«Haben Sie eigentlich schon mal vom Skandal gehört?», fragt Anders Ahlqvist, der Mann mit der Fliege, der sich ein echter Nobel nennen darf.
«Natürlich nicht.»

Wie sollte man auch?

Aber kommt die Frage wirklich überraschend? In den besten Familien gibt es Skandale. Tiefgrün sind die Wiesen an diesem Nachmittag auf dem schwedischen Lande, der Himmel ist hellblau, Stimmen glucksen im Garten, Gelächter, ein Gläschen Aquavit gefällig?

Zum ersten Mal seit bald sechs Jahren hat sich der Clan getroffen. Am Vorabend haben sich die Mitglieder zum feinen Essen in einem Restaurant auf der Stockholm vorgelagerten Insel Fjäderholmarna eingefunden, nun sind sie nahe Skokloter, sechzig Kilometer nordwestlich der Hauptstadt, versammelt. 350 Mitglieder zählt die Familie. 85 sind diesmal gekommen, allesamt Nachfahren von Ludvig oder Robert Nobel. Deren Bruder Alfred Nobel, der Berühmteste unter ihnen, war unverheiratet und kinderlos geblieben. Er hatte dem Namen erst als Unternehmer, dann als Mäzen zu Glanz verholfen. Bei seinem Tod, 1896, hatte der Erfinder des Dynamits ein immenses Vermögen hinterlassen, das nach seinem letzten Willen in eine Stiftung einfloss und den Grundstock für die Nobelpreise bildete. In seinem Testament verfügte Alfred Nobel, dass sein Erbe in Festgeld anzulegen sei, damit die Zinsen als Preise «denen zuerteilt werden, die im verflossenen Jahr der Menschheit den grössten Nutzen geleistet haben».

Rund 30 Millionen schwedische Kronen vermachte der global tätige Sprengstoffhersteller, Ingenieur und Erfinder Alfred Nobel den Wissenschaften. Innerhalb eines Jahrhunderts wuchs die Summe auf 3,9 Milliarden schwedische Kronen an, rund 700 Millionen Franken. Daraus werden die fünf Preise auf den Gebieten der Physik, der Chemie, der Physiologie oder der Medizin, der Literatur und «für die Verbrüderung der Völker» gespeist. Eine Million Franken wert ist jede der Anerkennungen, die an Alfred Nobels Todestag, am 10. Dezember, in Stockholm den Laureaten mit viel Pomp übergeben werden. Reichlich Geld und ewig Ehre für die Wissenschaft.

Diesmal wird alles noch feierlicher vonstatten gehen. Das Zeremoniell steht zum hundertsten Mal an. Hundertmal der jeweilige schwedische König als Überbringer. Für die Familie Nobel sind in den besten Reihen zwanzig Plätze reserviert. Beim Galadiner werden acht ihrer Vertreter dabei sein dürfen. Michael Nobel, Präsident des Familienrates, und seine Gattin werden wie immer in den letzten fünf Jahren am Tisch des Königs sitzen. Michael Nobels sprühender Intellekt wird die Nachbarn vielleicht an die überlieferte Figur Alfred Nobels erinnern. Sicherlich jedoch wird Michael Nobel die Tafel des Königs veredeln: mit seinem blossen Namen. Und er wird der einzige Schweizer am Tisch sein.

Dynamit, Öl und Geschichte
«Ist das ein Skandal? Ein Schweizer unter den Nobels?»
«Wo denken Sie hin? Dass Michael in Lausanne lebt, ist doch in Ordnung. Es geht hier um etwas anderes», sagt Anders Ahlqvist, Nachfahre Robert Nobels, Finne und im westirischen Galway als Professor für gälische Sprache lehrend. Der Mann mit der Fliege hält sein Glas mit fester Hand und blickt den Fragenden leicht bemitleidend an.

In diesem Familienlied schwingt ein kosmopolitischer Unterton mit. Drei Schritte von Ahlqvist entfernt steht der ebenfalls dem Familienzweig Robert Nobels angehörende John Hylton. Er lebt mit seiner Familie in Toronto, Kanada, und unterrichtet als Professor Medienwissenschaften. An einem Holztisch nicht weit entfernt sitzt das Ehepaar Eva und Jan Langenskiöld, das am Zürichsee lebt.

