James B. Twitchell, Professor für Werbewissenschaften und englische Literatur an der University of Florida, ist ein Vertreter der radikalen Pro-Konsum-Fraktion. Sein Kredo: Wir konsumieren nicht deshalb, weil wir von der Werbung manipuliert werden, sondern weil wir es gerne tun und wir uns über den Verbrauch bestimmter Güter und Dienstleistungen definieren. Nicht Religion, Abstammung oder Sprache, sondern universelle Konventionen wie Werbung, Verpackung, Markennamen und Mode bilden den Wert spendenden Kitt, der die Welt zusammenhält. Materialismus bedeutet für Twitchell in erster Linie Sinnsuche. Luxuskonsum deutet er als Kunstwerk und als einen hochkreativen Akt. Seine provozierenden Thesen hat der 59-Jährige in zahlreichen Publikationen dargelegt. Sein neuestes Werk trägt den Titel «Living It Up: Our Love Affair with Luxury» (Columbia University Press, 2002).
BILANZ: Welchen Luxus haben Sie sich zuletzt geleistet? James Twitchell: (denkt lange nach) Ich weiss nicht mehr. Vielleicht eine Tasse Kaffee (lacht). In meinem Alter schenkt man den Geschichten, die uns der Luxus erzählt, keine so grosse Beachtung mehr. Sie gelten als einer der führenden Luxusexperten und machen sich persönlich gar nichts daraus? Es sind nicht Leute in meinem Alter, die Produkte von Gucci und Prada nachfragen, sondern Individuen wie meine achtzehnjährige Tochter. In dieser Altersgruppe weiss man über Luxusgüter und die entsprechenden Marken am besten Bescheid. Wie lässt sich das erklären? Junge Menschen sind für fantastische Geschichten und Träume am empfänglichsten. Märchen aus der Kindheit werden in diesem Lebensabschnitt durch kommerzielle Werbebotschaften ersetzt. Ergo kaufen die jungen Leute – wenn auch erst in bescheidenem Umfang – die beworbenen Markenprodukte. Wenn sie erst einmal dreissig oder vierzig Jahre alt sind und über ein grösseres Einkommen verfügen, bleiben sie oftmals dabei. Erst wenn man, so wie ich, die Lebensmitte bereits hinter sich hat, wird man den Versprechungen der Werbeindustrie gegenüber etwas misstrauisch und fühlt sich womöglich sogar zu einem einfacheren, weniger konsumorientierten Lebensstil hingezogen. Und schliesslich die Sechzig- und Siebzigjährigen: In dieser Altersgruppe wird nicht selten überhaupt nichts Überflüssiges mehr konsumiert. Was für ein Auto fahren Sie? Einen gebrauchten BMW. Haben wir vor Ihrem Haus nicht einen nagelneuen Audi A8 stehen sehen? Der gehört meiner Frau. Sie macht sich mehr aus Autos als ich. Als Jus-Professorin bewegt sie sich auch in einer ganz anderen sozialen Vergleichsgruppe. Was signalisiert ein Amerikaner, der eine deutsche Automarke bevorzugt? Er signalisiert Qualitäts- und Markenbewusstsein. Sonst könnte er ja genauso gut irgendein billigeres Standardvehikel – etwa einen japanischen Honda – fahren. Die Botschaft eines BMW- oder Audi-Halters lautet: Gib Acht, ich fahre ein Luxusauto! Jede noch so teure Karosse lässt sich mieten. Über die soziale Stellung einer Person sagt der Wagen, in dem jemand sitzt, kaum etwas aus. Früher pflegten sich die Menschen über ihre Herkunft, ihre Religion oder den Beruf zu positionieren. In einer heterogenen und sehr mobilen Gesellschaft wie derjenigen der USA schenkt man solch historischen Unterscheidungsmerkmalen nicht mehr viel Aufmerksamkeit. Was jemand konsumiert, erfährt heute eine höhere Beachtung als das, was jemand ist oder was er tut. Luxus als Statussymbol: Ist es das, wonach alle streben? Ja. Luxus liegt nur teilweise in der realen Gestalt und den Eigenschaften der Dinge begründet. Wichtiger sind die Wahrnehmung, die Geschichte, die wir mit einem bestimmten Objekt assoziieren. Mit anderen Worten befriedigt der Konsum teurer Güter nur das Bedürfnis nach Anerkennung. Die meisten Menschen in den westlichen Industriestaaten konsumieren weniger aus Notwendigkeit als vielmehr aus dem Verlangen nach individuellem Ausdruck. Bei