Hans-Olaf Henkel, Präsident der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibnitz, stand sechs Jahre lang an der Spitze des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Das Recht auf Freiheit und der Wettbewerb in der Wirtschaft stehen für den Hanseaten im Mittelpunkt. Der frühere Europa-Chef von IBM hat sich in Deutschland einen Namen als scharfer Kritiker der Wirtschaftspolitik gemacht; er mischt sich ein, um auf seine Lösungsrezepte aufmerksam zu machen. Seit November 2000 lehrt Henkel als Honorarprofessor am Lehrstuhl für Internationales Management an der Universität Mannheim. 2000 veröffentlichte er den Bestseller «Die Macht der Freiheit»; letztes Jahr wurde sein Buch «Die Ethik des Erfolges» zum Verkaufsschlager.
BILANZ: Sie gelten als einer der schärfsten Kritiker der deutschen Reformunfähigkeit. Das geht so weit, dass man Sie fast als Nestbeschmutzer bezeichnen könnte. Aber wir glauben, diese Rolle gefällt Ihnen. Hans-Olaf Henkel: Nein, überhaupt nicht. Zum einen sind die Thesen, die ich vertrete, fast identisch mit denen, die auch von den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten und vom Sachverständigenrat vertreten werden. Daher befinde ich mich in guter Gesellschaft. Zum anderen gibt die Realität mir immer wieder Recht. Weshalb kommt Deutschland dennoch nicht aus dem Reformstau heraus? Verglichen mit den ersten Jahren nach der Wende, hat sich in den vergangenen sechs Jahren durchaus etwas bewegt. Zum Beispiel sind viele der Thesen, die ich seit Jahren vertrete, Allgemeingut geworden. Wurde ich früher vom «Spiegel» für meine Rezepte hart attackiert, verschreibt er sie heute selber. Ich habe mich gegen das unsinnige Tarifkartell, das es nur noch in Deutschland und Österreich gibt, ausgesprochen. Dieser Tage hat dann die rot-rote Regierung in Berlin beschlossen, aus dem Arbeitgeberverband auszutreten, was vor fünf Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Der zähe, lang andauernde Aufklärungsprozess trägt also doch erste Früchte. Mehr und mehr Menschen sind in Deutschland der Meinung, dass etwas geschehen muss. Wer trägt denn die Schuld, dass Deutschland zum «kranken Mann Europas» geworden ist, wie der «Economist» schreibt? Eine der Ursachen für die typisch deutsche Reformschwäche liegt in der Vergangenheit: Wir haben die zwölf Jahre Nazi-Terror nicht richtig verarbeitet. Wir tragen die Erbsünde noch immer mit uns herum. Selbst Menschen, die nach dem Krieg geboren wurden, fühlen sich schuldig und gehen den Konflikten aus dem Wege – das typische Konsensbestreben der Deutschen ist darin begründet. Ebenso der Drang, anderen Ländern angeblich höhere moralische Werte verkaufen zu wollen. Sie sehen das an der Mitbestimmung, die niemand haben will, an der unsinnigen nationalen Ökosteuer oder an der national-pazifistischen Aussenpolitik des deutschen Bundeskanzlers. Dabei unterstützen viele Opferländer der Nazi-Aggression die Amerikaner im Irak. Ist es auch eine Generationenfrage? Zum Teil ist es auch das. Ich glaube, dass die 68er in Deutschland einen grossen Schaden angerichtet haben. Das kann man am Ergebnis der Pisa-Studie am besten sehen. Und diese Generation wächst jetzt langsam aus und wird ersetzt durch junge Leute. Aber wie kann Deutschland denn den Weg aus dem Reformstau schaffen? Was wir brauchen, sind zwei Dinge. Zuerst echte Aufklärung über wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Verhältnisse. Dafür setze ich mich seit Jahren ein. Und es zeigt Wirkung, wie zum Beispiel die Silvesteransprache von Gerhard Schröder belegt. Er vollzieht fast eine totale Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik, gemessen an dem, was im erst zwei Monate alten rot-grünen Koalitionsvertrag steht. Für den Bewusstseinswandel sind auch die Medien eminent wichtig. Es gibt leider in Deutschland wie auch in der Schweiz einige wichtige, einflussreiche Produkte, die immer wieder einen Graben zwischen den Interessen der Wirtschaft und denen der Gesellschaft aufreissen. Dieser Graben existiert in anderen Ländern nicht. Klar, die Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts. Der zweite Punkt ist, dass wir die politischen Entscheidungsprozesse verändern und der Globalisierung, der Europäisierung und der Wiedervereinigung anpassen müssen. Aber Deutschland war früher eine wirtschaftliche Erfolgsstory, und das mit den gleichen Rahmenbedingungen wie heute. Viele meiner Kollegen und auch ich selbst haben seit Mitte der Achtzigerjahre vor dem heutigen Zustand gewarnt. Damals bin ich dafür