Bevor Jules Kyburz im Frühsommer als Präsident der Verwaltung beim Migros-Genossenschafts-Bund (MGB) demissionierte, hatte er noch einmal seine insgesamt 48 Jahre beim grössten Schweizer Detailhandelsriesen vor seinem inneren Auge abspulen lassen: Als «eine Superzeit, die schönste, die ich je hatte», bezeichnete der 68-Jährige sodann im Gespräch mit der «SonntagsZeitung» mitnichten seine letzten 16 Jahre als Konzernchef im Migros-Hochhaus am Limmatplatz in Zürich. Nein, Glücksgefühle genoss Kyburz als Regionalfürst in der Bundeshauptstadt: «Als Geschäftsleiter der Migros Bern war ich der König. Ich war der Chef, der sagen konnte, was gemacht wurde.»
Die Aussage bringt das Hauptproblem auf den Punkt: Die zehn regionalen Könige regieren nach Gutsherrenart im Reich des orange M, die Regionalfürsten von A (wie Migros Aare) bis Z (wie Migros Zürich). Da kann auf dem Präsidententhron des Migros-Genossenschafts-Bunds sitzen, wer will, ob früher Pierre Arnold, dann Kyburz oder seit dem 1. Juli der Romand Claude Hauser: Die Zentrale ohne Macht darf bitten – befehlen niemals.
Für das Jahr 2001 will nun die Migros-Führung, wie von Peter Everts, Chef der Verwaltungsdelegation, vor Monaten angekündigt, den Abschied der zehn heimlichen Herrscher einleiten. Dies etwa durch den Verlust der Einkaufsautonomie bei den regionalen Genossenschaften oder durch die begonnene Zentralisierung der Warenwirtschaft.
Was von aussen wie eine geringfügige organisatorische Änderung aussieht, ist in Wirklichkeit der Versuch, das Haus Migros grundsätzlich neu zu bauen. Die Neuverteilung der Macht hat den Umbau einer föderalistischen Genossenschaft in einen zentral geführten, modernen Detailhandelskonzern zum Ziel. Ein Umbau, den zudem einzelne Kreise gleich zum Anlass nehmen wollen, die Migros endgültig in die Zeit des modernen Kapitalismus zu führen. Der Basler Jurist Bernhard Madörin, Gründer der Initiative Pro Migros AG und Genossenschafter bei der Migros Basel, kündigt für den Frühling «auf der politischen Ebene» weitere Attacken zur Umwandlung der Genossenschaft in eine AG an. Ob Querschläger Madörin, SVP-Grossrat in Basel, mit seinem Vorschlag die Mehrheit der heute 1,8 Millionen Migros-Genossenschafter gewinnen kann, ist eher fraglich.
Ob überhaupt die Voraussetzung dafür – die Machtverschiebung von den Regionen zur Zürcher Firmenleitung um Everts und Hauser – gelingt, ist ebenso unklar. Bevor die Baustelle Migros richtig eingezäunt ist, deuten bereits Signale darauf hin, dass der Umbau nicht störungsfrei vonstatten gehen wird.
Peter Everts, der Präsident der MGB-Verwaltungsdelegation, sieht «das Thema Gewaltentrennung in der Migros bald gelöst». Nur erstarken wird der Primus inter Pares damit garantiert nicht. Schliesslich stand Everts im Spätherbst 1999 auf der Abschussliste der Regionalfürsten, wie Insider aus der Migros-Führungsetage bestätigen. Vernichtendes Urteil im inneren Migros-Zirkel über den Topmanager: «Genügt den Anforderungen nicht.»
Der gerade 57-Jährige durfte bleiben, weil mit den beiden Marketingchefs Hermann Hasen und Bernard Loeb bereits zwei andere Spitzenmanager aus der Delegation hinauskomplimentiert wurden. Den ranghöchsten Angestellten auch noch zu feuern, das sollen sich die Strippenzieher kurz vor dem Beginn des Jubeljahres 2000 dann doch nicht getraut haben. Doch wer wie Everts nur auf dem Gnadenweg überlebt hat, bleibt für ewige Zeiten geschwächt, eine lahme Ente.
Die Einrichtung einer Groupe de Réflexion durch die Verwaltung des Migros-Genossenschafts-Bunds unter Hauser dürfte allenfalls ein (hoffnungsloser) Ausweg sein, dem Diktat der Regionalfürsten zu entkommen – genauso wie deren Reformvorschlag, «die Trennung der Gewalten in den verschiedenen Gremien im Sinne der Checks and Balances in absehbarer Zeit». Denn selbst wenn die Chefs der zehn Migros-Genossenschaften tatsächlich in naher Zukunft persönlich aus der MGB-Verwaltung verschwinden, behalten sie ihre absolutistische Macht in ihrem jeweiligen Sprengel. Die zehn regionalen Migros-Genossenschaften sind juristisch völlig selbstständig und somit unabhängig. Und als alleinige Anteilseigner am Migros-Genossenschafts-Bund und damit de facto als deren Besitzer delegieren die zehn Regionalgenossenschaften auch weiterhin Aufpasser zum MGB. Wenn schon nicht mehr die Geschäftsleiter, so doch zumindest genehme Platzhalter.