Die Zürcher Nobels sind mit dem eigenen Auto den weiten Weg gefahren und werden einige Ferientage weiter nördlich anhängen. Eben hat sie Beate Bosson, geborene Hógfeldt und ebenfalls eine Nobel, empfangen. Die herausgeputzte Gastgeberin bewirtet ihre finnischen, kanadischen, schwedischen und Schweizer Verwandten an diesem Nachmittag in ihrem prächtigen Landhaus Nyborg Gård. Michael Nobel begutachtet die von weither angereiste Gemeinde, die sich am Buffet gütlich tut. Der Kopf der Familie ist via Genf und Zürich eingeflogen. Er sagt: «Ich bin 1970 in die Schweiz gekommen und habe 1979 in Lausanne doktoriert.» In der Waadt lebt er noch heute. Dort hat er einst Psychopädagogik studiert und anschliessend in der Drogenprävention gearbeitet. Später hat er eine neuartige Methode der Kernspintomografie Schritt für Schritt zur Marktreife gebracht und zum Schluss über die Firma Fonar Inter zu veräussern begonnen. Mit dem Verkauf von Technik für die medizinische Diagnostik hat er bis heute nicht zu knapp verdient. In fünf ähnlichen Unternehmen sitzt er mittlerweile im Verwaltungsrat. «Ich bin ein Selfmademan», sagt der 61-Jährige von sich. Seine Eltern waren nicht reich, aber auch nicht arm. «Solid», sagt Michael Nobel. Wie die meisten der Nobel-Sippe.

Es gab Zeiten, da war dies anders. Nachdem Alfred Nobels Testament erfüllt und all sein Besitz – die Dynamit- und Sprengstofffabriken in zwanzig Ländern – verkauft worden war, besassen die Nobels über die Familienzweige Roberts und Ludvigs in Russland weite Ländereien, eine riesige Fabrikanlage in Sankt Petersburg und sprudelnde Ölfelder in Baku im heutigen Aserbaidschan. Die russische Revolution und die einsetzenden Enteignungen liessen diese Quellen des familiären Wohlstands jedoch versiegen. 1917 kamen die Bolschewiken und das Ende aller nobelschen Pracht.

Der Abstieg
«Wenn Sie vom Skandal sprechen, meinen Sie den verlorenen Familienreichtum?»
«Wo denken Sie hin?» Anders Ahlqvist, der Mann mit der Fliege, schüttelt den Kopf und sagt: «Russland interessiert mich nicht mehr. Das ist kein Skandal.»

Diese Familie hat sich daran gewöhnt, dass sie nicht mehr zum europäischen Geldadel gehört. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Nobels noch die Rockefellers Europas. Mit ihren ab 1875 durch Rothschild-Gelder mitgetragenen Ölunternehmen konkurrierten sie direkt mit den Amerikanern von Standard Oil. Lange Zeit waren sie den Wettbewerbern eine Nase voraus, vor allem dank ihrem Erfindergeist. Die Nobels bauten beispielsweise die erste Ölpipeline ausserhalb der USA (1877). Und sie konstruierten im gleichen Jahr mit der «Zoroaster» den ersten Öltanker der Geschichte.

Dabei begann die heute selbst in Schweden in Vergessenheit geratene Geschichte mit dem nobelschen Öl mehr oder weniger zufällig. Alfreds Bruder Robert Nobel und seine Reise 1873 in den Kaukasus waren schuld. Der dritte Nobel im Bunde, Waffenfabrikbesitzer Ludvig, hatte Robert von Sankt Petersburg aus auf die Reise geschickt, weil ein Auftrag für 200 000 Gewehre eingetroffen war und es deshalb das bei Baku angeblich reichlich vorhandene Wahlnussholz für die Schäfte zu beschaffen galt. Statt Holz fand Robert Öl und das Nobel-Trio den Geldsegen.

Jeder Bruder für sich war ungewöhnlich erfolgreich: Alfred Nobel handelte mit seinen Sprengstoffen und lebte in Paris und San Remo, Ludvig baute Waffen, Unterwasserminen etwa, in Sankt Petersburg, und Robert förderte in Baku zusammen mit Ludvig das schwarze Gold. Wäre der vierte Bruder nicht in jungen Jahren bei einer Explosion eines Dynamitwerks ums Leben gekommen, er hätte wahrscheinlich auch ein Gewinn bringendes Geschäft für sich entdeckt. Die Nobel-Brüder verbanden Abenteuer, Wissensdurst, Arbeitseifer und Geschäftssinn aufs Beste. Sie waren lebende Legenden ihrer Zeit.