sogar von einigen IBM-Kunden als Schwarzmaler getadelt worden. Es hat sich seither aber tatsächlich einiges schleichend verschlechtert, was die deutsche Gesellschaft gar nicht bemerkt hat – und vielleicht gilt das auch teilweise für die Schweiz –, denn für den Wettbewerb zwischen Nationen gilt das Gleiche wie für den Wettbewerb zwischen Unternehmen: Wenn sich ein Land nicht verändert oder nur langsam bewegt, kann es zurückfallen, weil andere schneller werden. Und wir haben in den vergangenen 15 Jahren wesentlich mehr Konkurrenz bekommen, ohne es richtig zu bemerken. Man kann also nicht alles der rot-grünen Regierung in die Schuhe schieben? Überhaupt nicht. Das habe ich auch nie gemacht. Mit Helmut Kohl hatte ich mindestens genauso viele Schwierigkeiten wie jetzt mit Gerhard Schröder. In seiner Neujahrsansprache hat Gerhard Schröder unter anderem angekündigt, steuerliche Begünstigungen für den Mittelstand einzuführen und Kürzungen bei den Sozialsystemen vorzunehmen. Sind Sie optimistisch, dass sich Schröder doch noch als Reformkanzler etablieren wird? Er hat oft solche Reden gehalten. Er versteht von Wirtschaft wesentlich mehr als sein Vorgänger. Er versteht auch die Nöte der kleinen, mittleren und grösseren Unternehmen. Enttäuschend ist, dass er bisher sein Wirtschafts- und Finanzwissen nicht kreativ eingesetzt hat. Er hat sich viel zu sehr von den Gewerkschaftsführern einwickeln lassen. Und sein grüner Koalitionspartner hat viele Postulate durchsetzen können, von denen er früher gar nicht überzeugt gewesen war, wie zum Beispiel der Atomausstieg oder die Ökosteuer. Schröder hat aber durchaus eine Chance, doch noch als Reformer in die Geschichte einzugehen: Wenn er den Vorschlag annimmt, einen Konvent für Deutschland einzuberufen. Ich mache mich seit langer Zeit dafür stark. Es ist doch längst bekannt, welche Reformen wir brauchen. Was wir jetzt brauchen, ist eine Reform der Reformfähigkeit. Der Konvent soll die Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen neu definieren. Er sollte die Frage klären, ob 16 Bundesländer nicht zu viel sind. Wir brauchen mehr Föderalismus und plebiszitäre Elemente, ähnlich wie in der Schweiz. Unsere Verfassung in Deutschland hat den Parteien zu viel, dem Bürger zu wenig Macht gegeben. Quer durch Europa gibt es noch ein anderes Problem, mit dem auch Deutschland zu kämpfen hat – das ist der Gegensatz zwischen sozialer und Leistungsgerechtigkeit. Trennt uns die Tatsache, dass die soziale Gerechtigkeit immer noch im Vordergrund steht, von den erfolgreichen Amerikanern und den immer erfolgreicher werdenden Asiaten? Dieses Problem existiert eigentlich nur noch in Frankreich und Deutschland. Es gibt tatsächlich einen unauflösbaren Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit. Es ist die Frage, wo man sich orientiert. Meine Orientierung ist: Der Freiheit sollte man immer den Vorrang geben, solange man nicht die Freiheitsrechte anderer einengt. In Deutschland hat man die Orientierung auf Gleichheit mit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit total übertrieben. Ich kenne zurzeit kein anderes Land auf der Welt, wo der Unterschied zwischen Arm und Reich so gering ist wie bei uns. 15 Prozent der Deutschen zahlen über 50 Prozent aller Einkommenssteuern. Von der deutschen Steuerpolitik hat im vergangenen Jahr übrigens vor allem die Schweiz profitiert. Wenn ich Schweizer wäre, würde ich Finanzminister Hans Eichel mit der Ehrenbürgerwürde auszeichnen. Es hat niemand so viel für Ihr Land in den letzten paar Monaten getan wie Herr Eichel mit seiner Steuerpolitik. Wie sieht Ihre Prognose für die Zukunft aus? Hat Europa eine faire Chance, annährend die wirtschaftlichen Verhältnisse der Amerikaner wieder zu erreichen, oder wird der Abstand immer grösser werden? Ich glaube, dass Europa eine Chance hat. Aber die drei Bremser Italien, Frankreich und Deutschland müssen sich auf die Socken machen. Die beste Chance ist eine weitere Europäisierung. Denn am meisten Schützenhilfe für unsere Programme und Ideen bekam ich aus Brüssel. Wer sagt denn den Deutschen, dass sie Wachstumsschlusslicht geworden sind? Die EU. Wer sieht den Finanzpolitikern auf die Finger in Bezug auf die Konvergenzkriterien? Die EU. Wer hat die internationalen Pisa-Benchmarkstudie veranlasst? Die OECD in Paris. All das wird dazu führen, dass Deutschland von aussen den Spiegel vorgehalten und schliesslich seine Probleme wieder in den Griff bekommt. Wir haben eine Chance, mit Amerika gleichzuziehen. Es gibt schon jetzt Länder in