BILANZ: Lord Browne, in Ihrem im Juni veröffentlichten Buch betonen Sie die Vorteile eines Coming-out und empfehlen Unternehmen einen offenen Umgang mit Homosexualität. Bedauern Sie, sich nicht früher öffentlich zu Ihrer Homosexualität bekannt zu haben?
John Browne: Ja. Aus heutiger Sicht wünsche ich mir, ich hätte diesen Schritt früher getan.

Glauben Sie wirklich, dass Sie trotzdem noch BP-Chef geworden wären?
Schwer zu sagen. Ich nehme an, Offenheit über meine sexuelle Orientierung wäre in der Ölbranche zu Beginn meiner Karriere tatsächlich unmöglich gewesen. Als ich Vorstandsvorsitzender wurde, vor allem aber am Ende meiner Amtszeit hätte ich es wahrscheinlich wagen können.

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Und sich die Schmach des erzwungenen Outings erspart …
Ich war 59 Jahre alt, als ich 2007 zu diesem Schritt gezwungen wurde. Die Mauern, die ich um mein Privatleben gebaut hatte, begannen zu zerfallen. Als ich dann im Auto sass und den Konzern verliess, den ich mit aufgebaut hatte, fühlte es sich an, als ob ich sterben würde.

Haben Sie den Rücktritt je bereut?
Nein. Ich bin sehr froh, dass ich an diesem Punkt die Bremse gezogen habe. Ich war bereit, mein Leben komplett zu ändern.

Was hat Sie davon abgehalten, sich früher und aus eigenen Stücken zu Ihrer Homosexualität zu bekennen?
Einerseits die Geschichte, schliesslich wurden Homosexuelle in der Vergangenheit oft verfolgt, anderseits meine Erziehung. Ich glaubte früher, dass meine Beziehungen in Beruf und Privatleben Schaden nehmen würden. Es war die Angst – und es ist auch heute immer noch die Angst –, die Menschen davon abhält, sich offen zu ihrer Sexualität zu bekennen.

Sie haben 1966 mit 21 Jahren direkt nach dem Studium bei BP angeheuert, wurden nach Alaska geschickt und zum Öl-Ingenieur ausgebildet. Würden Sie heute einem Berufsanfänger in einer ähnlichen Situation empfehlen, sich zu outen?
Ja, absolut. Ich rate jedem homosexuellen Manager, sich zu outen – je früher, desto besser. Als ich jung war, war es sehr aufregend, ein Doppelleben zu führen, aber je älter ich wurde, desto anstrengender wurde es. Ich bin heute davon überzeugt, dass es besser ist, sich nicht zu verstecken, authentisch zu sein, und das schon zu einem Zeitpunkt, wo man im Berufsleben noch keine Lügengeschichte entwickelt hat, die dazu dient, das Privatleben zu verschleiern.

Sie haben sich zeitlebens nicht einmal Ihrer Mutter offenbart …
Korrekt. Meine Mutter war in Auschwitz inhaftiert, hat dort homosexuelle Mitgefangene erlebt und mir stets abgeraten, anderen Menschen persönliche Geheimnisse zu verraten. Ich bin sicher, dass sie meine Homosexualität als Nachteil betrachtet hätte, der verborgen werden musste, um eine Katastrophe zu verhindern. Sie war ausserdem sehr praktisch veranlagt. Hätte ich ihr meine sexuelle Neigung verraten, hätte sie gesagt: Mir ist das egal, heirate, bekomme Kinder und behalte es für dich. Denn es kommt ja nichts Gutes dabei heraus. Traurig ist nur, dass auch im Jahr 2014 viele Menschen nicht wagen, sich im beruflichen Umfeld offen zu ihrer sexuellen Neigung zu bekennen.

Woran liegt die Zurückhaltung?
Oft sind es Defizite in der Unternehmensführung. Das Topmanagement versäumt es meist, klar erkennbar zu demonstrieren, dass ein tolerantes Umfeld für ein Coming-out ein Wert ist, dem man sich verpflichtet fühlt.