«Alles Vergangenheit», sagt Michael Nobel an diesem Nachmittag auf dem schwedischen Lande. Ludvig Nobels Urenkel nimmt kein Blatt vor den Mund. «Heute sind wir nicht mehr als verarmter Mittelstand.» Schwedische Schulbücher erzählen zwar die Geschichte von Alfred Nobel, dem Dynamit und dem Nobelpreis, doch das Öl in Baku oder die Historie im zaristischen Russland vergessen sie. Entsprechend ist die aktuelle gesellschaftliche Bedeutung der Sippe. Sie hat kein Mitspracherecht bei der Vergabe des Nobelpreises. «Der Einfluss ist gleich null», sagt Michael Nobel. Dies divergiert sonderbar mit dem Wert des Namens als Marke. Nobel ist weltbekannt.

Die Bank von Schweden
«Ist das der Skandal? Der Wert der Marke und die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit der Familie?»
Anders Ahlqvist nickt. «Jetzt kommen Sie langsam zum Kern der Sache», sagt er.

Die Familie Nobel erhält Jahr für Jahr mehrere Anfragen, die auf das Verwenden ihres Namens abzielen. Mal ist ein Pizzabäcker aus Finnland am Telefon, mal ein preisverliebtes Komitee aus den USA. Immer geht es um die Marke. «In Schweden sind wir nicht hoch im Kurs. Aber im Ausland reisst man sich um uns», sagt Michael Nobel. Er selber dient als gutes Beispiel. In mehr als dreizehn Verwaltungsräten ist der Lausanner inzwischen aktiv – und er verschweigt nicht, dass ihm manchmal sein Name behilflich gewesen sei. «Die Marke Nobel ist ein magischer Name», sagt der Philanthrop. Sie verhilft ihm heute – zusammen mit der selbst erarbeiteten finanziellen Unabhängigkeit – zur Freiheit, Gutes tun zu dürfen.

«Ich setze mich heute für neue Dinge ein, die der Welt nützen sollen. Ich will nicht Kaffeebohnen verkaufen und damit Geld verdienen, ich will nur helfen.» Mit Andreas Reinhart, dem Eigentümer der Winterthurer Handelsfirma Volkart, ist er bis vor kurzem in der Non-Violence Project Foundation in Zürich engagiert gewesen und setzt sich für Konfliktlösungsprogramme ein. Oft ist er in Indien und in Russland unterwegs und macht Werbung für die WorldSpace Corp., eine Firma, die sich auf Datenübertragung via eigenen Satelliten spezialisiert und in deren Board Nobel sitzt. Freie Information für alle Menschen, heisst das Ziel. Für ein in Salt Lake City domiziliertes Unternehmen, das Maschinen zur Krebsbehandlung herstellt, wirbt er in Skandinavien und in der Schweiz. Schliesslich ist er im Vorstand des «World Sports Forum» aktiv, das in Lausanne einmal jährlich Sportler, Sportartikelhersteller, Mediziner, Medienspezialisten oder Finanzexperten zu einem interdisziplinären Kongress zusammenführt.

Doch nicht alle, die den Brand Nobel im Namen tragen, haben noble Absichten. Der Markenklau sei weit verbreitet, wissen die Nobels zu erzählen. «Dagegen können wir kaum etwas unternehmen», sagt Michael Nobel. Kaum zur Wehr gesetzt hatte sich die Familie 1967, als die Bank von Schweden ihren dreihundertsten Geburtstag veredeln wollte und deshalb einen Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften stiftete.

«Genau, das ist der Punkt! Die Bank von Schweden hat den Nobelpreis gekauft. Verstehen Sie: gekauft! Das ist der Skandal», ruft Anders Ahlqvist aus und beginnt zu gestikulieren.

Michael Nobel lächelt verständnisvoll: «Die Nachfahren Ludvig Nobels, unser finnischer Zweig, haben stets hart gegen diesen neuen Preis angekämpft. Sie tun es noch heute. Ich weiss aber, dass dem Ganzen kein Deal zwischen Familie und Bank vorausgegangen war. Es ist kein Geld zwischen der Bank und den Nobels geflossen. Wir haben den Namen nicht verkauft.» Mit seiner persönlichen Meinung hält der Clan-Chef bewusst zurück, auch wenn er sagt: «Es besteht immer die Gefahr einer Verwässerung des Namens.»

Für Anders Ahlqvist hingegen ist es eine Sache der Ehre. Auch wenn dieser «Skandal» genau genommen keiner ist. Der sechste «Nobelpreis» trägt einen Namen, der nur halb so viel wert ist wie ein «echter Nobel»: «Es hat nur zu einem ‹The Bank of Sweden Price in Economics in Memory of Alfred Nobel› gereicht», sagt Anders Ahlqvist. Süffisant fügt er an: «Merken Sie den feinen Unterschied?»

Michael Nobel hört es und lächelt. So ist es immer an diesen Treffen. Familiär, von erregt bis heiter. Noch ein Aquavit gefällig?
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