Die Regionalfürsten drängt wenig zu einer wirklich fundamentalen Änderung. Schliesslich ist der Erfolg der Gruppe ja da, wie fleissig kommuniziert wird: Migros ist Marktleader im Kerngeschäft, überaus erfolgreich beim Globus-Zukauf, Zuwächse bei der Migrosbank, beim Reiseveranstalter Hotelplan, bei den Industriefirmen wie Chocolat Frey, Jowa oder Mibelle und Micarna.
Das vollmundige Versprechen, innerhalb dieses Jahrzehnts werde das reine MGB-Geschäft, eben Globus und der Dienstleistungs- und Industriebereich, dermassen zulegen, dass im Jahre 2009 dieses Segment die Hälfte des gesamten Migros-Geschäftes ausmachen werde, lenkt vom Kernproblem ab: Die Marktleistung der zehn Genossenschaften, Keimzelle, Seele und Herz des Handelsimperiums, fällt seit Jahren schon unterdurchschnittlich aus. Seit 1993 nahm deren Umsatz zwar um etwa 300 Millionen Franken auf rund 13 Milliarden Franken zu. Diesem marginalen Wachstum von insgesamt weniger als 3 Prozent in sieben Jahren steht allerdings eine rund 20-prozentige Ausdehnung der Verkaufsflächen in den knapp 600 M-Filialen auf mehr als eine Million Quadratmeter gegenüber. Im laufenden Jahr hat sich die Situation weiter verschlechtert: Einer Expansion der Verkaufsfläche von 4,4 Prozent stand per Ende November ein kumulierter Umsatzzuwachs von nur 2,8 Prozent gegenüber.
Für das dannzumal abgeschlossene Geschäftsjahr 2000 wird die Migros im kommenden Frühjahr wieder einmal einen etwa dreiprozentigen Umsatzanstieg bejubeln. Wirklich aussagekräftig werden diese Zahlen allerdings nicht sein, da das Wachs- tum in den zurückliegenden zwölf Monaten mit jeder Menge Geburtstagsaktionen und Schleuderpreisen teuer erkauft wurde.
Zur Polarisierung bei der Migros dürfte auch die vielstimmige Klage über die magere Entlohnung von vielen Migros-Beschäftigten beitragen. Etliche der Beschäftigten an der Verkaufsfront (über)leben augenscheinlich trotz Vollzeitjob bei der Migros nur mit einem Zusatzgeld von der öffentlichen Fürsoge. Das Fernsehen jedenfalls zeigte im November solche Migros-Schicksale – und empörte Gewerkschafter geisseln seither die Migros-Genossenschaften, die vermeintlich vorbild- lichen Vertreter des sozialen Kapitals.
Mag sein, dass der Denner-Patriarch Karl Schweri sein Personal noch schlechter entlöhnt. Sicher ist: Etliche Migros-Topmanager wissen schlicht nicht um die Nöte an der Basis. Gisèle Girgis, die neueste Hoffnungsträgerin in der geschäftsführenden Verwaltungsdelegation und dort zuständig für Marketing und Informationssysteme, behauptete in einem ihrer ersten Interviews zum Stichwort «Hungerlöhne im Handel» zur 3000-Franken-Frage kess: «Wir zahlen schon seit Jahren keine so tiefen Löhne mehr.»
Als dann die ersten Fürsorgefälle aus der Migros-Lohnliste öffentlich ins Bild rückten, musste Herbert Bolliger, der Regionalfürst der umsatzstärksten und mit mehr als 11 000 Arbeitnehmern personalstärksten Regionalgenossenschaft, der Migros Aare, kleinlaut gestehen, dass rund ein Drittel seiner Belegschaft «weniger als 3000 Franken netto im Monat» nach Hause tragen kann.
Eine Kommunikationskatastrophe: Mehr als zwei Wochen brauchte der Detailhandelsriese, um seine eigenen Zahlen zu relativieren. Zwar liegt das Einkommen Tausender Mitarbeitender bei der Migros Aare tatsächlich unter 3000 Franken im Monat. Ganz überwiegend arbeiten diese Geringverdiener allerdings als Teilzeitangestellte in den M-Filialen, werden also auch in Zukunft unterhalb der 3000-Franken-Grenze liegen. Von den Vollzeitbeschäftigten betrifft der niedrige Lohn im Migros-Aare-Bereich jedoch nur etwa 100, in der gesamten Migros-Gruppe «rund 700 vollbeschäftige Mitarbeitende». Und sie alle werden ab Neujahr «einen Bruttolohn von mindestens 3000 Franken erhalten».
