BILANZ: Barclays muss es derzeit wirklich gut gehen. Das einzige Skandälchen, das in der Branche herumgereicht wird, ist, dass fünf Ihrer Investment-Banker zu viel für ein Mittagessen ausgaben und deshalb gefeuert wurden.
Hans-Jörg Rudloff:
Sie haben die Bank verlassen, weil sie mehr als 60 000 Dollar für ein Mittagessen mit den entsprechenden Weinen ausgegeben haben.

Auf Spesen?
Nein, sie haben die Rechnung aus der eigenen Tasche bezahlt. Dennoch: Solches Verhalten ist unpassend.

Inwiefern?
Es entspricht nicht dem Bild, das Barclays nach innen und nach aussen vermitteln will. Wie soll ich vor den Kunden hinstehen, der vielleicht mit jedem Rappen rechnen muss? Wie soll ich vor die Mitarbeiter hinstehen? Die Barclays hat unzählige Mitarbeiter, die weniger im Jahr verdienen, als diese fünf für ein einziges Mittagessen ausgaben.

Ihr früherer Arbeitgeber, die Credit Suisse First Boston (CSFB) , hat gravierendere Skandale zu gewärtigen: Verluste wegen zu hoher Risiken, Untersuchungen wegen fraglicher IPO-Geschäfte und so weiter. Was macht Barclays besser als die CSFB?
Wir versuchen, unser Geschäft ohne jegliche Exzesse zu betreiben. Wir haben ganz normale Leute, zahlen normale Gehälter, haben erstklassige Risikokontrollen und versuchen, konstant Disziplin zu wahren. Das heisst noch lange nicht, dass bei uns die Leute nicht gut verdienen können. Aber wie gesagt: Wir vermeiden Extreme.

Bei CSFB ist das anders?
Garantierte Compensation-Packages, individuell ausgerichtete Verträge, das Engagieren von ganzen Teams mit Gewinnbeteiligung und so weiter haben in der gesamten Industrie die Gegebenheiten verändert, wahrscheinlich auch bei der CSFB.

Sind hohe Boni denn schädlich?
Falsche Kompensationssysteme schaffen falsche Anreize und erschweren die Leitung einer Firma. Ein Trader beispielsweise, der rein auf Rechnung der Bank arbeitet, wird bei einer direkten Resultatsbelohnung – auf welche Art auch immer – versuchen, höhere Gewinne zu erzielen. Das bedeutet per definitionem, höhere Risiken einzugehen. Der Schaden solcher spekulativen Engagements kommt meistens später und wird nur von der Firma getragen. Unbedachte Bankmanager sind reihenweise auf solche Finanzalchimisten hereingefallen in ihrer Sucht, die Finanzresultate der Firma über Nacht zu verbessern.

Ein Argument gegen den heutigen CS-Chef Lukas Mühlemann, der als Ex-McKinsey-Berater kein Bankenmann ist?
Ich will mich zu einzelnen Personen nicht äussern, aber im Investment-Banking der Credit Suisse Group hat es einen Führungswechsel gegeben, von Allen Wheat zu John Mack, der von Morgan Stanley kommt und das Geschäft ausserordentlich gut kennt.

Noch heute gibt es CS-intern Leute, die sagen, man hätte First Boston nie kaufen dürfen.
Auch ich war gegen den Kauf. Der damalige CS-Chef Rainer Gut hat die Übernahme gegen den Widerstand einer ganzen Reihe von Leuten durchgepaukt. Heute würde ich sagen: Wir hatten beide Recht.

Inwiefern?
Er in dem Sinne, dass er früher als alle anderen Europäer erkannt hat, dass eine Präsenz in Amerika eine absolute Notwendigkeit ist. Mit First Boston ist die CS Group heute die einzige europäische Bank, die in Amerika im Investment-Banking auf erstklassige Weise vertreten ist. Ich in dem Sinne, dass die Kultur und das Geschäftsgebaren der First Boston mit der CS nicht zu vereinbaren waren. Unglückliche Personalentscheidungen wie der Verlust von Topleuten wie Archibald Cox und Roger Diamond haben dann zu den Entwicklungen geführt, auf die Sie anspielen. Diese Leute vertraten die Morgan-Stanley-Kultur, die sehr gut zur CSFB gepasst hätte.

Was heisst «Morgan-Stanley-Kultur»?
Langfristige Orientierung, kundenbezogen, vorsichtig und einer starken Geschäftsethik verbunden. Selten sehen Sie Morgan Stanley in einen Skandal verwickelt.

Sie sind nicht nur Banker, sondern auch Vizepräsident des Schweizer Pharmagiganten Novartis. Wann schnappt ihr euch den Lokalrivalen Roche?
Strategische Überlegungen sind Sache des Präsidenten und der Geschäftsleitung. Die Eckpunkte und Zielsetzungen solcher Überlegungen werden auch mit dem Verwaltungsrat diskutiert und eingehend besprochen. Die Geschäftsleitung würde ihrer Aufgabe nicht nachkommen, wenn sie das Industrieumfeld nicht konstant auf eventuelle Möglichkeiten von Take-overs oder Mergers untersuchen würde. Irgendeine Fixierung auf Roche besteht daher nicht.

