Als sich das Spekulationsfieber in den späten Neunzigerjahren über den Globus ausbreitet, erwischt es kein europäisches Land so heftig wie die Schweiz. 1,6 Millionen Menschen oder 30 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 74 sind hier zu Lande über die Jahrtausendwende an der Börse investiert. Global betrachtet, besitzen nur noch die USA einen höheren Anteil an Aktionären.

Noch nie hat der Schweizer Finanzplatz einen derart hohen Aktienberg gesehen. Zwischen Januar 1998 und Juli 2001 fliessen an die 100 Milliarden Franken allein in Aktienfonds – ein Drittel davon zwischen Oktober 1999 und März 2000, also exakt auf der Spitze der Hausse. Ende 2001 hat jeder Privatanleger in der Schweiz durchschnittlich 86 250 Franken in Fonds angelegt. Ein Vielfaches dieses Betrags investieren Kleinanleger in Einzelaktien. Der Kaufrausch ist so gewaltig, dass die gesamten Aktien- und Fondsanlagen in den inländischen Depots bei den Schweizer Banken im Dezember 2000 die Billionengrenze überschreiten.

Rekordverdächtig sind aber auch die Verluste, die Schweizer Privatanleger beim Kaskaden-Crash erleiden. Von den besagten 100 Milliarden ist Ende Juli 2002 kein einziger Franken mehr übrig. Ein Viertel des Schweizer Bruttoinlandprodukts – einfach ausradiert.

Nun müssen die Investoren vielleicht Jahre warten, bis sie diesen Rückstand wieder aufgeholt haben. Die (Buch-)Verluste sind so horrend, dass es selbst den Experten die Sprache verschlägt. Der Kurszerfall, anfänglich als «reinigendes Gewitter» verniedlicht, wächst zur nie enden wollenden Sintflut heran. Niemand will je einen derartigen Absturz erlebt, geschweige denn erwartet haben.
Die hundert Milliarden Franken Neugeld, die seit 1998 in Aktienfonds
geflossen sind, hat der Crash inzwischen weggefressen.

Die Anleger sind geschockt. Nichts von dem, was die Experten erzählt und prognostiziert haben, ist eingetroffen.

Statt des angekündigten Wirtschaftbooms erleben wir jetzt eine Investitionskrise, statt des versprochenen Jobwunders gibt es Massenentlassungen. Amerikanische Technologiefirmen, welche die Banken vor zwei, drei Jahren noch wärmstens zum Kauf («strong buy») empfohlen haben, bezeichnen Vertreter der gleichen Banken heute ungeniert als «Schrott» (UBS-Warburg-Chefökonom Klaus Wellershoff auf «Presse-TV»).

Der mächtige Allfinanz-Konzern Credit Suisse Group, der 1999 fünf Milliarden Franken Gewinn erzielt hat, «liegt heute röchelnd darnieder», wie Peter Vonlanthen, Chef des Kaufmännischen Verbands Zürich, erzürnt feststellt. Und obschon die Konsumentenstimmung umso tiefer sinkt, je stärker die Kurse fallen, spielt man die Auswirkungen des Börsencrashs offiziell herunter. «Vertrauen schaffen» lautet die Devise.

Lange Zeit will das Staatssekretariat für Wirtschaft, Seco, nicht zugeben, dass die Schweiz im letzten Jahr eine Rezession durchlief. «Die dachten wohl, es sei besser, die Leute nicht in Panik zu versetzen», sagt Janwillem Acket, Chefökonom der Bank Julius Bär.

Auch als sich die Börsen auf dem Top befinden, hebt niemand den Warnfinger. «Ich kenne keinen Professor oder Volkswirt, der ‹Vorsicht!› gerufen hat. Jeder hat da mitgemacht. Das können Sie auch gegen mich verwenden», gesteht Wirtschaftsprofessor Manfred Timmermann.

Ob Multimillionär oder Kleinverdiener – eines haben die meisten Privatanleger in der Schweiz gemeinsam: Sie vertrauen ihrem Anlageberater. Nur jeder Fünfte liest die Geschäftsberichte der Firmen, in die er investiert, wie eine Studie der Universität Zürich herausgefunden hat. Das hat die Privatanleger zur leichten Beute der Finanzindustrie gemacht.

In den goldenen Neunzigern rufen Analysten, Anlageberater und Finanzmedien «kaufen, kaufen, kaufen». Laut einer Auswertung der Uni Basel besteht die Mehrheit aller Aktientipps aus Kaufempfehlungen. Selbst als die Kurse schon kräftig fallen, heisst es «kaufen, kaufen, kaufen».

Es ist die Zeit der kollektiven Verblendung, als aus schlecht gut und aus minus plus wird. Als das holländische Telekommunikationsunternehmen KPN ein um 80 Prozent tieferes Betriebsergebnis ausweist und die Aktie um 6 Prozent in die Höhe schiesst, weil alle statt auf das schwache Betriebsergebnis nur auf den Gewinn schauen, der ohne die ausserordentlichen Kosten aus dem Vorjahr um 20 Prozent höher ausfällt. Es ist die Zeit, als Marktmacher scheinbar mühelos die Gesetze der Mathematik aushebeln. Als eins und eins plötzlich vier ergibt und die US-Firma Palm Computing an der Börse plötzlich doppelt so viel wert ist wie ihre Mutter 3Com, die 94 Prozent der Palm-Aktien besitzt. Es ist der absolute Wahnsinn.

