BILANZ: Herr Miller, 80 Prozent aller Aktienfonds erwirtschaften im mehrjährigen Vergleich Renditen, die unter den Index-Messlatten liegen, an denen sich die Fondsmanager orientieren. Schämen Sie sich für Ihre Kollegen?
Bill Miller: Nein, wieso sollte ich? Für deren schlechtes Abschneiden sind ganz allein sie selbst verantwortlich.

Als jemand, der zehn Jahre lang kontinuierlich den Standard & Poor’s 500 Index geschlagen hat, haben Sie natürlich gut lachen.
Wir sind selbstverständlich stolz auf unseren Erfolg. Man muss sich diesen Return aber jedes Jahr, jeden Monat, jede Woche immer wieder neu erarbeiten. Wir haben keine Zeit, hochmütig zu werden.

Das dürfte Ihre Anleger beruhigen, denn an der Wall Street gilt: Je arroganter die Timing-Gurus werden, desto härter fallen sie, wenn das Gesetz des Durchschnitts sie wieder einholt. Was gibt Ihnen die Sicherheit, nicht so zu enden wie etwa Joe Granville oder Elaine Garzarelli?
Statt wie sie uns fortwährend den Kopf darüber zu zerbrechen, was der Markt denn nun als Nächstes wieder anstellen wird, konzentrieren wir uns lieber auf die Suche nach unterbewerteten Substanzunternehmen. Unser Ziel ist eine hohe Rendite bei kleinem Risiko und geringer Volatilität.

Gleichwohl schienen sich die Investmentkünste insbesondere von Kleinanlegern zuletzt eher nach der Formel zu richten, kaufen bei Höchst- und verkaufen bei Tiefstkursen.
(Lacht) Es dürfte Sie kaum verwundern, wenn ich Amateuren rate, die Verwaltung ihrer Portefeuilles in die Hände von Profis zu geben. Aber im Ernst: Was wir vielleicht besser machen als andere ist die Methode, nach der wir unsere Positionen auswählen.

Weihen Sie uns in Ihr Geheimnis ein!
Wir suchen nach Gesellschaften, deren Ertragskraft, Substanz oder künftiges Potenzial nicht genügend honoriert wird. Und das mit einem Research-Aufwand, der wohl einmalig ist. Wenn ich ein Unternehmen kaufe, kenne ich es in- und auswendig.

Halten Sie die Aktien über einen längeren Zeitraum?
In der Regel ja. Langzeitstudien haben gezeigt, dass unterbewertete Wertpapiere im dritten, vierten und fünften Jahr dieattraktivsten Renditen erreichen. Diese Anlagestrategie ist von Benjamin Graham in den Dreissigerjahren entwickelt worden. Zuletzt war dieses so genannte Value-Investing eher aus der Mode geraten. Völlig zu Unrecht – wie Warren Buffetts Erfolg zeigt. Buffett hat über Jahrzehnte vorgemacht, wie man überdurchschnittliche Anlageerfolge erzielt, wenn man Aktien einer Gesellschaft mit einem Abschlag gegenüber ihrem fairen Wert kauft.

Der Value-Investor geht davon aus, dass die Börse diesen «Fehler» erkennt und korrigiert?
Ja, und im besten Fall sind wir engagiert, bevor das Management des Unternehmens die Reserven hinsichtlich der Substanz aufdeckt und die Kurse zu steigen beginnen. Buffetts bestechend simple Antwort auf die Frage nach dem besten Einstiegszeitpunkt an der Börse lautet: Wenn man ein Schnäppchen machen kann.

Ist es egal, zu welcher Branche der jeweilige Wert gehört?
Absolut, uns interessieren alle Firmen, die es letztlich verstehen, sich in ihren jeweiligen Märkten zu behaupten und profitabel zu arbeiten. Das gilt für Baufirmen, Getränkehersteller, Automobilfirmen genauso wie für Technologie- oder Internetfirmen. Generell sehe ich aber eine Rückbesinnung auf Firmen, deren Aktien tatsächlich einen Anteil an einer werthaltigen Substanz darstellen.

Was hat Sie im Frühjahr vergangenen Jahres dazu veranlasst, aus vielen Ihrer Hightechholdings auszusteigen?
Simple Antwort: Valuation. In Folge der Internethysterie rückten fundamentale Kriterien damals total in den Hintergrund. Was die Kurse fortan anheizte, waren ausschliesslich Fantasie und Werbung. Wir haben unseren Technologieanteil im ersten Quartal 2000 drastisch von 43 auf rund 15 Prozent heruntergefahren.

