BILANZ: Die Champions-League-Qualifikation hat Sie nach Zürich gebracht. Welche Beziehung haben Sie zur Schweiz?

Karl-Heinz Rummenigge: Ich lebte knapp zwei Jahre in Genf, es war eine sehr schöne Zeit. Ich konnte Fussball spielen, ohne den ganz grossen Druck zu haben. Es war kein Drama, wenn man mal ein Spiel verlor. Ich habe nach wie vor Freunde dort und auch in Basel, habe also noch eine enge Beziehung zur Schweiz.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Wie häufig sind Sie in der Schweiz?

Sicher zweimal pro Monat. Ich bin relativ oft bei der Uefa und bei der European Club Association (ECA), die ja beide ihren Sitz in Nyon haben, und hin und wieder bei der Fifa in Zürich.

Sie haben die Fifa als «Korruptionsstadel» bezeichnet und den Präsidenten Sepp Blatter als «König ohne Reich». Hat sich Blatter schon bei Ihnen gemeldet?

Das hat er, und er hat sich über den rüden Ton beschwert. Den habe ich allerdings ganz bewusst gewählt.

Warum?

Erstens gibt es gewisse Fakten, die bereits bekannt sind, etwa die Fälle Bin Hammam oder ISL. Zweitens bin ich der Meinung, dass man – wenn man auf Missstände aufmerksam machen will – manchmal eine etwas schärfere Tonart wählen muss. Ich habe kein dramatisches Problem mit Blatter persönlich. Aber die Fifa – und auch die Uefa – haben grossen Reformbedarf. Besonders beim Thema Demokratie, bei der Transparenz und der Governance. Die Verbände sind verkrustet und wollen nicht, dass sich am Status quo etwas ändert. Aber das ist dringend nötig.

Wie muss eine reformierte Fifa in Ihren Augen konkret aussehen?

Sie muss demokratischer sein. Die Fussballfamilie besteht nicht nur aus Verbänden, sondern auch aus Clubs, aus Ligen, Spielern, Schiedsrichtern. Alle Anspruchsgruppen müssen in der Fifa ihren Platz haben und mitentscheiden können. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Das Wichtigste im Fussball ist der Spielkalender. Der ist der Schlüssel zu allem. Er wird alle vier Jahre von der Fifa für die Interkontinentalverbände aufgestellt, und von dort aus geht das hinunter bis in die fünfte Liga jeder Nation. Da müssen wir ein Mitspracherecht haben.

Wie wollen Sie Ihre Ideen durchsetzen?

Die Fifa ist ein Monopol, dem wir uns unterwerfen müssen, sonst erhalten wir keine Lizenz für Bundesliga oder Champions League. Aber es gibt den juristischen Fakt, dass die Spieler Angestellte der Clubs sind. Die Fifa-Regularien zwingen uns dazu, diese Spieler kostenlos für Länderspiele abzustellen und auch noch selbst zu versichern. Ich glaube nicht, dass es juristisch haltbar wäre, wenn ein Club einmal dagegen klagen würde.

Glauben Sie, Blatter lässt sich gross davon beeindrucken?

Blatter hat kein gutes Image. Und wie ich ihn kenne, will er seine letzte Amtszeit nicht so beenden. Er wäre klug beraten, Reformen einzuleiten, bevor das sein Nachfolger macht oder bevor eine Revolution von aussen kommt. Denn eine Revolution von aussen bringt mit Sicherheit grosse Irritationen und Probleme.

Theo Zwanziger, Präsident des Deutschen Fussball-Bundes (DFB), hat sich in der Fifa zum Korruptionsbekämpfer aufgeschwungen. Bezüglich innerer Revolution liegen die Positionen zwischen Zwanziger und Ihnen aber weit auseinander, Sie haben ihn deswegen hart kritisiert.

Das hat sich geändert. Wir hatten kürzlich ein Gespräch, er teilt meine Meinung, dass die Verbände sich verändern müssen in Richtung Transparenz, Demokratie und Governance. Er scheint nun zu grundsätzlichen Reformen bereit zu sein. Die Frage ist nur, wie man in solchen verkrusteten Organisationen ans Ziel kommt. Im DFB ist das schon weitgehend gelungen.

Ist diese interne Revolution machbar mit dem gegenwärtigen Personal im Fifa-Präsidium und im -Exekutivrat?

Da muss man abwarten. Ich habe mir Naivität abgewöhnt.

Im Klartext: Blatter muss weg?

Er ist bis 2015 gewählt. Die innere Revolution kann nur von ihm eingeleitet werden. An seiner Stelle würde ich das tun. Wenn ich etwas nicht verhindern kann, dann mache ich es lieber selber. Hosni Mubarak hätte sich vor einem Jahr auch nicht vorstellen können, dass er aus dem Amt gejagt würde. Revolutionen entstehen immer aus Unzufriedenheit. Die Clubs sind unzufrieden. Total unzufrieden! Und sie sind am längeren Hebel.

