Sie verbreiteten in stillen Örtchen von Wohngemeinschaften Urlaubslaune, wurden von Fernwehgeplagten über dem Schreibtisch an die Mauer gepinnt oder hingen in Wochenendhäuschen gleich neben dem Wandteppich der Gattung «Röhrender Hirsch im Unterholz». Die Fangemeinde des Swissair-Jahreskalenders ging in die Zehntausende. Der tiefe Fall der Schweizer Airline allerdings bedeutet auch für die Hochglanz-Ferienbilder mit dem weissen Kreuz auf rotem Grund das Aus.

Im Sommer 2001 – über dem Balsberg, der Zentrale der Swissair Group, war noch kaum ein dunkles Wölkchen auszumachen – verliess der letzte Jahrgang die Druckmaschinen. Monate danach wurde von den insgesamt 200 000 Kalendern der grösste Teil in die gewohnten Verkaufs- und Werbekanäle geleitet. 35 000 Stück blieben im Keller, bereit zum Versand an die treuesten Vielflieger und interessierte Aktionäre. Die Swissair liess sich die Imagepflege bei ihren Risikokapitalgebern allein durch Versand- und Verpackungskosten 235 000 Franken kosten.

Nur haben die Jahreskalender den Keller nie verlassen. Karl Wüthrich gebot der Spedition in letzter Minute Einhalt. Ebenso legte er gegen das Weihnachtsessen sein Veto ein. Wie er auch die Bestellung neuen Kaffees für die Swissair-Administration ablehnte. Von den allernotwendigsten Auslagen zur Aufrechterhaltung des Betriebs einmal abgesehen, wird ohne Wüthrichs Segen auf dem Balsberg praktisch kein Franken mehr ausgegeben. Was wohl dem auch so schon lädierten Selbstwertgefühl eines Mario Corti, seines Zeichens VR-Präsident und CEO der Swissair Group, oder demjenigen der Finanzchefin Jacqualyn Fouse alles andere als zuträglich ist.

«Am Anfang war es nicht einfach», meint nachdenklich die Texanerin Fouse, die sich Mitte 2001 von Mario Corti aus der Nestlé-Finanzabteilung loseisen liess, um als Chief Financial Officer bei der Swissair Group anzutreten. «Ich musste lernen zu akzeptieren, dass ich einen Teil meiner Managementkompetenzen aufzugeben hatte. Und ich musste lernen, seine Seite zu verstehen.»

«Seine Seite», das ist der Blickwinkel des Karl Heinrich Wüthrich, 48 Jahre alt, zweifacher Familienvater, Rechtsanwalt, Sachwalter der in Nachlassstundung befindlichen SAirGroup, SAirLines, Swissair sowie Flightlease und in dieser Funktion zuständig für die Wahrung der Gläubigerrechte. Und wie ist er zu diesem Job gekommen? «Das Swissair-Management fragte mich an, ob ich das Amt des Sachwalters übernehmen würde. Ich sagte zu und wurde im Nachlassstundungsgesuch vorgeschlagen.» Nach einer eingehenden Prüfung seiner Fähigkeiten setzte Felix Ziltener, Nachlassrichter am Bezirksgericht Zürich, Wüthrich als Sachwalter ein.

Der Rechtsanwalt mit Fliege verströmt Gemütlichkeit. Er lacht gerne, ist oft zu Scherzen aufgelegt, und Mitarbeiter bescheinigen ihm eine zupackende Art. Doch er kann auch anders. Ein einstiger Arbeitskollege bezeichnet ihn als Haudegen, ein anderer billigt ihm einen kühlen Kopf zu, der seinen Standpunkt auch gegen grossen Widerstand durchsetze. Alles Charakterzüge, die ihm bei seinen bisherigen Aufträgen zupass gekommen sind. Die Ernennung zum Sachwalter und damit zum heimlichen Herrscher über die Swissair ist jedenfalls keine Zufälligkeit. Karl Wüthrich hat sich längst einen Namen gemacht als Spezialist des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts. Seine Referenzliste ist ein Who is who der grossen Firmenpleiten; er trat auf bei Konkursfällen wie Nova Park, Werner K. Rey, Biber Holding. Gerade beim Zusammenbruch der Biber hat der als ausseramtlicher Konkursverwalter fungierende Wüthrich bewiesen, dass er sogar gegen mächtige Widersacher die Gläubigerinteressen zu wahren weiss.

Der 48-Jährige ist nicht nur wegen seines Leistungsausweises zu Amt und Würden gekommen. Ausschlaggebend war, dass er den Zugang zu den Diensten einer grossen und effizienten Organisation vorweisen konnte: Wenger Plattner, mit rund 80 Beschäftigten, davon die Hälfte Juristen und Notare, und Standorten in Zürich, Basel und Bern eine der führenden Wirtschaftskanzleien des Landes. Wüthrich trat 1993 in die Firma ein, zwei Jahre später wurde er Partner. Die Anwaltskanzlei logiert im Goldbach-Center in Küsnacht bei Zürich, Seeanstoss, Sicht auf die Berge, verglaste Fassaden. Die weitläufige, zurückhaltend möbilierte Büroanlage strahlt Seriosität aus; die mit Werken des Rechtswesens bestückte Bibliothek vermittelt Kompetenz.

