BILANZ: Herr Pictet, nach 38 Jahren verlassen Sie Ihre Bank. Was machen Sie an Ihrem letzten Arbeitstag?

Ivan Pictet: Nichts Besonderes. Die Abschiedstour hat schon Anfang Jahr begonnen. Wo immer ich hinkam, gab es Geschenke. Für mich ein langes Adieu voller Wehmut.

Welches Geschenk war das schönste?

Der Film, den die Teilhaber von Pictet für mich drehten. Sie setzten sich Perücken auf und spielten nach, wie ich die Sitzungen leite. Es gibt herrliche Dispute: «Um Ivan zu sein, muss man das so machen», sagt einer. «Nein, so», widerspricht ein anderer und imitiert mich. Dieser Film wurde bei einem Nachtessen mit den Teilhabern und ihren Frauen gezeigt. Ein grosses Vergnügen.

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Die letzten drei Jahre waren die härtesten Ihres Berufslebens. Welches Gefühl überwiegt beim Abschied?

Es ist eine Mischung. Ich war in den letzten drei Jahren täglich praktisch 24 Stunden im Einsatz. Ich habe mehr erlebt und gelernt als in den 30 Jahren zuvor. Natürlich spüre ich da jetzt eine gewisse Angst vor der Leere nach so einer intensiven Zeit.

Auch Bedauern, abtreten zu müssen?

Ich kämpfe gern. Jetzt gehe ich zu einer Zeit, in der die Herausforderungen sehr gross sind. Ich hätte nichts dagegen gehabt, weiterhin an vorderster Front zu kämpfen. Aber es gibt eine Zeit für alles. Ich bin 66 Jahre alt. Die nächste Generation will Verantwortung übernehmen. Es war immer die Stärke von Pictet, diesen Wechsel aktiv zu gestalten.

Seit Ausbruch der Eurokrise scheint der Druck aufs Bankgeheimnis aber etwas nachgelassen zu haben.

Ich fürchte, dieser Eindruck täuscht. Was den legislativen Druck angeht, steht das Schlimmste noch bevor. Im September will die internationale Financial Action Task Force Steuerhinterziehung zur Straftat erklären, und das hätte direkte Auswirkungen auf die Schweiz. Die Verhandlungen mit der Europäischen Union für das Doppelbesteuerungsabkommen sind extrem schwierig, weil besonders Deutschland und Frankreich mit aller Macht den automatischen Informationsaustausch wollen. Und in den USA liefert der neue Foreign Account Tax Compliance Act dem Fiskus detaillierten Einblick in Transaktionen mit US-Wertpapieren. Es herrscht dort eine Hysterie gegenüber Steuersündern, die für die anstehenden Kongresswahlen ausgeschlachtet wird. Wir erleben einen politischen Bullenmarkt.

Ist die Schweiz genügend gerüstet gegen die Angriffe?

Wir müssen unsere Position eisern und ohne Komplexe verteidigen. Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen von der Hegemonial-Attitüde vor allem Deutschlands und Frankreichs.

Aber ist das nicht ein aussichtsloser Kampf? Ist das Bankgeheimnis nicht längst tot?

Nein. Es entstammt aus dem Gebot der Vertraulichkeit, das ein fundamentales Recht unserer Verfassung ist. Artikel 47 des Bankengesetzes, der das Bankgeheimnis festschreibt, ist weiterhin in Kraft. Die Mehrheit der Bevölkerung legt heute grossen Wert auf dieses Gesetz, das die Privatsphäre schützt. Unsere Nachbarn beschreiten einen absurden Weg, der sich an George Orwells «1984» annähert. Dort hat Winston Smith, die Hauptfigur, als letzte Parzelle der Freiheit nur noch eine Mansarde in seinem Haus, wo er nicht beobachtet wird und sich mit seiner Julia zurückziehen kann.

Die EU will den gläsernen Bürger.

Ein Finanzplatz kann nur mit einem starken Schutz der Privatsphäre Erfolg haben, das zeigen die Beispiele USA, England, Singapur oder Dubai. Deutschland oder Frankreich werden nie einen international bedeutenden Finanzplatz haben, weil dort Big Brother am Werk ist. Der Anteil des Finanzplatzes an der volkswirtschaftlichen Leistung liegt in diesen Ländern bei drei oder vier Prozent, während Staaten mit grossen Finanzplätzen auf sieben oder acht Prozent kommen, die Schweiz sogar auf zwölf.

Aber die Schweiz hat bereits im März letzten Jahres ihre Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug aufgegeben.

Ja, und das habe ich damals für einen Fehler gehalten und tue es noch heute. «Wait and see» wäre besser gewesen. Die Schweiz sollte niemals zu schnell aufgrund ausländischen Drucks nachgeben.

Das tut sie aber laufend. Sie unterzeichnet fast wöchentlich neue Doppelbesteuerungsabkommen.

Wir haben bisher 24 Doppelsteuerabkommen unterschrieben, obwohl nur 12 nötig gewesen wären, das ist typisch schweizerisch. Wir schliessen mit Ländern Abkommen ab, die uns überhaupt keine Gegenleistungen bieten: Indien, Indonesien, China …

Um die Privatsphäre zu schützen, setzten Sie sich für eine Abgeltungssteuer ein. Deutschland und Frankreich sperren sich jedoch dagegen. Glauben Sie wirklich, dass der automatische Informationsaustausch verhindert werden kann?

Unser Problem ist, dass wir viele Freunde, aber keine Verbündeten haben. Um mit der EU zu verhandeln, brauchen wir einen Partner, der die Notwendigkeit der Vertraulichkeit für einen starken Finanzplatz versteht.