Inwiefern?

Die ECA hat ein Memorandum of Understanding mit Uefa und Fifa, das 2014 ausläuft. Danach sind wir nicht mehr gebunden, die Regularien der Fifa zu akzeptieren. Spätestens dann käme ein grosses Problem auf die Verbände zu.

Konkret?

Dann könnten sich die Clubs verselbständigen. Fifa und Uefa brauchen die Clubs, um eine WM und eine EM zu spielen. Aber die Clubs brauchen beide nicht. Theoretisch können wir Bundesliga und Champions League spielen – auch ohne Verbände.

Bayern-Ehrenpräsident Franz Beckenbauer sass bis Juni jahrelang im Exekutivkomitee der Fifa. Er ist dort nicht aufgefallen als einer, der sich gegen das System wehrte.

Es ist sehr schwierig, sich von innen gegen das System zu wehren, weil das System sehr stark und sehr klug aufgebaut ist. Ich hätte mir oft gewünscht, dass er die Interessen der Klubs nachhaltiger vertritt, daraus mache ich keinen Hehl. Aber ich bin skeptisch, ob er allein dazu in der Lage gewesen wäre.

Kann sich überhaupt etwas ändern, solange die Sponsoren dabeibleiben? Beim Internationalen Olympischen Komitee begann die Aufarbeitung des Skandals um Salt Lake City auch erst, als die Sponsoren drohten. Das scheint hier nicht der Fall zu sein.

Man muss es nüchtern sehen: Fussball ist ein Milliardengeschäft geworden, jeder versucht hineinzukommen. Wenn ein Sponsor aussteigt, steht der nächste schon da.

Und solange das Geld weiter fliesst, ist Blatters Position stark.

Ich weiss, dass Blatter das Geld immer klug genutzt hat. Das kann man klar und deutlich so sagen. Aber Geld ist nicht das Entscheidende im Fussball. Wissen Sie, was das Entscheidende ist? Die Fans. Wenn die irgendwann den Daumen senken, weil es sie ankotzt, dann gibt es ein Problem. Denn dann wird sich jeder Sponsor fragen: Soll ich weitermachen? Und ich merke, dass mindestens in den Ländern, in denen Blatter kritisch gesehen wird – in England, Deutschland oder auch der Schweiz –, die Fans ein grosses Problem mit ihm haben.

Blatters Position zu den Korruptionsvorwürfen im Exekutivkomitee ist: Er habe diese Leute nicht ausgewählt; wenn die krumme Dinger drehen, könne er nichts dafür.

Es stimmt, dass ihm die Mitglieder im Exekutivrat hineingesetzt werden. Aber als Chef bin ich für alles verantwortlich. Wenn der FC Bayern verliert, muss ich auch akzeptieren, dass ich verantwortlich gemacht werde – auch wenn ich nicht gespielt, nicht trainiert und die Mannschaft nicht aufgestellt habe. Am Ende des Tages muss selbst der Fifa-Präsident die Verantwortung für das übernehmen, was in seinem Laden passiert. Es liegt an ihm, dass es dort korrekt, seriös und sauber zugeht.

Als grossen Reformschritt hat er bekanntgegeben, dass die Weltmeisterschaften nicht nur vom 24-köpfigen Exekutivkomitee, sondern von allen 204 Verbänden vergeben werden. Reicht das?

Man muss aufpassen, dass es dann für die Bewerber nicht noch teurer wird.

Sie haben sich sehr stark für die Regeln des Financial Fair Play eingesetzt, wonach ab 2014 die europäischen Clubs nicht mehr ausgeben dürfen, als sie einnehmen. Wird das funktionieren?

Ich hoffe sehr, dass es funktionieren wird, die Übergangsphase läuft bereits seit dem 1. Juli. Aber ich habe gewisse Bedenken, wenn ich mir manche Clubs in England, Spanien oder Italien anschaue. Ich frage mich, ob sie es nicht ernst nehmen oder einfach noch nicht begriffen haben, dass man sich nun darauf vorbereiten muss. Clubs, die letztes Jahr 140 Millionen Euro Verlust gemacht haben …

… Sie meinen Manchester City.

Diese Vereine müssen jetzt anfangen runterzukommen. Es wird sehr stark von der Uefa abhängen, wie diese Regularien umgesetzt, kontrolliert und wenn nötig auch sanktioniert werden.

Die Höchststrafe für Clubs, die gegen das Financial Fair Play verstossen, ist der Ausschluss von den europäischen Wettbewerben. Ist es realistisch, Manchester United oder Real Madrid nicht zur Champions League zuzulassen, weil sie über ihre Verhältnisse leben?

