BILANZ: Lord Skidelsky, Sie haben Ihre dreibändige Biografie über John Maynard Keynes auf dem früheren Landsitz des bedeutendsten Ökonomen des letzten Jahrhunderts verfasst. Wollten Sie dem Geist des Meisters nahe sein?
Lord Robert Skidelsky:
Ich habe sein Landhaus in Tilton in der Grafschaft East Sussex während 20 Jahren gemietet. Es war eine besondere Herausforderung. In dem Raum, in dem Keynes sein Hauptwerk, die «General Theory», geschrieben hatte, musste ich etwas Gutes verfassen. Ich hatte das Gefühl, dass er mir manchmal über die Schulter schaute und sagte: «Das ist dumm, was du da schreibst.»

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Vieles ist dumm, was über Keynes geschrieben wird. Was ist die schlimmste Fehleinschätzung?
Dass er für permanente Staatsdefizite eingetreten sei. Nur in Zeiten schwerer Wirtschaftskrisen riet Keynes zu staatlichen Stimulusprogrammen und Defiziten. Er bezeichnete sich als moderat konservativ. Er war ein Antisozialist, indem er der Meinung war, dass die Regierung sich nicht in Verteilungsfragen einmischen sollte.

Keynes kommt stets in Krisenzeiten aus der Dunkelheit der Geschichte hervor: In der Finanzkrise 2008 folgten alle grossen Regierungen seinen Rezepten. Ist er schon wieder zurück auf dem Weg in die Dunkelheit?
Alles passiert sehr schnell. Keynes kam aus der Dunkelheit, als die Wirtschaft kollabierte: Alle Konjunkturprogramme waren von ihm inspiriert. Dann begann die Erholung, und jede Regierung schaute voller Schrecken auf ihre Schuldenberge. Also kamen die Sparprogramme, eine Gegenreaktion zu Keynes. Die konnte man sich leisten, weil die Wirtschaft leicht wuchs.

Doch derzeit stottert die Wirtschaft wieder.
Jetzt gewinnen die Keynesianer wieder Oberwasser. Zwar gibt es vor allem in den Regierungen noch immer viele Anhänger der Sparpolitik, doch die Konjukturforscher sind eher pessimistisch gestimmt. Die Europäische Union erwartet Stagnation statt Aufschwung. Auch dafür bietet Keynes eine Erklärung.

Welche?
Wenn alle Regierungen sparen und ihr Defizit auf die vom EU-Stabilitätspakt festgeschriebene Obergrenze von drei Prozent senken, gleichzeitig aber der Aufschwung im Privatsektor ausbleibt, werden wir eine noch schlimmere Rezession erleben.

Laut Jean-Claude Trichet, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), wird das Senken des Budgets selber für eine Erholung sorgen.
Er ist ein Dinosaurier an der Spitze der EZB. Keynes hat immer wieder betont, dass die staatliche Verschuldung die Investitionen des Privatsektors nur dann lähmt, wenn die Volkswirtschaft bei voller Kapazität produziert und keine Arbeitslosigkeit herrscht. Davon sind wir leider weit entfernt.

Der Stabilitätspakt ist also eher ein Stupiditätspakt?
Wenn die Märkte stabil sind, sind drei Prozent nicht falsch. Aber in extremen Zeiten müssen diese Regeln ausgesetzt werden, und sie zu schnell wieder einhalten zu wollen, ist gefährlich.

Aber viele EU-Staaten haben diese Regeln bereits vor der Krise gebrochen.
Deshalb hat die gesamte EU jetzt ein Vertrauensproblem. Griechenland hat sich in die Eurozone getrickst und dann Geld ausgegeben, als gäbe es kein Morgen, und dabei von den von Deutschland bestimmten tiefen Zinsen profitiert.