der Befriedigung dieses Verlangens kreieren und rekreieren sie ihre Persönlichkeit durch bestimmte Objekte. Allein dieser Vorgang verleiht dem Luxus eine solche Macht. Würden Sie dieses Verhalten als rational bezeichnen? Nein. Im Grunde zeugt es von Stupidität, um jeden Preis eine Prada-Handtasche besitzen zu wollen. Wenn es unserem Selbstwertgefühl schmeichelt, sind wir demnach bereit, für bestimmte Güter und Dienstleistungen stark überhöhte Preise zu bezahlen. Warum sind wir für Werbebotschaften so empfänglich? Alle Menschen suchen nach Sinn. Und sie folgen jedem, der ihnen Sinn verspricht. Sei es ein islamischer Fundamentalist, der sagt: Wenn du ein Flugzeug in diesen Turm steuerst, kommst du in den Himmel. Oder McDonald’s, der mit dem Versprechen lockt: Dieser Fleischklops bringt deinen Hunger zum Verschwinden. Lässt sich das wirklich vergleichen? Was gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts geschah, ist doch das: Die führenden Sinngeber haben begonnen, ihre Versprechen an bestimmte Objekte zu binden. Warum sollte dieses Verhalten abwegig sein? Den Versuch vieler Menschen, im Familienstammbaum oder in der Religion ihrer Vorfahren Sinn zu finden, halte ich für nicht weniger irrational. In welchem Verhältnis zueinander stehen Materialismus und Spiritualität? Den Kampf gegen materialistisches Denken hat die Spiritualität historisch betrachtet immer verloren. Die Kultur der Objekte hat es stets geschafft, die Kultur des Geistes zur Seite zu schieben. Das ist auch der Grund, weshalb sich die amerikanische Warenkultur so schnell über den Globus ausbreiten konnte. Welche Volksgruppe konsumiert derzeit am meisten Luxusgüter? Es sind nicht die Amerikaner und auch nicht die Europäer. 40 Prozent der abgesetzten Luxuswaren werden heute bezeichnenderweise von Asiaten nachgefragt. Warum, glauben Sie, stösst die amerikanische Konsumkultur vor allem im Islam auf Ablehnung? Selbst die Selbstmordattentäter vom September 2001, die uns vielleicht als Wahnsinnige erscheinen mögen, waren mit ihren Fantasien genauso tief in der materiellen Welt verwurzelt, wie wir es alle sind. Sie glaubten an Geschichten, wie sie in materiell weniger entwickelten Kulturen verbreitet sind – Geschichten, die sich auf eine Welt nach dem Tod beziehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die World-Trade-Center-Attentäter eine Vorstellung davon hatten, wie viele Pfund Gold und wie viele schwarzäugige Jungfrauen sie nach ihrer Tat im Himmel erwarten würden. Wollen Sie etwa behaupten, die Flugzeugentführer hätten aus verkappt materiellen und nicht aus politischen Beweggründen gehandelt? Dass die Welt besser und gerechter wäre, wenn alle Menschen der gleichen Religion anhängen würden, ist eine schöne Vorstellung. Nur scheint diese Vorstellung nicht realistisch zu sein. Auch wäre es schön und würde unser Dasein um vieles sicherer machen, wenn alle Menschen dieselben politischen und philosophischen Überzeugungen hätten und sich zudem an demokratische Spielregeln hielten. Auch damit scheint es jedoch nicht zu klappen. Was wir hingegen weltweit teilen, ist seltsamerweise eine Vorstellung davon, wofür BMW oder Gucci steht. Sie glauben doch nicht, dass das Wissen um bestimmte Handelsmarken zur Verständigung zwischen den Völkern beiträgt? Wer weiss, vielleicht führen gemeinsame Vorstellungen über einen Brand wie Nike am Ende sogar zu einer besseren und faireren Gesellschaft als divergierende Fantasien und Konzepte bezüglich eines Lebens nach dem Tod. Das Schreckliche an fixen Konzepten und Denkschemen ist doch, dass diese oftmals so mächtig werden, dass wir uns dafür gegenseitig umbringen. Nach dem Motto: Mein Gott ist besser als dein Gott. Wäre es da nicht sinnvoller, den Spannungen im Nahen Osten mit dem Bau von Einkaufszentren zu begegnen, anstatt die Zivilbevölkerung zu bombardieren? Ja, sicher. Natürlich wäre es von