Mikro? Bei mir in Zürich ist es enger
Ich schaue der halben Woche im Mikroapartment mit gespannter Erwartung entgegen. Dolcefarniente ist zwar nicht angesagt – wir gehen zum Arbeiten hin! Aber süsser als im grauen Zürich dürften die Tage im Süden schon werden. Und tatsächlich scheint bereits bei der Ankunft in Lugano die Sonne. Das Gebäude – bei der Stazione gelegen – ist rasch gefunden.
Die Haustüre lässt sich wie angekündigt per App entsperren. Dann das Zimmer: Modern, sauber, hell – der Balkon ragt in den Innenhof. Der 22-Quadratmeter-Raum wirkt überraschend grosszügig: Meine Ein-Zimmer-Wohnung von 28 Quadratmetern inmitten Zürichs fühlt sich enger an.
Eher makro statt mickrig präsentieren sich auch Küche, Bad und Schränke, dito das Bett und die Couch, die sich abwechselnd in der Wand verstauen lassen. Clever auch das Design des Tischs: Die zweite Plattenhälfte versteckt sich unter der ersten. Aufgeklappt bietet er viel Platz. Der erste Eindruck: positiv.
Doch dann folgt eine Enttäuschung: Die Smartphone-App friert beim Einchecken ein. Dabei wickelt City Pop sämtliche Services und Funktionen für das Apartment über die Plattform ab. Ich muss darauf verzichten. Und wieso nimmt der Snack-Automat im Parterre nur Münzen an?
Marc Bürgi im Mikroapartment.
Am nächsten Tag verwandelt sich das Apartment in ein Office: Der Laptop kommt auf den Tisch, ein Klappstuhl dient als Sitzgelegenheit. Die Standards sind ähnlich wie in meiner Zürcher Wohnung. Nur auf dem Stuhl sitze ich dort komfortabler – hier stellen sich bald Rückenschmerzen ein.
Nach zwei Tagen ist der letzte Abend angebrochen. Der monatliche Event – dieses Mal ein Grillfest – steht auf dem Programm. Stellt sich nun das Community-Feeling ein, das City Pop verspricht? Bis dahin sind wir kaum Mitbewohnern begegnet. Zum Fest im Innenhof tauchen dann aber viele auf. Bands spielen, eine Catering-Firma serviert Essen und Getränke.
So schön war die Party, dass es mich nicht stört, wenn die Band den letzten Song erst um 22.30 Uhr anstimmt. Vorher ist in an diesem Abend nicht an Schlaf zu denken. Nach dem morgendlichen Caffè ein Schreckmoment: Ich bin ausgesperrt, die Türe lässt sich mit der App nicht mehr öffnen! Und in einer halben Stunde wollte ich auf den Zug. Doch die Crew von City Pop entsperrt nach einem Anruf rechtzeitig das Schloss. Und so endet meine Zeit im Mikroapartment mit einem versöhnlichen Fazit: City Pop war eher top als ein Flop – nur die App enttäuscht.
Marc Bürgi, Redaktor «Handelszeitung»
Das sind Mikroapartments
Das Mikroapartment lässt sich als Antwort auf grosse gesellschaftliche Trends beschreiben, eigentlich steht der Begriff aber für etwas Banales: Eine Ein-Zimmer-Wohnung. Unter dem neuen Namen wird sie zur idealen Bleibe für ungebundene Singles. Denn immer mehr Menschen leben alleine und unsere Gesellschaft wird mobiler, wir reisen häufiger, wechseln Job und Lebenspartner öfter. Hinzu kommt: Wohnen in der Stadt ist teuer und wer sich etwas einschränkt, spart Geld. Verschiedene Firmen machen sich die Trends zunutze und wittern in kleinen Wohneinheiten ein grösseres Geschäft. Zwei Beispiele aus der Schweiz:
Microliving & Co-Living
Die Zuger Immobilienfirma Artisa knüpft unter dem Brand City Pop ein europaweites Netz von Microliving-Apartments. Die Wohnungen sind rund 20 bis 80 Quadratmeter klein, clever möbliert und stehen an bester Lage. In jedem Gebäude hat es Gemeinschaftsräume und City Pop bietet ein Rahmenprogramm, Partys und so fort – verbindet also Microliving mit Co-Living, dem gemeinschaftlichen Zusammenleben.
Die meist junge Kundschaft logiert mindestens einen Monat im Haus. Der Clou bei City Pop? Alles funktioniert über eine App, sie dient als Schlüssel, virtuelle Rezeption und Kreditkarte. Erste City Pops gibt es in Lugano und Zürich. In den nächsten fünf Jahren sollen im In- und Ausland 15'000 City-Pop-Wohnungen entstehen. Dies zu attraktiven Preisen: Im City Pop Lugano etwa, wo die «Handelszeitung» auf Einladung von Artisa probewohnte, beginnen die Apartment-Wochenpreise bei 188 Franken; im Objekt Zürich liegt der tiefste Wochenpreis bei 359 Franken.