Was wäre das Rezept von Keynes?
Er würde sagen: Es gibt kein Rezept für Griechenland ausser einem harten Sparkurs. Aber es gibt ein Rezept für die EU: Ein Teil sollte expandieren, damit Griechenland sich erholen könnte. Deutschland sollte seine Nachfrage und seinen Konsum erhöhen und weniger sparen, um Griechenland und den anderen südeuropäischen Schwächestaaten – Portugal, Spanien und Italien – eine Chance für Export zu geben.

Wie steht die Schweiz da?
Sie scheint die Krise gut gemeistert zu haben und wirkt sehr solide. Dass sie ihre eigene Währung hat, ist ein grosser Vorteil.

Der Unterschied zwischen England und den USA war noch nie so gross.
In der Tat. Die Amerikaner setzten auf Geldmengenwachstum und Konjunkturankurbelung, die Europäer wollen nur noch sparen. Die Kontinentaleuropäer und die Briten stehen für einmal zusammen – leider hinter der falschen Politik.

Die neue britische Regierung ist der Musterschüler des Schuldenabbaus: Schatzkanzler George Osborne will in den nächsten vier Jahren 100 Milliarden Pfund einsparen.
Das sind jedes Jahr vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts.

Der «Meister», wie Sie Keynes nennen, wird in seiner Heimat schlecht behandelt.
Osborne versteht nicht viel von Ökonomie. Sein Denken ist veraltet. Etwa: Eine Regierung ist wie ein privater Haushalt – wenn man sich verschuldet, zahlt man sofort zurück. Oder: Man gibt kein Geld aus, das man nicht hat. Das ist das Denken, das die Grosse Depression verlängert hat. Osborne spricht damit zwar die Durchschnittsperson an. Doch es ist Baby-Ökonomie. Für Krisenzeiten sind diese Rezepte nicht tauglich.

Die Umfragen für die neue Regierung sind gut.
Gut, aber nicht brillant, und wir stehen erst am Anfang. Osborne hat seine politische Karriere mit dem Erfolg dieses Sparprogramms verknüpft. Ich würde nicht viel darauf wetten, dass er in zwei Jahren noch Schatzkanzler ist.

Die neue englische Regierung beruft sich auf die vorherrschende makroökonomische Theorie der letzten Jahrzehnte. Sie halten diese Theorie für gescheitert.
Die klassische Makroökonomie lehrt nutzlose Dinge. Sie kann nicht erklären, was bei der Finanzkrise schief gelaufen ist. Regierungen brauchen jedoch eine generell akzeptierte Theorie, damit die Märke Vertrauen fassen. Die Theorie der fünfziger und sechziger Jahre war die keynesianische. Damals gab es diese Theorie und ein paar Abweichler. Jetzt gibt es die neoklassische Theorie und ein paar Abweichler.

Warum kann diese Theorie die Krise nicht erklären?
Es ist eine Gleichgewichtstheorie, und dieses Gleichgewicht ist ein Vollbeschäftigungs-Gleichgewicht in der neoklassischen Ökonomie, in der Marktteilnehmer nach Gewinnmaximierung streben. Doch damit kann man offensichtlich nicht erklären, warum man nicht im Gleichgewicht ist.

Diese Theorie ist von den Amerikanern gepägt.
Die Amerikaner definieren seit den siebziger Jahren, was Ökonomie ist. Das sind imperialistische intellektuelle Strukturen. Europa ist hoffnungslos: Es hat die Ökonomie praktisch aufgegeben.

Aber alle haben doch gesehen, dass die Theorie die aktuelle Krise nicht erklären kann. Gibt es keine Gegenbewegung?
George Soros hat das Institute for New Economic Thinking gegründet, bei dem ich mitarbeite. Wir wollen die Ökonomie öffnen. Die Einzigen, die ein Gefühl geben können, warum wir in dieses Chaos geraten sind, sind Vertreter der älteren Generation wie Keynes oder Friedrich August von Hayek. Sie haben erklärt, warum Volkswirtschaften nicht stabil sein und sich von einem grossen Schock nicht schnell erholen können. Doch sie wurden von der politischen Ökonomie ins Exil geschickt. Sie werden in den klassischen Kursen nicht mehr gelehrt.