Wer soll das sein?

England. Dort schätzt man die Privatsphäre genauso wie in der Schweiz, was sich etwa bei den Trusts zeigt. Und das Land ist ebenfalls sehr international positioniert und will wie die USA keinen automatischen Informationsaustausch.

Schwarzgeld kann dennoch nicht das Geschäftsmodell der Zukunft sein.

Wir wissen heute nicht genau, ob unsere Kunden ihre Gelder versteuern. Das ist ihre Privatsache. Sämtliche Schätzungen über die Höhe des Schwarzgelds in der Schweiz sind ungenau. Infolge der Globalisierung sind heute die wohlhabenden Familien über den Erdball verstreut. Die Besteuerung ist äusserst komplex geworden. Die Abgeltungssteuer ist deshalb sehr effizient. Der automatische Informationsaustausch innerhalb der EU hat dagegen bisher keine nennenswerten Einnahmen gebracht.

Patrick Odier, der Präsident der Bankiervereinigung, hat ein Kundenattest zur Steuerehrlichkeit ins Spiel gebracht. «Solange ich da bin, ist das ausgeschlossen», haben Sie spitz geantwortet. Jetzt gehen Sie.

Ich habe da für meine Kollegen gesprochen. Es wäre eine Zumutung, von unseren Kunden eine Deklaration über ihre Steuern zu verlangen. Das liesse sich auch in der Praxis gar nicht umsetzen: Die Steuererklärung folgt fast überall nach der Einzahlung. Ich verstehe auch nicht, warum Schweizer Banken die Zöllner für andere Länder sein sollten. Bankiervereinigung und Finma haben diese Forderung ja auch bereits aufgegeben.

Mehr als 16  000 Amerikaner haben sich selbst angezeigt und den US-Steuerbehörden detaillierte Informationen über Schweizer Banken geliefert. Erwarten Sie weitere Anklagen aus den USA?

Die Amerikaner machen, was sie wollen, daran ändert auch der abgesegnete Staatsvertrag nichts. Wenn sie zehn Banken angreifen wollen, kann Pictet darunter sein, allein wegen der Grösse. Wir haben das US-Geschäft nie aktiv betrieben. Aber natürlich haben wir, wie jede andere Schweizer Bank auch, amerikanische Kunden.

Der Druck ist stark wie nie zuvor. Ist das Schweizer System noch zeitgemäss?

Ich bin ein entschlossener Verteidiger des Schweizer Systems. Leider herrscht hierzulande ein Gefühl von Defätismus vor, der von Politikern aufgrund der nahenden Wahlen geschürt wird. Wir werden überall um unsere gesunde Wirtschaft beneidet, frönen aber der Selbstgeisselung. Das ist sehr bedauerlich.

Gibt es keinen Mangel an Führung?

Doch, aber im Vergleich zu der französischen oder der deutschen Führung ist mir die schweizerische viel lieber. Das Schweizer System ist exzellent, auch wenn es einzelne Mitglieder wie Herrn Merz oder Frau Calmy-Rey geben mag, die nicht immer glücklich agieren.

Statt der Regierung haben die Regulatoren die Führung inne.

Ich befürchte in der Tat, dass wir im Vergleich mit den anderen Finanzplätzen eine Überreglementierung bekommen. Wenn wir von aussen angegriffen werden, dürfen wir im Inneren nicht übereifrig werden. Die Finma mischt sich zu stark in Einzelheiten ein, und die Nationalbank hat sich zu sehr in die Grössenproblematik der Grossbanken verbissen. Die Verschuldung in Europa und den USA ist riesig und muss refinanziert werden, und da spielen die Banken eine entscheidende Rolle. Es ist sehr gefährlich, den Banken in einer prekären Wirtschaftslage zu hohe Eigenkapitalvorschriften zu verordnen. Das muss zu einer Kreditknappheit führen. Die Banken haben die Botschaft verstanden, jetzt sollte man die Ratingagenturen und die Aufsichtsbehörden selbst reformieren, da waren die Versäumnisse am grössten.

Wie sieht das neue Leben des Ivan Pictet aus?

Ich trete in eine neue Gruppe ein: die der pensionierten Teilhaber. Viele von ihnen kommen noch immer jeden Tag in die Bank. Sie stellen eine sehr starke Gemeinschaft dar. Mein Vater kam bis Ende Juni mit 95 Jahren noch immer einmal pro Woche ins Büro. Die ehemaligen Teilhaber werden bei Pictet fast als Garanten für die Kultur angesehen. Das ist bei uns eben nicht wie bei Nestlé oder Novartis, wo man am Schluss einfach weg ist.

Und was machen Sie am ersten Tag in Ihrem neuen Leben?

Da gehe ich nach Griechenland segeln.

Nummer Eins

1972 trat Ivan Pictet nach dem Studium in St.  Gallen und Stationen in New York und Tokio bei Pictet & Cie ein, 1982 wurde er Teilhaber des Genfer Traditionshauses, das damals 300 Mitarbeitende zählte und fünf Milliarden Franken verwaltete. Heute ist Pictet mit 3000 Mitarbeitern und 400 Milliarden Franken verwalteten Vermögen die grösste Schweizer Privatbank. Der 66-jährige Pictet, der 2005 zum Senior Partner und damit zum Primus inter Pares der sieben unbeschränkt haftenden Teilhaber ernannt wurde, legte sein Amt am 30.  Juni nieder. Sein Nachfolger ist Jacques de Saussure.

Dirk Schütz
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