Maklern flattern die Millionen für Luxus-Terrasseneigentumswohnungen in den Nobelgemeinden am Zürichsee gleich bündelweise auf den Tisch. Bankkredite benötigen die gut situierten Käufer nur selten, schliesslich haben sie ihr restliches Vermögen ja in sicheren, ständig an Wert gewinnenden Technologieaktien angelegt. Investmentberater werden von Pensionskassenmanagern mit den Worten «Sie können mir nicht mehr weiterhelfen, ich kann das besser» vor die Tür gesetzt. An der Uni St. Gallen wollen 70 Prozent der Betriebswirtschaftsstudenten Investment-Banker werden.

Natürlich gibt es Erschütterungen. Aber immer wieder heisst es: Keine Bange, es ist alles okay.
Vor der Jahrtausendwende begann das Volumen der Leerverkäufe massiv zu steigen:
Baissiers sahen ihre grosse Stunde kommen.

Als der Dow Jones Index am 6. März 2000 aus heiterem Himmel um über 400 Punkte einbricht, verkündet Präsident Bill Clinton der amerikanischen Öffentlichkeit, die Grunddaten der Wirtschaft seien solid und der langfristige Trend an den Märkten sei positiv. Vizepräsident Al Gore spielt den 400-Punkte-Taucher gar zur «normalen Marktbewegung» herunter. Auch in Europa erhalten die Börsen breite Unterstützung. Nach einer Umfrage bei 600 Fachleuten in 81 Ländern kommt das Münchner Ifo-Institut im März 2000 zum Schluss, dass die Weltwirtschaft zu einem neuen Rekordhoch durchstarte. Das Basler Forschungsinstitut Prognos verspricht «zehn Millionen mehr Beschäftigte in der EU bis 2010», der Wirtschaftsverband Vorort sowie die Chefökonomen der Schweizer Grossbanken und Konjunkturinstitute verkünden, der Aufschwung sei so breit abgestützt wie schon lange nicht mehr.

Was kann da schon schief gehen?

Warner wie der Chefökonom der Deutschen Bank Alex Brown, Edward Yardeni, der frühere Chef der US-Börsenaufsicht SEC, Arthur Levitt, oder der Schweizer Ökonom Fredmund Malik, welche die Bilanztricks der Manager schon früh aufdecken und anprangern, verschwinden entweder von der Bildfläche oder werden ignoriert.

Selbst der amerikanische Notenbankchef verliert seine Autorität. Als Alan Greenspan am 5. Dezember 1996 erstmals vom «irrationalen Überschwang» spricht, erzittern die Börsen noch: In Japan fällt der Nikkei um 3,2 Prozent, der Hang Seng in Hongkong gibt um 2,9 Prozent nach, in Deutschland rutscht der DAX um 4 Prozent ab, und der Dow Jones Index notiert zu Handelsbeginn 2,3 Prozent niedriger. Im März 2000, als Greenspan vor «schlechteren Zeiten» und «hohen Aktienbewertungen als Risiko für die Wirtschaft» warnt, schiesst der Nasdaq auf ein neues Allzeithoch. Es kann kaum noch besser werden. Doch es kommt schlimmer denn je.

Während die Masse kauft, wie wenn es kein Morgen mehr gäbe, setzen immer mehr Anleger, die entweder nie an die New Economy geglaubt haben oder die sich absichern wollen, immer stärker gegen den Trend. Baissiers wie der ehemalige UBS-Manager Gary Brinson leihen sich von den Banken Milliarden von Aktien aus und verkaufen diese in der Hoffnung, sie später bedeutend günstiger zurückkaufen zu können (Leerverkäufe oder Short-Positionen).

In der Schweiz steigt der Wert der entlehnten Wertschriften zwischen 1998 und 1999 um 60 Prozent auf 256 Milliarden Franken. Im März 2000 sind an den amerikanischen Börsen mehr als sechs Milliarden Aktien leer verkauft. Bis im Juli 2002 schwillt diese Zahl auf zwölf Milliarden an. Wie die Hausse die Hausse genährt hat, nährt jetzt die Baisse die Baisse. «Solche Massen-Shorts sind perfekte Perpetuum mobile nach unten», meint ein Derivatspezialist.

Als die Zahl der Baissespekulationen ein Ausmass erreicht, das weit über dem Normalen liegt, beginnen die Kurse im Frühjahr 2000 zu fallen. Zuerst zaghaft, dann immer schneller und heftiger. Aktien wie jene von Cisco Systems, auf denen leer verkaufte Positionen im Umfang des dreifachen durchschnittlichen Tagesumsatzes lasten, verlieren in der Folge über 80 Prozent. Doch die Leerverkäufe sind nur ein Dominosteinchen.