Was sollten die Unternehmen tun, damit sich diese Situation ändert?
Erkennen, dass es nicht um etwas geht, was man einfach an die Personalabteilung delegiert, sondern um etwas, was von der Führungsebene angepackt werden muss. Es muss für Minderheiten Vorbilder geben, denen sie nacheifern können und die signalisieren, dass man es schaffen kann. Ausserdem ist es wichtig, dass man als Führungskraft in einem Unternehmen dafür sorgt, dass auch die heterosexuellen Mitarbeiter – und die sind nun mal in der Mehrheit – eine Unternehmenspolitik unterstützen, die der Inklusion verpflichtet ist. Nur wenn man ein sicheres und akzeptierendes Umfeld schafft, ermöglicht man sexuellen Minderheiten das Coming-out.

Warum muss man denn seine sexuelle Neigung im beruflichen Umfeld so offensiv nach aussen tragen? Das ist doch Privatsache.
Schon. Aber kleine Dinge können Grosses bewirken und ein neues Klima schaffen. Es beginnt schon damit, dass man im Gespräch nicht von vornherein annehmen sollte, jeder habe einen Partner des jeweils anderen Geschlechts. Man muss sich einfach mal in die Lage des anderen hineinversetzen – was es bedeutet, wenn man auf dem Schreibtisch nicht selbstverständlich ein Foto seines gleichgeschlechtlichen Lebenspartners aufstellen kann. Wenn man im Büro nie darüber sprechen kann, was man am Wochenende gemacht hat. Oder darüber, dass der Partner im Krankenhaus liegt und man ihn vielleicht nicht besuchen darf – ist das nicht schrecklich?

Manche Personalabteilungen fragen Mitarbeiter sogar schriftlich nach ihrer sexuellen Orientierung.
Auch da geht es manchmal einfach nur um ganz praktische Dinge. Denken Sie an international tätige Konzerne, die ihre Mitarbeiter in Länder entsenden, in denen Homosexualität illegal ist oder sogar unter Todesstrafe steht – was in 77 Ländern weltweit der Fall ist.

Meist schweigen Konzernchefs aber, wenn es um dieses Thema geht, um die Geschäfte in diesen Ländern nicht zu gefährden.
Oberste Priorität hat die Sicherheit der eigenen Mitarbeiter, niemals darf ein Chef etwas tun, was sie gefährden würde. Unternehmen können versuchen, Meinungen zu beeinflussen, und als ich bei BP war, haben wir das auf verschiedenen Wegen getan. Ist die Lage völlig inakzeptabel, muss man sich sogar aus einem Land zurückziehen.

Heute hält BP knapp 20 Prozent am Staatskonzern Rosneft – sollte BP-Chef Bob Dudley da im Hinblick auf die Anti-Schwulen-Politik der russischen Regierung Kritik üben?
Ich will nicht darüber reden, was BP tun sollte, denn ich habe das Unternehmen verlassen. Ganz allgemein gilt aber: Kritik bringt nichts, wenn einem die Leute die Tür vor der Nase zuschlagen. Wichtig ist, in möglichst vielen Ländern der Welt innerhalb des Unternehmens ein Umfeld zu schaffen, in dem Minderheiten gleiche Chancen haben.

Sie selbst haben sich damals bei BP ausdrücklich für die Förderung von sexuellen Minderheiten eingesetzt. Hat es geholfen, dass niemand wusste, dass Sie selbst betroffen waren?
Ich war jedenfalls recht deutlich in meiner Position, hatte aber gleichzeitig Angst vor den Folgen. Selbst der linksliberale «Guardian» veröffentlichte damals die Schlagzeile: «BP fördert Schwule!» Das sagt viel darüber aus, wie das Klima damals war.