Bewegter Grundriss
Die Zürcher Halter AG hat das Mikroapartment Movement entwickelt, in dem sich die Möbel elektrisch verschieben lassen – ein Knopfdruck reicht, und das Küchenregal wird zur Wohnwand. Durch die ausgeklügelte Gestaltung bieten die 25 bis 40 Quadratmeter kleinen Wohnungen mit separatem Bad erstaunlich viel Platz. Die Firma hat bereits mehrere hundert Einheiten gebaut und will das Konzept in Lizenz nun auch in Deutschland und anderen Ländern lancieren.
Migros-Kind als Mikro-Kind
Kleine Lebensräume? Kenn ich, kann ich. Ich nächtigte im Tiny House (10 m2), steige oft in verdichteten City-Hotelzimmern (14 m2) ab und halte das reduzierte Platzangebot im Minicamper (3 m2) gut aus.
Aber diesem Mikroapartment-Selbstversuch wohnt definitiv mehr Relevanz inne. In solchen Minibuden hausen Menschen ja nicht bloss für ein Wochenende – sie leben hier. Einen Monat, ein halbes Jahr, oft noch länger. Zu Hause beanspruche ich 53 Quadratmeter Wohnfläche plus Garten. Im City Pop Lugano sind es 22 Quadratmeter mit Kleinstbalkon. Vor der Anreise bauen sich unangenehme Gefühle auf: Erwartet mich im Tessin eine karge Kammer, eine Verrichtungsbox für digitale Nomaden? Microliving: ein fieser Anglizismus für mickriges Leben?
Gemach. Die 22 Quadratmeter im City Pop Lugano sind clever eingerichtet. Küche mit Glaskeramik-Herd, Geschirrspüler, anständiger Kühlschrank, Besteck und Geschirr in sechsfacher Ausführung, Badezimmer in Kleinhotel-Qualität – alles da. Plus viel Stauraum, die Mini-Bleibe ist mit acht Einbauschränken ausgestattet.
Andreas Güntert im Mikroapartment.
Das Bett klappe ich mühelos aus der Wand heraus und wieder hoch. Der Raum lässt sich gut verdunkeln. Wohn-Verdichtung wird hier verblüffend umgesetzt, persönlicher Storage-Raum und individueller Briefkasten inklusive. Und doch nerven ein paar Dinge. Badezimmer-Lavabo: Macht in schwarzer Ausführung zwar bella figura, wird aber schnell fleckig. Arbeitsstuhl: schönes Design, aber ergonomisch herausfordernd. Raumduft beim ersten Betreten: arg floral hochgepimpt. Zum Glück lässt sich das Fenster öffnen.
Leben im City Pop soll mehr sein als geschrumpftes Wohnen. Gemäss Werbeschrift wird man hier zum Mitglied des «Stamms der City-Popper», soll sich vernetzen mit den anderen Mikro-Menschen. Nur: In drei Tagen sehe ich niemanden von der Popper-Population; der Aufenthaltsraum bleibt leer. An einer Party treffen wir andere «Insassen». Einige leben seit Monaten hier und sind offenbar happy. Mauro hat zwei Lockdowns im Mikroapartment abgewohnt und liefert den Schlüssel zum sozialen Kodex: «City-Poppers treffen sich in der Waschküche. Dort lernst du die Leute kennen, Mann!» Grazie Mauro.
Bilanz nach drei Tagen Mikroapartment: Der Wechsel vom Migros-Kind zum Mikro-Kind scheint nicht angezeigt. Aber es fühlt sich besser an als gedacht. Ein würdiges Leben im Mikroapartment scheint möglich. Menschenmöglich.
Andreas Güntert, Redaktor Handelszeitung
Dieser Artikel wurde das erste Mal publiziert am 22.07.2021.
1 Kommentar
Erster Eindruck: negativ
Auf die Vorfreude auf das angemietete 2.5 Zimmer-Apartment in Lausanne folgte bittere Enttäuschung. Drei Wochen vor Eintritt in den "Stamm der City-Popper" wurde mir Mitte Juni beschieden, dass das Apartment wegen Bauverzögerungen nicht zur Verfügung steht. Auf Nachfrage wurde als Alternative ein Hotelzimmer angeboten. Zwei Monate Leben und Arbeiten in einem Hotelzimmer mit 17 m2, sind auch für einen überzeugten Fan von Mini-Stadtwohnungen zu wenig. Innert Tagen musste ich selbst nach einer Alternative Ausschau halten. Auf die vorausbezahlte Miete warte ich bis heute und City Pop ist weder per E-Mail noch Briefpost erreichbar.
Das Konzept ist einfach und überzeugend - weniger überzeugend ist dagegen Kundenorienteirung und Service von City Pop/Artisa.