
Für die politische Soziologie ist die Debatte über den Service public einer der wichtigsten Indikatoren dafür, dass die Zeit der Trennung von Wirtschaft und Politik zu Ende geht.

Wie kommen die Medien über die Phase der Moralisierung hinweg?
Das weniger schlimme Szenario besteht aus einer Fortsetzung der Verdammung von Wirtschaft und ihren Eliten. Dieses Einschlagen auf die Wirtschaft ist nicht das Klügste – vor allem, wenn es wirklich stimmt, dass der Glaube an die Zukunft die wichtigste Ressource für wirtschaftliches Wachstum ist. Das zweite Szenario ist gravierender: Das Verdammen der Wirtschaftselite wird überlagert durch das internationale Einschlagen auf die Schweiz. Dies wird zu einer nationalen Abwehrhaltung führen und diese wiederum der SVP einen zweiten Frühling bescheren. Das Einhauen auf die Schweiz wird dieses Land noch immobiler machen.

Was bringt Sie zur Überzeugung, dass dies ein realistisches Szenario sein soll?
Unsere Untersuchungen über die veröffentlichen Meinungen zu den Themen Bankgeheimnis und Apartheidgold lassen diesen Schluss zu. Die Schweiz operiert zudem falsch. In der Südafrika-Frage warnen wir seit 1997 – nichts ist gemacht worden. Und beim Thema Bankgeheimnis pokert die Schweizer Seite zu hoch, indem sie konstant behauptet, die Zinsbesteuerung sei ein tolles Angebot.
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