Überall konnte man damals von der Internetblase lesen – gleichwohl hat die Mehrzahl der Anleger wie hypnotisiert an den vermeintlichen Highflyern festgehalten. Warum Sie nicht?
Nun, zunächst einmal stehen mir natürlich Ressourcen zur Verfügung, die weit jenseits der Möglichkeiten eines privaten Anlegers liegen. Dazu gehören detaillierte Markt- und Firmeninformationen und die konstante Marktbeobachtung durch hoch spezialisierte Analysten. Und ein paar Jahre Erfahrung im Business schaden sicher auch nicht …

Ihre Bescheidenheit in Ehren, aber das kann ja wohl kaum erklären, warum Sie zehn Jahre lang konstant bessere Entscheidungen getroffen haben als Ihre Kollegen. Was prädestiniert Sie persönlich für das Börsengeschäft?
Wir haben in unserer Gesellschaft verlernt, gruppenkonträr zu denken. Ich hingegen versuche zu investieren, bevor Aktien steigen und nicht danach. Getreu dem Motto «Kurz vor der Dämmerung ist die Nacht am dunkelsten» kaufe ich unterbewertete Unternehmen, in die kein anderer Investor mehr einsteigen will – und verlasse die Feier, wenn überall die Sektkorken knallen.

Ist der Mensch mental gar nicht für die Börse geeignet?
Vielleicht nicht. Schon im Kindergarten wird Teamarbeit geschult und ein Andersdenken bestraft. Allein die Worte «anti» oder «konträr» klingen schon negativ. Es tut gut, eine Aktie zu kaufen, die von Experten empfohlen wird. Unbewusst suchen wir ständig nach Bestätigungen für unser Handeln. Das ist im richtigen Leben wohl die geeignete Strategie. An der Börse ist das tödlich.

Warum?
Ist zum Beispiel die Pharmabranche gerade in, wird dort investiert. Nur: Wenn die Pharmabranche gerade in ist, hat sie meist den Kursanstieg schon hinter sich.

Sind unsere genetische Blaupause und die moderne Finanztheorie demnach nicht kompatibel?
Möglicherweise nicht. In der Evolution siegt der Survivor. Das menschliche Gehirn ist so ausgelegt, dass man bei Gefahr wegläuft. Wenn Sie einen Löwen sehen und nicht Fersengeld geben, werden Sie gefressen. Das ist derselbe Impuls, den sie häufig am Markt beobachten können: Schlechte Nachrichten – verkaufen. Gute Nachrichten – kaufen.

Wie tricksen Sie Ihre Instinkte aus?
Ich denke, dass mir mein Hintergrund aus der Philosophie hilft. William James hatte einen ganz starken Einfluss auf mich. Er behauptet, dass wissenschaftliche Theorien instrumentalistisch ausgelegt werden müssen, nämlich als intellektuelle Werkzeuge zur Steuerung künftigen Handelns, nicht als ewig gültige Wahrheiten über die Beschaffenheit der Natur.

Was hat das mit Ihren Anlageentscheidungen zu tun?
Eine ganze Menge. Das Kriterium der Wahrheit ist laut James die Nützlichkeit beziehungsweise Vorteilhaftigkeit. Ich sehe zum Beispiel Bewertungsmethoden von Aktien ganz pragmatisch. Price-Earning-Ratio (Kurs-Gewinn-Verhältnis) oder Earnings per Share Growth (Wachstumsrate des Gewinns) sind nützliche Hilfswerkzeuge – ewig gültige Wahrheiten verraten sie mir nicht.

Bleibt Investieren also letztlich eine Sache des Bauchs?
Nein, nein. Viele Leute glauben aber, ihr Wissen liefere die Grundlage für gesicherte Prognosen. Ihnen ist in der Schule beigebracht worden, mit ihren Formeln, Gesetzen und so weiter Ordnung in diese Welt zu bringen. Daran glaube ich nicht. Ich bin davon überzeugt, dass man bestimmte Werkzeuge, wenn sie nicht mehr funktionieren, wegwerfen sollte – ob das nun bei der Erfassung des Kosmos oder bei der Bewertung von Aktien ist.

Ihr Pragmatismus hat Ihnen den Vorwurf eingebracht, Ihr Value Trust sei eine Mogelpackung: Unternehmen wie Dell, America Online oder Amazon repräsentieren ja nicht gerade klassische Value-Stocks.
Wir haben Dell zu einem Zeitpunkt gekauft, als der Wert deutlich unterbewertet war. Was uns möglicherweise aber von anderen Value-Investoren unterscheidet: Wir haben die Aktie nicht verkauft, als sie ihren Wert verdoppelt hat. Uns erschien Dell nämlich immer noch unterbewertet.

Gilt das gleiche für America Online?
Ja, natürlich. Ich habe Anfang 1998 behauptet, AOL sei unterbewertet. Die Leute haben sich an den Kopf gefasst und gesagt: «Ist der jetzt völlig verrückt geworden, AOL wird mit 100fachen Forward-Earnings gehandelt!»