Im März 2000 haben die Brokerfirmen der New York Stock Exchange Wertschriftenkredite im Rekordvolumen von 278,5 Milliarden Dollar oder umgerechnet rund 400 Milliarden Schweizerfranken ausstehend. Als die mit Aktien gedeckten Kredite nicht mehr ausreichend abgesichert sind und die Schuldner kein Geld mehr nachschiessen können, werden millionenschwere Aktienportefeuilles auf Befehl der Kreditabteilungen kurzerhand zu Tiefstpreisen liquidiert. Anlageberater, die sich gegen solche Zwangsliquidationen ihrer Kundenportfolios auflehnen, bekommen von den Kreditmanagern schon mal zu hören, dass das hier nicht das Sozialamt sei.
Manche Glücksritter der Hausse müssen heute Hypothekarkredite aufnehmen,
um ihren Lebensstandard einigermassen zu halten.

Nun zerrinnen auch den Yuppies mit den millionenteuren Immobilien die Aktienvermögen buchstäblich zwischen den Fingern. Um ihren Lebensstandard weiter finanzieren zu können, bleibt vielen nichts anderes übrig, als Hypothekarkredite in Millionenhöhe aufzunehmen. Einzelne Zürcher Gemeinden zählen schon so viele solche Fälle, dass sie darin einen Trend zu erkennen glauben. «Diese Leute sind nicht insolvent, aber sie haben sich verspekuliert», sagt Max Rieser vom Notariat Riesbach-Zürich, welches das Zürcher Seefeld sowie die Gemeinden Zollikon und Zollikerberg umfasst.

Als fatal entpuppen sich nun gewisse Anlagestrategien, welche die Banken Tausenden von privaten und institutionellen Kunden mit dem Argument, sie verminderten dadurch ihr Verlustrisiko, verkauft haben.

Tatsächlich tritt genau das Gegenteil ein. Die so genannten «Geld oder Aktien-Lieferung»- (Goal) oder «Buy low or cash»-Anleihen (Bloc) bringen den Aktionären unberechenbare Risiken und hohe Verluste. Denn wer sich mit dem Kauf solcher Papiere verpflichtet, eine bestimmte Aktie zu einem bestimmten Preis zu kaufen, kann eine Menge Geld verlieren, wenn der Preis der Aktie sinkt.
Rund zwei Drittel der Schweizer Aktienbesitzer verdienen weniger als 8000 Franken,
ein Drittel hat ein Vermögen unter 100 000 Franken.

Viele Kleinanleger merken erst jetzt, dass sie einer grossen Lüge aufgesessen sind. Die Versicherungs- und Pensionskassenmanager, die bis vor kurzem noch die Vorzüge hoher Aktienquoten gepriesen haben, treiben die Börsenkurse nun mit ihren Panikverkäufen richtig gehend in den Keller. Für viele eine bittere Erfahrung, denn eigentlich kann sich hier zu Lande nur jeder zweite Börsianer Verluste leisten. Mehr als 60 Prozent der Schweizer Aktienbesitzer verdienen weniger als 8000 Franken im Monat, ein Drittel hat weniger als 100 000 Franken Vermögen. In den Anlegerrubriken schweizerischer Wochenzeitungen wollen viele Kleininvestoren neuerdings nicht mehr einfach nur wissen, wo der SMI und der Dow Jones in zwölf Monaten sein würden, sondern, ob es ihre Aktie dann überhaupt noch gebe. Die Frage ist nicht mehr «Was soll ich kaufen?», sondern «Wann soll ich verkaufen?».

Ungeachtet der Milliardenverluste versprühen Medien und Experten weiterhin Zuversicht. Überall wird erzählt, wie tapfer die Kleinaktionäre dem Druck widerstünden; wie brav sie an ihren Aktien festhielten.

Doch nach den grossen versuchen nun auch immer mehr kleine Investoren zu retten, was noch zu retten ist. Im ersten Halbjahr 2002 fliessen aus Schweizer Aktienfonds netto 2,5 Milliarden Franken ab – so viel wie seit über zehn Jahren nicht mehr. In den USA schreiten die Privatanleger im Juli 2002 gar zum finalen Ausverkauf, als sie den Rekordbetrag von 52,6 Milliarden Dollar aus Aktienfonds abziehen. Dass die Kurse bald wieder dorthin klettern, wo die meisten eingestiegen sind, glaubt offenbar keiner mehr.

Seit die elfte Zinssenkung in den USA wirkungslos verpufft ist, sind die Anleger kaum noch willens und fähig, das angeforderte Vertrauen aufzubringen. «Das Sinken der Kurse hat zu einem Zeitpunkt eingesetzt, als das Vertrauen grösser und unkritischer nicht hätte sein können. Der zweieinhalbjährige Kurszerfall hat das Vertrauen gebrochen», analysiert der Ökonom Fredmund Malik. Von den zahlreichen Tipps, die der ehemalige Leiter Investment Management der Credit Suisse Financial Services, Erwin Heri, in seinem Buch «Die acht Gebote der Geldanlage» beschreibt, hätte sich einer tatsächlich als besonders nützlich erwiesen. Er heisst: (Ver)traue keinem!
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