Dort haben die Mathematiker das Sagen.
Die neoklassischen Modelltheoretiker dominieren. Gleichgewichtstheorien mit vollkommenen Märkten sind viel einfacher zu modellieren als unvollkommene Märkte. Die Mathematisierung der Ökonomie ist ein grosser Irrweg.

Keynes sah sich jedoch nicht nur als Ökonom, sondern auch als Philosoph. Gewinnmaximierung wie in der reinen Lehre war ihm zu wenig.
Das einzige Ziel der heutigen Ökonomie ist, immer reicher zu werden. Doch das macht das Leben sinnlos. Die Religion ist keine grosse Kraft mehr. Also ist das Streben unserer Zivilisation: mehr Wohlstand anhäufen. Aber mit welchem Ziel, ist unklar.

Keynes hatte ein Ziel.
Sein Ziel war: weise, angenehm und gut zu leben. Wirtschaftlicher Wohlstand sollte dazu nur ein Hilfsmittel sein. Wenn man Reichtum als Mittel, aber nicht als Ziel sieht, öffnet das eine neue Debatte, welche Art von Zivilsation wir wollen. Das stösst auf grosse Resonanz. Immer mehr Menschen erkennen, dass das Anhäufen von Wohlstand uns nicht zu glücklicheren oder besseren Menschen macht.

Allerdings war Keynes durchaus geldbewusst: Er spekulierte heftig an der Börse und brachte es zum mehrfachen Millionär.
Er verfolgte die Börse mit Leidenschaft und Humor. Eines seiner bekanntesten Zitate lautet: «Anlageberater müssen falsch liegen. Wenn sie gute Tipps geben könnten, wären sie längst mit einem grossen Vermögen in Rente gegangen.» Er war eben auch ein brillanter Stilist, was die heutigen Ökonomen nicht sind.

Vor allem war er jedoch ein Mann der Ideen. Ein anderes seiner Zitate lautet: «Die Ideen von Ökonomen und politischen Philosophen, ob sie richtig oder falsch sind, sind machtvoller als gemeinhin angenommen. Tatsächlich wird die Welt von wenig anderem regiert.»
Nehmen wir die Regulierung. Sie hat dramatisch versagt, aber warum? Weil sie auf dem Glauben aufbaute, dass Märkte effizient sind und sich selbst regeln, weshalb es keine starken Vorschriften braucht. Das nehmen die Verantwortlichen mit der Muttermilch auf, fast unbewusst. Doch irgendwann wird die Milch sauer, und es braucht eine neue Theorie.

Welche?
Keynes war wie Kopernikus, der gegen das ptolemäische System kämpfte. Erst war die Erde eine Scheibe, dann wurde sie rund. Doch dann kam das ptolemäische System zurück. Jetzt brauchen wir eine Synthese. Humanwissenschaften sind nicht wie Naturwissenschaften, wo man genau sagen kann, was falsch ist. Keine Theorie in der Ökonomie hat nicht irgendwo einen Platz: Mal ist die eine Theorie in Mode, dann die andere. Derzeit ist Sparen eine Mode, doch das kann sich schnell ändern.

Keynes hatte eine spezielle Vision für die ökonomische Zunft: Ökonomen sollten so nützlich sein wie Zahnärzte.
Ja, damit meinte er, dass die okönomischen Probleme für uns so klein sein sollten, als hätten wir einen schlechten Zahn. Der kann zwar sehr wehtun, aber den Grossteil unseres Lebens denken wir nicht daran.

 

Lord Robert Skidelsky (71) arbeitete fast 20 Jahre an seiner dreibändigen Biografie des englischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883–1946). Das Mitglied des britischen Oberhauses veröffentlichte jüngst das Buch «Keynes – the Return of the Master». Lord Skidelsky ist emeritierter Professor für politische Ökonomie und Berater des von George Soros geförderten Institute for New Economic Thinking.

Dirk Schütz
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