In den folgenden zwei Jahren schoss AOL durch die Decke.
Ja, und viele der Leute, die «überbewertet» gekreischt haben, hatten das Unternehmen wahrscheinlich niemals gründlich analysiert. Und wenn Sie nicht wissen, wann eine Aktie billig ist, können Sie auch nicht wissen, wann eine Aktie zu teuer ist …

Anfang 2000 haben Sie AOL verkauft.
Ja, und im Übrigen sind wir inzwischen wieder massiv eingestiegen. Was ich damit sagen will, ist, dass etwa ein hohes Kurs-Gewinn-Verhältnis für einen Value-Investor kein automatischer Grund sein darf, sich nicht zu engagieren. Das meine ich mit flexibler Anwendung von Hilfswerkzeugen.

Zuletzt haben Sie mit Ihrer Einschätzung des Onlinehändlers Amazon für einige Furore an der Wall Street gesorgt.
Wir gehen davon aus, dass Amazon bis Ende 2001 die meisten seiner Probleme gelöst haben wird.

Die Investmentbanken sind zuletzt schwer ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Die amerikanische Börsenaufsicht plant gar, Analysten der Banken nur noch über solche Wertpapiere berichten zu lassen, die ihre Arbeitgeber nicht im Portfolio halten.
Wir sehen derzeit keinen Handlungsbedarf. In den Finanzinstituten gibt es schliesslich chinesische Mauern, die unerlaubten Informationsaustausch zwischen einzelnen Abteilungen verhindern.

Soweit die schöne Theorie …
Die Mär von den angeblich so korrupten Analysten und Fondsmanagern ist so alt wie das Geschäft selbst. Und um Ihren versteckten Vorwurf zu entkräften: Technologiewerte sind im vergangenen Jahr um 70 Prozent gefallen. Im Internetsektor haben wir einen regelrechten Wash-out erlebt. Da würde ich mich doch strafbar machen, wenn ich mir nicht einige dieser Aktien genauer ansehen würde.

Herr Miller, Sie wirken bei der Beschreibung Ihrer Anlagephilosophie überaus kühl und analytisch. Werden Sie im Tagesgeschäft manchmal auch emotional?
Ich habe mich früher oft wahnsinnig aufgeregt, wenn andere Fondsmanager unsäglichen Mist als grosse Vision verkauft haben. Heute habe ich erkannt: Je mehr dummes Zeug die von sich geben, desto besser für mich. Wenn alle brillant wären, wäre es für unsereinen wahnsinnig schwer, bessere Renditen herauszuholen.

Was machen Ihre Kollegen falsch?
Zunächst einmal: Sie handeln zu viel. Selbst bei manchen Value-Funds liegt die Turnover-Rate heute bei 90 Prozent. Das hat unserer Ansicht nach wenig mit Investment zu tun, das ist das Spekulieren auf kurzfristig fluktuierende Preise. Die meisten Fehler sind aber das Ergebnis von zu viel Handelstransaktionen.

Und zweitens?
Zweitens versuchen meine Kollegen ständig, wie bereits erwähnt, den zukünftigen Verlauf der Wirtschaft vorherzusagen. Das können sie nicht.

Selbst US-Notenbankchef Alan Greenspan und seinem Stab von 300 hoch qualifizierten Ökonomen ist dieses Kunststück zuletzt nicht gelungen.
Richtig, wie soll das ein einzelner Fondsmanager schaffen? Dennoch tun sie das ununterbrochen: Wir schlittern in eine Rezession, heisst es da, die Wirtschaft wächst im kommenden Jahr um soundso viel Prozent und so weiter und so fort. Den Kunden gefällt das. Die sagen: Toll, der Typ hat den Durchblick!

Fehler Nummer drei?
Viele Fondsmanager folgen zu sehr der gerade zirkulierenden Stimmung: Ist die Nachrichtenlage positiv, sind sie positiv. Ist die Nachrichtenlage negativ, sind sie negativ. Darüber hinaus zwingt der Erfolgsdruck viele Fondsmanager zu risikoreichen Investments. Wir nennen dies das «IBM-Phänomen»: Noch kein Fondsmanager wurde gefeuert, weil er IBM gekauft hat. Kauft er Titel, die in sind, und sie brechen ein, ist das okay – investiert er hingegen antizyklisch und liegt einmal falsch, kann das böse Konsequenzen haben. Dass sich dieses Andersdenken langfristig jedoch auszahlen kann, haben wir mit unseren Fonds gezeigt.

Sie wollen auch in den nächsten Jahren den Markt schlagen?
Ich will stündlich den Markt schlagen!

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