Die Organisation für das Swissair-Mandat wurde bei Wenger Plattner generalstabsmässig aufgezogen. Kein Wunder, denn mehrere Partner bekleiden Offiziersränge, Wüthrich ist Oberstleutnant. «Wir haben rasch realisiert, dass wir nicht primär zusätzliche Leute benötigen, sondern Spezialisten mit langjähriger Berufserfahrung aus den eigenen Reihen zuziehen müssen», erläutert Jürg Plattner, Partner bei Wenger Plattner und eine Art Stabschef beim Projekt Swissair. Dennoch musste zusätzlich ein Team von 21 Studenten eingestellt werden; aus dem Schuldenruf vom 9. bis zum 29. Januar 2002, während dessen die Gläubiger ihre Forderungen anmelden können, erwartete Wüthrich Zehntausende von Eingaben. In der Phase der Auswertung aller Eingaben sind rund 40 Personen involviert, davon gegen zehn Anwälte.

Auf der Kanzlei beginnt der Tag früh. Karl Wüthrich, auch sonst notorischer Frühaufsteher, hat wegen des arbeitsintensiven Mandats seinen Tagesablauf noch weiter vorverschoben. Lichterlöschen ist meistens um acht Uhr abends, denn um zwei Uhr in der Früh läutet der Wecker. Danach stehen einige Stunden einsamen Arbeitens auf dem Plan, für sieben Uhr ist die erste Besprechung mit Jürg Plattner angesagt. Eine Stunde später trifft sich die gesamte Crew zum Tagesrapport. Danach werden die Eingaben der Gläubiger in grossen Körben hereingetragen, maschinell geöffnet, eingescannt, aufgelistet. Die Studenten prüfen anhand eines Pflichtenhefts die einfachen Forderungen, komplizierte Fälle landen bei den Juristen. Da es sich um hochsensible Daten handelt, wurde die Organisation in einen abschliessbaren Gebäudeflügel ausgegliedert und mit 15 Terminals sowie eigenem Netzwerk samt Firewall ausstaffiert.

Das Swissair-Mandat ist für den Fliegenträger «ein durchaus üblicher Fall, denn viele Dinge und Abläufe wiederholen sich». Dennoch macht Wüthrich diesmal aussergewöhnliche Begleitumstände aus, beispielsweise die Menge der Entscheide, die bei Swissair zu fällen sind. Oder dass unter Aufsicht des Sachwalters, dies immer mit Blick auf die Wahrung der Gläubigerinteressen, die Geschäfte weiterzuführen sind. Der ungewöhnlichste Aspekt jedoch sind die enorme Dimension sowie die Internationalität des Falls: Im Nachlassverfahren stehen sechs Gesellschaften mit etwa 260 Tochterfirmen aus 30 Ländern.

Wüthrich wurde zuerst als provisorischer Sachwalter für alle Unternehmen bestellt, doch das ist rein mengenmässig unmöglich zu bewältigen. Deshalb erhielt er in der Person von Roger Giroud Support. «Ich wurde einzig für die SAirLines bestellt, und zwar als Co-Sachwalter. Dabei trägt Wüthrich die Konzernbrille, ich habe die Brille der SAirLines-Gläubiger aufgesetzt», erklärt Giroud, Rechtsanwalt bei der kleinen Zürcher Kanzlei Giroud Anderes Maag & Partner. Für Swisscargo und Cargologic wiederum ist die Berner Firma Transliq zuständig, ein in den Bereichen Schuldbetreibungs-, Konkurs- und Insolvenzrecht aktiver, 30-köpfiger Betrieb (siehe «Die Totengräber» auf Seite 64). «Wir sind völlig unabhängig von Wüthrich», beeilt sich Mandatsleiter Kurt Stöckli, die Selbstständigkeit von Transliq herauszustreichen. Deshalb laufe der Schuldenruf und die Registrierung auch unter der Regie von Transliq.

Ungeachtet dieser Aufteilung, schwingt im Nachlass der Swissair Group Wüthrich das Zepter. An ihm kommt kaum einer vorbei, weder Gläubiger noch Banken, noch Airline-management. Auch nicht die beiden Leasingunternehmen International Lease Finance Corp. und GE Capital Aviation Services, die zusammen 9,3 Milliarden Franken, fast die Hälfte aller ausstehenden Forderungen, geltend machen. Ist solch eine Machtfülle in den Händen eines Einzelnen nicht gefährlich? «Wer Macht hat, hat auch Gelegenheit zu Willkür. Ich dagegen habe dazu keine Möglichkeit, weil mir das Gesetz klare Parameter setzt.» Gut pariert, Herr Sachwalter. «Viele Fragen, die beim Nachlassverfahren der Swissair auftauchen, werden im Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz nicht schlüssig beantwortet. Deshalb ist der Ermessensspielraum gross», relativiert Johann-Christoph Rudin, Geschäftsführer der Schutzgemeinschaft der Investoren Schweiz (SIS), die rund 700 Swissair-Obligationäre mit einem Nennwert von 70 Millionen Franken vertritt.