Vorteil, wenn wir uns alle mehr Gedanken darüber machen würden, was in einem Big Mac, und weniger, was in einer Napalmbombe steckt. Sie scheinen Freiheit in erster Linie als die Chance zu begreifen, konsumieren zu können, was das Herz begehrt. Ist diese Haltung angesichts der herrschenden Vermögensverteilung nicht zynisch? In der modernen Warenwelt sind die Armen zweifach benachteiligt: erstens, weil ihnen das Geld fehlt, um sich all die schönen Dinge zu kaufen. Und zweitens, weil es ihnen folglich auch nicht vergönnt ist, an den Fantasien und Träumen teilzuhaben, die mit dem Konsum verbunden sind. Immerhin halte ich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mittelloser zu Geld kommt, für wesentlich grösser, als dass jemand, der wegen seiner Abstammung oder Hautfarbe ausgegrenzt wird, von der Gesellschaft akzeptiert wird. Ist die These, dass sich der Konsum homogener Güter integrativ auswirkt, nicht etwas gewagt? Zugegeben: Das ist ein sehr oberflächlicher, völlig unhistorischer Weg, Gemeinsamkeit zu erzeugen. Aber ich halte ihn für aussichtsreicher und letztlich auch für gerechter. Wer kein Geld hat, steht in jedem Wirtschaftssystem am Rand. In einer materialistisch orientierten Welt haben Minderprivilegierte jedoch bessere Chancen aufzusteigen. Um auf eine persönlichere Ebene zurückzukommen: Was unterscheidet Sie von Ihrem Nachbarn? Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, womit sich mein Nachbar den ganzen Tag über beschäftigt. Auf seiner Visitenkarte steht zwar «Chief Financial Officer» – aber was mag das schon bedeuten? Über seine Tätigkeit kann ich nichts Genaues sagen, aber ich weiss ganz genau, dass er einen Cadillac fährt und seinen letzten Urlaub in Frankreich verbracht hat. Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass das, was Sie sehen, seinen Vermögensstand adäquat widerspiegelt? Man kann einen Cadillac ja mieten, einen Swimmingpool auf Pump erstellen und – wenn es denn sein muss – sogar eine Luxusjacht leasen. An diesem Punkt wird der Konsum zu einem kreativen Akt. Die Frage ist, ob jemand fähig ist, dies alles in einer so kohärenten Art und Weise zu tun, dass der zur Schau getragene Lifestyle vom sozialen Umfeld auch in der gewünschten Weise decodiert wird. Selbst sündhaft teure Edelmarken unterliegen heute der Massenproduktion. Wirkt der Versuch, sich mit Luxusgütern vom Durchschnitt abzuheben, unter diesen Bedingungen nicht zunehmend plump? Donald Trump ist ein gutes Beispiel hierfür. Auf Grund seiner Prunksucht ist er in den USA zu einer Witzfigur geworden; ein lächerlicher Kerl, der sich beim Volk keine Anerkennung verschaffen konnte, sondern mit seinen Konsumexzessen zu einer Zielscheibe öffentlichen Gespötts geworden ist. In konjunkturellen Schwächephasen besinnen sich viele Menschen auf ihre wahren Bedürfnisse zurück. Gehören die Luxusexzesse, wie sie während des Börsenbooms zu beobachten waren, der Vergangenheit an? Das bezweifle ich. Luxus ist nicht an die Materie gebunden. Luxus besteht aus Geschichten, die auch ausserhalb der Objektwelt existieren. Zweifellos machen Firmen wie DaimlerChrysler oder Louis Vuitton in einer Rezession weniger Umsatz. Das heisst aber nicht, dass die Konsumenten das Interesse an den Träumen verloren hätten, die deren Produkte umgeben. Eine Rückbesinnung zum Unprätentiösen erkennen Sie nicht? Die Frage ist doch: Warum besinnen wir uns nicht auf Rousseaus glücklichen Menschen zurück, leben in der freien Natur, schreiben den ganzen Tag Gedichte und lesen sie uns gegenseitig vor? Aus diversen Gründen tun wir das offenbar lieber nicht und trinken stattdessen Kaffee bei Starbucks. Dass LVMH oder Gucci in einer Rezession weniger Schals verkaufen, ändert nichts an der Tatsache, dass die Menschen nach wie vor an Luxus und dem damit verbundenen Lebensgefühl interessiert sind.
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