Europa, die den USA in einigen Bereichen voraus sind: Finnland und Schweden zum Beispiel. Wenn man jetzt aus jedem Land die besten Rezepte kombiniert, wären wir heute weit vorne. Wir müssen nur voneinander lernen – auch von der Schweiz. Die Einflüsse der US-Wirtschaft auf Europa sind nach wie vor sehr stark. Sind die Vereinigten Staaten zum Teil an der Misere in Europa schuld? Ich akzeptiere nicht, dass Deutschland oder die Schweiz die USA für die Konjunkturprobleme verantwortlich machen. In Deutschland jedenfalls ist das Problem nicht der Aussenhandel, sondern die Binnenwirtschaft. Wir haben einen Rekord-Aussenhandelsüberschuss, der einzig und allein der Tatsache zu verdanken ist, dass die Wirtschaft anderswo schneller wächst als bei uns. Andere kaufen bei uns mehr ein, während wir weniger von anderen kaufen. Unsere Importe sind zusammengebrochen, während unsere Exporte noch laufen. Darunter leidet besonders die Schweiz. Wenn die Konjunktur bei unseren Handelspartnern auch schlecht liefe – dann gnade uns Gott! Dabei möchte ich auch noch anmerken, dass die Schweiz besonders wichtig für den deutschen Aussenhandel ist. Die wenigsten Deutschen wissen, dass wir in die Schweiz mehr ausführen als nach Japan und China zusammen. Ich denke, das weiss der Bundeskanzler auch nicht. Deutsche Politiker geben sich in China die Klinke in die Hand und sehen da zwar zu Recht enormes Potenzial, aber die Schweiz ist unser neuntgrösster Kunde. Hierher liefern wir zweieinhalb mal so viel wie nach Russland. Die USA sehen sich, als grosse Wirtschaftsmacht, immer wieder dazu berufen, überall auf der Welt als schnelle Einsatztruppe einzugreifen. Besteht nicht die Gefahr, dass sich Amerika damit übernimmt? Diese Gefahr sehe ich durchaus, aber weniger in der Aussen- und Sicherheits- als in der Wirtschaftspolitik. Einige Entscheidungen und Handlungen der USA sind ärgerlich. Zum Beispiel, dass Bush das Kyoto-Protokoll nicht unterzeichnet. Noch mehr ärgert es mich zu sehen, mit welcher Brutalität er Strafzölle auf Stahlimporte nach Amerika eingeführt hat, obwohl Korea, Japan und Europa völlig unschuldig daran sind. Es liegt an der mangelnden Restrukturierung der amerikanischen Stahlindustrie. Das lässt sich Brüssel nicht gefallen. Asien ist fast unbemerkt nach vorne gerückt, die Asienkrise wurde gut überwunden, und jetzt läuft es wieder in Südostasien. Wo sehen Sie zurzeit die grössten Chancen der asiatischen Emerging Markets? Über China und Ostasien redet zurzeit jeder. Relativ wenig geredet wird über Indien. Das ist ein interessanter Markt mit inzwischen über einer Milliarde Menschen. Etwa im Jahr 2020 wird Indien China in der Bevölkerungszahl überholen. Das Interessante ist, dass es in Indien eine stark wachsende, relativ kaufkräftige Mittelschicht gibt. Und wenn Sie allein diese Gruppe betrachten, kann das ein Vielfaches der Schweiz werden. Ich kann nur jedem weltweit tätigen Unternehmen raten, sich Indien mal genauer anzuschauen. Einigen Schweizer Unternehmen muss man das nicht sagen, die wissen das. Nestlé zum Beispiel ist dort fantastisch aufgestellt. Wie lautet Ihre Empfehlung für die Schweiz? Welches Modell macht Sinn? Soll die Schweiz ihr Inseldasein beibehalten, quasi als Hongkong Europas, oder sollten wir uns immer weiter der EU öffnen? Ich wäre als Schweizer ein glühender Verfechter für einen Beitritt in die Europäische Union. Ein Hongkong innerhalb Europas wird sich nicht lange halten. Seit dem Zusammenschluss mit der Volksrepublik gibt es das ja auch nicht mehr. Singapur ist als Negativbeispiel viel relevanter. Jahrelange Selbstzufriedenheit führt zu Arroganz und Abschottung. Jetzt ist die Krise da, und die Schweiz braucht mehr Weltoffenheit. Ich bin ein Verfechter der Globalisierung, die ja eben nicht nur Wirtschaftsgüter, Reichtum und Arbeitsplätze schafft, sondern besonders auch den Austausch von Kulturen und Werten ermöglicht. Die Globalisierung hat nicht nur Coca-Cola und Ovomaltine um die Welt gebracht, sondern auch die Menschenrechte und die Demokratie. Die Schweiz braucht Europa, aber Europa braucht auch den gesunden Menschenverstand der Schweizer, die Erfahrung mit dem Föderalismus, die Bürgerbezogenheit, das Vorbild, mit relativ schwachen Parteien und starken Bürgern auszukommen. Die Schweiz könnte deshalb ein gutes Vorbild für andere europäische Länder sein. Ich vermisse manchmal diesen gesunden Menschenverstand der Schweiz in den europäischen Gremien und bei den vielen EU-Gipfeltreffen.
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