Hat Sie in den vier Jahrzehnten bei BP je jemand nach Ihrer sexuellen Neigung gefragt?
Viele Leute vermuteten wohl, dass ich homosexuell bin, aber gefragt hat in all den Jahren nur einmal ein Journalist.

Und was haben Sie ihm geantwortet?
Sie haben den falschen Mann.

Warum ist das Coming-out der Mitarbeiter eigentlich gut für ein Unternehmen?
Ist doch ganz einfach: Wenn jemand für mich arbeitet, will ich sicher sein, dass ich sein ganzes Hirn zur Verfügung habe. Ich will nicht, dass jemand sich darauf konzentriert, einen Teil des eigenen Lebens zu verbergen und alle möglichen Strategien zu entwickeln, damit nicht herauskommt, dass er homo- oder bisexuell ist. Denn das alles verursacht versteckte Kosten und reduziert die Produktivität. Manche Studien kommen zu dem Schluss, dass die Produktivität eines Mitarbeiters in so einem Fall um 30 Prozent sinken kann. Das hat also auch volkswirtschaftliche Nachteile.

Das wirklich zu messen, ist ja wohl kaum möglich, oder?
Fest steht, dass ein Mitarbeiter, der authentischer ist, bessere zwischenmenschliche Beziehungen und mehr Vertrauen aufbaut. Das hilft auch dem Verhältnis zu externen Kunden. Ein Klima, das Offenheit und Toleranz für Minderheiten schafft, ist gut fürs Geschäft, weil man Produkte besser vermarkten kann – schliesslich gibt es jede Menge schwuler und lesbischer Konsumenten.

Es könnte aber gewisse Kreise, die für Unternehmen ökonomisch ebenfalls attraktiv wären, auch abschrecken …
Allerdings. Tatsächlich hat mir neulich ein junger Ingenieur und Berater erzählt, er müsse seine Sexualität geheim halten, da dies seine Kunden abschrecken könnte. Auf jeden Fall will man als Unternehmen die besten Talente anziehen, und unter den Minderheiten sind oft Überflieger, die sich besonders anstrengen – die kommen unter Umständen aber nicht, wenn man ihnen nicht das richtige Umfeld bietet.

Ist in manchen Branchen das Coming-out für Homo-, Bi- und Transsexuelle schwerer als in anderen?
Das gilt sicherlich für die Branchen Energie und Bergbau. Soweit ich weiss, gibt es dort in den oberen Führungsetagen keinen einzigen Homosexuellen. Bei den Medien und Kreativen ist es anders, auch im Finanz- und Bankenbereich. Generell, glaube ich, ist es für Einzelkämpfer einfacher als für Mitarbeiter in grossen Organisationen. Soweit bekannt, gibt es unter den Fortune-500-Unternehmen keinen einzigen homosexuellen Chef und hier in Grossbritannien mit Christopher Bailey bei Burberry auch erst einen einzigen Vorstandsvorsitzenden eines grossen, börsennotierten Unternehmens.

Sie sind immer noch in der Energiebranche tätig, die als besonders homophob gilt. Was tun Sie heute bei Riverstone dafür, dass sich das ändert?
Riverstone ist ja nur ein kleines Unternehmen mit knapp zwanzig Mitarbeitern, ausser mir gibt es noch einen weiteren homosexuellen Kollegen hier. Wir haben kaum Hierarchien, und so ist das kein Problem. Grundsätzlich bin ich jetzt stärker daran interessiert, in der Wirtschaft generell etwas zu verändern und nicht nur in einem einzelnen Unternehmen oder einer Branche wie dem Energiesektor. Mein Buch und die gleichnamige Website www.glasscloset.org, die wir eingerichtet haben, sollen dazu beitragen. Dort kann man sich austauschen, findet Beispiele von Erfahrungen anderer Schwuler und Lesben im Berufsleben, und es gibt Links zu Netzwerken wie Outstanding.