Regeln müssen konsequent gelebt werden. Es kann nicht sein, dass einer nur die gelbe Karte bekommt, weil er wichtig für den TV- oder Sponsorenmarkt ist, und ein anderer für dasselbe Vergehen die rote Karte. Das ist für die Uefa die Nagelprobe. Im Übrigen möchte ich Ihnen eines sagen, meine Herren: Der europäische Fussball hat jetzt wenigstens Regularien. Die Eurozone hat sie noch nicht. Financial Fair Play wäre auch dort keine verkehrte Regel.

Die Eurozone hat sie gehabt mit den Maastricht-Kriterien.

Wenn man sie nicht lebt, sind sie nichts wert. Griechenland ist ein warnendes Beispiel dafür: Da wurden falsche Angaben gemacht, die wurden nicht streng geprüft, die Regeln wurden nicht konsequent umgesetzt und der Verstoss nicht sanktioniert. Änliches gilt es im Fussball zu verhindern.

Investitionen in eine Firma sind nicht verboten, auch wenn man Verluste macht.

Die Gefahr, dass ein Verein vor Gericht geht und recht bekommt, ist gross. Das kann man nicht ausschliessen, denn viele Vereine sind Aktiengesellschaften, deren Vorstände laut Aktionärsgesetz zu so einem Schritt sogar verpflichtet wären. Aber der Super-GAU, den ich mir persönlich vorstelle, ist folgender: Bayern München qualifiziert sich für die Champions League, dann teilt die Uefa mit: Ihr habt gegen finanzielle Kriterien verstossen, ihr dürft nicht mitmachen. Ich glaube nicht, dass ich dann noch lange in Amt und Würden wäre.

Besteht nicht die Gefahr, dass so die Machtverhältnisse zementiert werden und nur immer die gleiche Handvoll Clubs vorne mitspielt? Neue Herausforderer wie Manchester City, die sich mit Millionentransfers an die europäische Spitze gehievt haben, wird es dann nicht mehr geben.

Das war historisch immer so. Es waren immer Real Madrid, Barcelona, ein paar Engländer und Bayern München vorne, manchmal noch ein französischer oder einer der drei grossen italienischen Clubs. Was anders ist: Früher hatten Vereine wie Ajax Amsterdam oder RSC Anderlecht noch eine Chance, einmal den Wettbewerb zu gewinnen. Die haben sie heute nicht mehr. Wenn sie heute das Viertelfinale erreichen, ist das schon eine Sensation. Aber am Ende des Tages wird es allen helfen. Allen.

Inwiefern?

Wir haben alle samt und sonders zu viel Geld ausgegeben für Transfers, Gehälter und lange Vertragslaufzeiten. Wir sind nicht mehr in einer rationalen Welt. Über 60 Prozent aller Proficlubs in Europa schreiben rote Zahlen, in den beiden spanischen Ligen stehen 21 von 42 Clubs unter Insolvenzkuratel. Ich kenne wenige Branchen, die unter diesen Umständen ihr Geschäft à la longue betreiben können.

Welche Liga ist besonders gefährdet?

Die grössten Schwierigkeiten wird Osteuropa bekommen. Weil dort fast nur Oligarchen das Geschäft betreiben, die Millionen Eigenkapital in ihren Club einschiessen. Und das ist seit dieser Saison auf 15 Millionen Euro pro Jahr limitiert und nur bis 2014 möglich.

Können namhafte Clubs wie FC Bayern, Inter Mailand oder Manchester United eigentlich pleitegehen? Oder sind die «too big to fail»?

Ich würde nicht sagen «too big to fail». Aber manche sind «too important to fail». Die beiden grossen spanischen Clubs, Real Madrid und Barcelona, spielen auch gesellschaftsstrukturell eine eminent wichtige Rolle. In Italien ist es dasselbe. Dort würde man bei einer Notlage helfen. In Deutschland wäre das ein No-Go.

Real Madrid hat kürzlich einen siebenjährigen Spieler unter Vertrag genommen, der holländische Verein Venlo im April sogar ein 18 Monate altes Kleinkind. Wo sind die Grenzen der Jugendförderung?

Einen 18 Monate alten Säugling unter Vertrag zu nehmen, ist Irrsinn, und auch bei einem Siebenjährigen weiss man nicht, wohin der Weg geht. Der mag noch so grosse Talente haben – in dem Alter kann man noch keine seriöse Prognose abgeben. Ich weigere mich sogar, in unseren Club 15- oder 16-jährige Spieler zu holen. Die werden aus ihrer heimischen Umgebung herausgerissen, mit häufig sehr negativen Konsequenzen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht überdrehen und unsere sozialen Verpflichtungen verletzen. Der Run auf junge Spieler war noch nie so gross, besonders in Deutschland. Es gibt derzeit einen regelrechten Jugendwahn.