Auch die Namenssuche der neuen Fluggesellschaft sorgt für Gesprächsstoff. «Wallpaper»-Herausgeber Tyler Brûlé ergatterte den Auftrag, die Airlinemarke zu gestalten. Seither verfolgt Wüthrich das Geschehen mit Sperberaugen. So wird der 32-Jährige, bekennender Swissair-Fan, wohlweislich seine Hände von der angestammten Bezeichnung lassen; nicht nur ist die Firmierung mit juristischen Problemen belastet, auch der dafür zu entrichtende Preis ist happig – Gutachter beziffern den Wert auf gegen 600 Millionen Franken. Falls Brûlé einen allzu ähnlichen Namen wählt, will Wüthrich einschreiten: «Dann lasse ich von Markenspezialisten prüfen, ob die neue Bezeichnung zulässig ist.»

Inzwischen ist der Sachwalter selbst unter Beschuss geraten. Auf seinen Antrag hin verfügte die Schweizer Börse SWX per Ende Januar die Dekotierung der Swissair-Aktien und Franken-Obligationen. «Es kann doch nicht die Funktion der Börse sein, derart spekulativen Wertpapieren eine Plattform zu bieten. Die Aktien sind nicht einmal mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt wurden.» Als weitere Gründe führt Wüthrich die geringeren Kosten sowie eine durch den Wegfall der Ad-hoc-Publizitätspflicht hervorgerufene Erleichterung des Nachlassverfahrens ins Feld. Dennoch hat Wüthrich insbesondere den Swissair-Kleinanlegern einen Bärendienst erwiesen. Das Abdrängen der Valoren in den ausserbörslichen Handel, so wird räsoniert, sei mit einem Verlust an Informationen verbunden. Dazu geselle sich eine in diesem Segment übliche grössere Spanne zwischen Geld- und Briefkursen.

Ein gerüttelt Mass an Ärger hervorgerufen hat auch Wüthrichs Informationspolitik, obwohl er Hotlines und eine Website einrichtete (www.sachwalter-swissair.ch). Für Hans-Jacob Heitz ist das zu wenig. «Der Infor- mationsfluss ist für die Gläubiger absolut unbefriedigend», kritisiert der Präsident der Schutzgemeinschaft Swissair. Von anderer Seite wird beanstandet, dass Anfragen nur verzögert oder gar nicht beantwortet würden. «Sobald man mehr Informationen verlangt, versteckt sich Wüthrich hinter dem Amtsgeheimnis», ärgert sich ein wichtiger Gläubiger.

Das Swissair-Mandat ist nicht überaus lohnend. In der Branche wird Wüthrichs Stundenhonorar auf 400 Franken geschätzt, bei lukrativen Aufträgen winkt dagegen bis doppelt so viel. Dafür ist das Mandat mit viel Prestigegewinn verbunden – und mit hohen Risiken. Wenn ein Gläubiger meint, die Tätigkeit des Sachwalters habe ihm einen finanziellen Schaden zugefügt, muss er den Kanton Zürich belangen. Dieser wiederum nimmt, ist die Klage berechtigt, Wüthrich in die Pflicht. Schliesslich aber müssen alle Partner bei Wenger Plattner zahlen; sie haften solidarisch mit ihrem Privatvermögen. Darob sind Anwaltskanzleien schon in Konkurs gesegelt.

Je länger sich das Nachlassverfahren hinzieht, desto mehr grummeln die Gläubiger. Zumal voraussichtlich frühestens in einem Jahr mit den ersten Auszahlungen begonnen wird. Da greifen gerade KMUs lieber zur Selbsthilfe. Beispielsweise die Bucher Leichtbau aus Fällanden, die auf 2500 Swissair-Trolleys sitzen blieb. Sachwalter Wüthrich gab grünes Licht für deren Verkauf an Private. Die Nachfrage ist riesig, der grösste Teil bereits abgesetzt. «Lassen sich auch die restlichen 1000 Trolleys verkaufen, kommen wir ohne Verlust davon», freut sich CEO Daniel Mettler.

Bei der Plumor aus St. Gallen geht es primär um Schadensbegrenzung. Das 50-Mann-Unternehmen, das einst über 250 Werbeartikel für Swissair und Sabena produzierte, klagt über offene Rechnungen im Betrag von mehreren Hunderttausend Franken, im Lager stünden bestellte Artikel für einige Millionen. Immerhin läuft der Verkauf ab Lager super. Allerdings hat Max Grunauer den Sachwalter vorher nicht orientiert. Nun argwöhnt der Firmeninhaber, dass Wüthrich «probieren dürfte, an dieses Geld zu gelangen. Er wird sich an uns die Zähne ausbeissen.»
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