Marktbeobachter sehen das anders. An der Börse wird gemunkelt, Novartis sei daran, den Anteil an Roche von 21 auf 30 Prozent aufzustocken. Londoner Banken sollen helfen und Sie persönlich dafür die Drehscheibe sein.
Ob Londoner Banken der Novartis in irgendeiner Weise beistehen, entzieht sich meiner Kenntnis. Das Einzige, was ich betonen kann, ist, dass Barclays sich nicht unter diesen Banken befindet. An der Schweizer Börse werden allerdings pausenlos Gerüchte verbreitet, die Suppe wird so am Kochen gehalten. Dies liegt vor allen Dingen im Interesse der dort wirkenden Akteure. Die dominierende Besitzerfamilie hat ihren Standpunkt klar dargelegt, die Novartis hat die Höhe ihrer Beteiligung bekannt gegeben, der Präsident die Rationaliät des Investments begründet – dem gibt es nichts beizufügen.

Die Roche-Besitzerfamilie stemmt sich gegen ein Zusammengehen. Aber liegt der Entscheid wirklich allein bei Roche? Kann Novartis nichts machen, keinen Druck aufsetzen?
In diesen Dingen kann nichts erzwungen werden. Das wirtschaftliche und das industrielle Umfeld bestimmen die Entscheidungen eines Managements. Roche und Novartis sind beides sehr starke Firmen, die keinen Nöten unterliegen und daher mit dem nötigen Abstand, mit Zeit und Ruhe Entwicklungen in ihrer Industrie abwägen und beurteilen können, um sich dann in die eine oder die andere Richtung zu bewegen.

Experten sagen für die Pharmawelt eine regelrechte Fusionswelle voraus. Gerüchte sagen, Novartis sei abgesehen von Roche auch am US-Giganten Bristol-Myers interessiert.
Ich bin kein Experte, aber weiss genug, dass im globalen Umfeld Grösse von entscheidender Bedeutung sein kann. Doch Grösse ist nicht alles. Viele andere Kriterien müssen beachtet werden, um grosse Mergers oder Take-overs erfolgreich zu machen. Die Erfahrungen mit Mega-Mergers und die Enttäuschungen mit solchen Kombinationen mahnen zur Vorsicht.

Kürzlich hat Novartis den Forschungshauptsitz von Basel nach Boston verlegt. Wann wird sie eine US-Company?
Die USA sind der grösste Markt für Pharmafirmen und stehen dementsprechend im Mittelpunkt. Das heisst noch lange nicht, dass man eine US-Firma sein muss. Das Aufbauen von neuen Research-Zentren – nicht die Verlagerung! – bedeutet nichts anderes, als weiterhin und mit noch viel mehr Nachdruck und Energie Forschung zu betreiben. Boston mit seinen weltbekannten Universitäten und seiner idealen geografischen Lage wird es hoffentlich der Novartis gestatten, in diesem für die Wissenschaft fruchtbaren Umfeld ihre Position als eine der Top-Research-Firmen der Welt zu festigen.

Noch vor einigen Jahren haben Fusionsfantasien die Börse belebt. Heute scheint gar nichts die Märkte nach oben bewegen zu können. Bleiben die Kurse so tief?
Ich bin sehr skeptisch. Ich befürchte, der Kursrückgang ist noch nicht zu Ende.

Wieso?
Wir stehen in der Mitte eines enormen Korrekturprozesses. Wir erleben derzeit die Brutalität einer exzessiv konservativen Neubewertung fast aller Firmen. Das wird den Börsenwert insgesamt ganz gehörig zurückstutzen.

Was meinen Sie mit «Korrekturprozess»?
Von Mitte der Neunzigerjahre bis weit ins Jahr 2001 wurde die Finanzwelt von einer ungeheuren spekulativen Welle erfasst, die vor allen Dingen im Technologie- und im Telekom-Bereich zu gewaltigen «misallocations of capital» geführt hat. Die Blasen sind geplatzt, und wie immer in solchen Momenten kommt die dunkle und wenig angenehme Seite dieser Bewegungen zum Vorschein. Die Wall Street mit ihren Analysten, viele CEOs, Investment-Banker und andere Akteure der Wirtschaft haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Auch die staatlichen Aufsichtsinstanzen haben voll versagt. Jetzt gilt es für Ratingagenturen, Investoren, Analysten, Boards und Managements, sich wieder auf eine klassisch konservative und gesunde Geschäftsbeurteilung und -führung zu besinnen. Die neue kritische Beurteilung schlägt voll durchs ganze Finanzsystem und führt zu Adjustierungen in der Bewertung von Firmen und Märkten.