Woher kommt der?

Zum einen sind junge Spieler kostengünstig …

… das waren sie schon immer.

Ja, aber jetzt ist man auch erfolgreich mit ihnen, siehe FC Bayern, Borussia Dortmund oder die deutsche Nationalmannschaft. Junge Spieler sind einfacher zu führen, weil sie hungrig sind. Und es spielt der Imagefaktor: Junge Teams sind sympathischer.

Welche Investitionen sind nötig, um einen Jugendspieler zur Nationalmannschaftsreife zu entwickeln?

Die Kosten für unser Nachwuchszentrum belaufen sich auf sechs bis sieben Millionen Euro pro Jahr.

Sechs bis sieben Millionen wären keine allzu grosse Transfersumme für Bayern München.

Das ist richtig. Wir haben eine Zwei-Säulen-Strategie. Zum einen Stars wie Arjen Robben, Franck Ribéry oder Manuel Neuer, die auch viel Geld gekostet haben, und zum anderen das Nachwuchszentrum mit der Vorgabe, jedes Jahr einen Spieler ins Profikader nachzuziehen. Das ist uns über die Jahre relativ gut gelungen – siehe Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger oder Thomas Müller. Es braucht Glamour und Heimatgefühl.

Gibt es einen Schweizer, den Sie gerne verpflichten würden?

Es gibt Schweizer, die auch bei den Bayern spielen könnten.

Zum Beispiel?

Mir ist bei den Spielen gegen uns Xherdan Shaqiri vom FC Basel aufgefallen. Der wird auch immer mal wieder mit uns in Verbindung gebracht. Aber das wäre noch zu früh. Bei uns wäre er auf der Position von Robben und Ribéry, da wäre es schwer für ihn, regelmässig zum Einsatz zu kommen.

Beim FC Bayern besteht fast die ganze Führungsriege aus Ex-Fussballern. Bringt dieser geballte Sachverstand im Management nicht auch Probleme für den Trainer?

Ich habe den Eindruck, dass die Öffentlichkeit mehr Probleme mit diesem Sachverhalt hat als unser Trainer.

Mit Ihrem Satz «Fussball ist keine Mathematik» hatte Ihr damaliger Trainer Ottmar Hitzfeld aber durchaus Probleme.

Da hatte ich unrecht. Das sagte ich aus der Verärgerung heraus, dass Ottmar Hitzfeld nach einer 2:0-Führung gegen die Bolton Wanderers drei Spieler austauschte, damit diese Kräfte sparen, und wir dann den Ausgleich kassierten. Ich habe mich aber nachher bei Ottmar für den Satz entschuldigt.

Danach machte Ottmar Hitzfeld den Schritt aus dem Vereinsleben hin zur Nationalmannschaft. Könnte es für ihn eines Tages einen Weg zurück zum FC Bayern München geben?

Das glaube ich nicht. Wir hatten zwei erfolgreiche Zeiten mit ihm, aber an eine Rückkehr wird von beiden Seiten nicht mehr gedacht.

Hitzfeld ist in der EM-Qualifikation nicht sehr gut unterwegs. Seine Erfolge als Vereinstrainer konnte er mit der Schweiz nicht wiederholen. Erstaunt Sie das?

Wer in der Schweiz erwartet, dass sich Hitzfeld für jedes Turnier qualifiziert und dort vielleicht sogar eine wichtige Rolle spielen kann, verkennt einen wichtigen Fakt: Jeder Trainer ist von der individuellen Qualität seiner Spieler abhängig. Und die ist in der Schweiz einfach nicht vergleichbar mit jener in Deutschland oder Spanien. Und manchmal braucht man mit einem Trainer Geduld. Ich kann den Schweizern nur dringend empfehlen, mit Ottmar Hitzfeld Geduld zu haben. Was er bereits jetzt mit der Schweizer Mannschaft bei der Weltmeisterschaftsqualifikation und der WM erreicht hat, erachte ich als herausragend.

Torjäger und Geldsammler: 
Karl-Heinz Rummenigge (55) ist Vorstandschef des FC Bayern München, des erfolgreichsten und finanziell gesündesten deutschen Fussballvereins, der 312 Millionen Euro Umsatz macht. Er präsidiert auch die ECA, die Interessenvertretung von 197 europäischen Fussballclubs. In seiner aktiven Zeit in den achtziger Jahren bei Bayern München war Rummenigge einer der besten Stürmer der Welt. Von 1984 bis 1987 spielte er bei Inter Mailand, dann zwei Jahre bei Servette.