Diese Diskussion traf die Migros in einem ungünstigen Moment: Die Nummer zwei im Schweizer Detailhandel, die Coop, hat in den vergangenen zwei Jahren unter ihrem neuen Konzernleiter Hansueli Loosli aufgedreht, und aus dem Ausland drängen aggressive Angreifer ins eidgenössische Handelsgewerbe.
Europas mächtigster Handelskrake, Carrefour, hat sich mit 40 Prozent bei den Jumbo-Verbrauchermärkten der Maus Frères eingekauft und eigene Standorte gesichert. Branchenbeobachter rechnen damit, dass jetzt, nach dieser ersten Attacke, weitere internationale Handelsmultis auftauchen – angelockt durch die hohe Kaufkraft der Schweizer Bevölkerung, womöglich aber auch durch leichtfertige Äusserungen. Wenn zum Beispiel der Denner-Chef und Schweri-Enkel Philippe Gaydoul dem «Tages-Anzeiger» über die helvetische Handelsbranche anvertraut, «so viel wie in der Schweiz wird nirgends verdient», wird das bestimmt auch jenseits der Grenze gelesen. Gaydouls Beobachtungen haben garantiert auch Discounter aus den Nachbarländern längst zur Kenntnis genommen. Und wenn Gaydoul über schmucklose Verkaufsstätten ausserhalb der City «mit 100 Parkplätzen» nachdenkt, kann das der europaweit dominierende Discounter Aldi aus Deutschland auch. Angeblich ist Karl Albrecht junior, der einzige Sohn des gleichnamigen 80-jährigen Aldi-Erfinders, bereits in die Schweiz, und zwar nach Genf, gezügelt. Die Behörden schweigen sich darüber aus und wollen den Wohnortswechsel nicht bestätigen.
Vor knapp zwei Jahrzehnten war der Aldi-Stammhalter nach ersten Lehrjahren in die USA übergesiedelt. Wenige Monaten später eröffnete in einem Vorort von Chicago der erste US-Aldi. Die Schweiz dürfte angesichts der vereinbarten Liberalisierung in Europa mittelfristig leichter zu erschliessen sein als das ferne Amerika. In den Nachbarländern Österreich (Hofer) und Frankreich ist der Tiefstpreis-Gigant längst etabliert, und von den dortigen Zentrallagern aus sowie aus der deutschen Heimat kann Aldi ohne grossen Mehraufwand in die Schweiz liefern.
Die Migros darf sich mit ihren Eigenmarken durchaus auch als Discounter sehen. Bei den deutschen Verkaufspreisen dürfte den Schweizern freilich die Augen feucht werden: Milch für 65 Rappen pro Liter, die 100-Gramm-Tafelschokolade für weniger als 50 Rappen. Mineralwasser kostet bisweilen rund zwei Franken – für zwölf Flaschen à 0,7 Liter. Trotz diesen Niedrigstpreisen gilt der Discount-Primus als renditestärkste Filialkette im deutschen Einzelhandel. Grund: Aldi beherrscht die Logistik.
Derweil Aldi Erfolge bei der Warenverteilung vorzuweisen hat, übt die Migros erst. Doch Anton Scherrer, Departementschef Industrie und Logistik beim MGB, postuliert eine «zentrale Warenwirtschaft» wenig bescheiden bereits vor der endgültigen Realisierung als «Benchmark für die Konkurrenz». Scherrer erwartet Kostenvorteile, wenn das Non-Food-Sortiment jetzt zentral vom Migros-Verteilzentrum Neuendorf SO aus spediert wird. Ab Ende 2001 soll dann das gesamte Lebensmittel-Trockensortiment vom Verteilzentrum Suhr AG aus «filialkommissioniert ausgeliefert werden».
Als neuer Präsident der Verwaltung meldet sich da Hauser zu Wort: «Die regionalen Genossenschaften werden ihre Einkaufsautonomie verlieren», konstatiert er und warnt gleichzeitig: «Die lokalen Bedürfnisse müssen aber auch weiterhin befriedigt werden.»
Die Zentrale in Zürich hatte Claude Hauser, den früheren König der Migros Genf, einmal trickreich überredet, Gänseleberpastete und Froschschenkel aus dem Sortiment zu nehmen. Tierschützer hin, Umweltaktivisten her: Nach kurzer Abstinenz liess Hauser die umstrittenen Lebensmittel in seinem Migros-Reich rund um den Lac Léman wieder in die Verkaufsregale einräumen.
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