Auch im Börsenwert?
Vor allem im Börsenwert. Alle setzen sich derzeit eine besonders konservative Brille auf. Es ist ja nicht so, dass wir das Pendel jetzt einfach in die Mitte zurückschlagen lassen. Nein, es wird übertrieben stark in die negative Richtung ausschlagen.

Wird es alle Märkte gleich treffen: die USA, Europa, die Schweiz?
Die USA sind der Leitmarkt. Ich habe noch nie einen Markt raufgehen sehen, wenn die USA runtergehen. Wir leben unter der Lex americana. Das ist das moderne Rom. Wenn es Rom schlecht geht, geht es auch den Provinzen schlecht.

Sie sagen, wir seien inmitten dieses Korrekturprozesses. Wie lange wird er noch dauern?
Das ist schwer zu sagen, ich schätze noch ein bis zwei Jahre.

Für den Anleger eine lange Zeit.
Früher gingen diese Prozesse noch viel länger. Der Aufräumprozess nach der 1929er Krise ging bis nach 1936. Heute erleben wir das in zwei, drei Jahren. Die ganze globale Wirtschaft ist viel schneller. Auch die Adjustierungen sind viel schneller. Allerdings auch brutaler. Dafür können Sie dann in zwei Jahren wieder breit am Aktienmarkt investieren. Dann haben Sie fast nur noch Solidität.

Was soll der Anleger bis dahin machen? Gänzlich aus den Aktienmärkten aussteigen?
Auf jeden Fall sollten alle spekulativen Aktien-Exposures eliminiert werden. Langfristig orientierte Investoren sollten selbstverständlich an den klassischen Firmen mit transparentem Geschäftsgebaren festhalten.

Heisst das nicht aber auch, vermehrt Cash zu halten, liquide zu sein?
Ja, warum nicht? Ich habe noch niemanden finanziell leiden sehen, nur weil er vorübergehend nur die drei bis vier Prozent an risikolosen Zinsen verdient. Obligationen oder Immobilien sind im Moment Aktien im Allgemeinen vorzuziehen.

Wie konnte es überhaupt zur Krise kommen?
Die Spekulationswelle Ende der Neunziger hatte etwas von einer Massenpsychose und war die Kulmination einer eigentlich gesunden Entwicklung der Achtziger- und Neunzigerjahre zum Liberalismus und Kapitalismus hin. Angeheizt wurde diese Psychose zuerst durch eine starke Weiterverbreitung der Finanzmedien, die unter anderem plötzlich den grassierenden Ausdruck «New Economy» in Umlauf gebracht haben.

Welche Rolle spielten die Medien?
Das Fernsehen hat einen immer grösseren Einfluss auf die Entwicklung an den Finanzmärkten durch die Auswahl bestimmter Beiträge und die konzentrierte Vermittlung gewisser Tendenzen. Die Finanzsender setzen immer mehr auf Schlagworte, die wochenlang wiederholt werden und damit ihren Einfluss nicht verfehlen. So sind wir jüngst beispielsweise monatelang vom Thema «The Road to Recovery» berieselt worden. Allerdings ist die Simplifizierung – ich möchte sogar sagen: die Vulgarisierung – von kompliziertesten Sachverhalten ausserordentlich gefährlich.

Wer zahlt für den laufenden Korrekturprozess: vor allem die Anleger?
Wir alle. Hunderte von Milliarden an Börsenwerten haben sich in Luft aufgelöst. Man kann nicht derart massiv Ersparnisse zerstören, ohne eine Rezession zu haben.

Wird die Krise auch politische Folgen haben?
Die grosse Gefahr ist, dass diese Korrekturphase und die unerfreulichen Hintergründe das liberale und kapitalistische Wirtschaftssystem bleibend geschädigt haben.

Sie haben Angst, der Staat werde sich wieder vermehrt in die Wirtschaft einmischen?
Ja. Was die derzeitige Skandalwelle zeigt, ist, dass die so genannte «invisible hand», die unsichtbare Hand, die gemäss den extrem liberalen Wirtschaftstheoretikern alles regelt, nicht funktioniert hat. Es braucht eine starke Hand, welche die Rahmenbedingungen setzt. Das ist an sich gut. Die Gefahr dabei ist, dass auch hier das Pendel zu stark ausschlägt und die Wirtschaft zu sehr eingeschnürt wird.

Gibt es schon Anzeichen dafür?
Erst wenige. Die Aufräumarbeit ist allerdings bereits spürbar, und das ganze System steht unter kritischer Beobachtung. Ohne jeglichen Zweifel ist das liberale System missbraucht und in vielen Fällen zur persönlichen Bereicherung ausgenutzt worden. Derartige Missstände, welche die Selbstregulierung nicht verhindert hat, werden in Zukunft mit Gesetzen bekämpft werden müssen.
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