Das war ja wohl ein Desaster! Für Amerikas Wachstumsbörse Nasdaq ist das Jahr 2000 nicht nur das erste Verlustjahr seit 1994. Der Composite-Index stürzte im laufenden Jahr bereits um 35 Prozent ab. Das ist exakt ebenso viel wie 1974. Damals sackten die Kurse an der Wall Street zunächst im Gefolge des ersten Erdölschocks ab, aber dann insbesondere mit dem Rücktritt von US-Präsident Nixon wegen der Watergate-Affäre. Gegenüber dem Rekordhoch vom 10. März 2000 errechnet sich für den Nasdaq Composite sogar ein Einbruch von um die 50 Prozent. Das ist keine Korrektur, sondern eine Baisse.
Zum Sorgenkind der Anleger ist auch der Neue Markt mutiert, das einstige Vorzeigemodell der neuen deutschen Börsenkultur. Gemessen am Nemax-All-Share-Index, sind die Kurse vom Höchstpunkt im Frühjahr 2000 gar um 65 Pozent eingebrochen. Über 300 Unternehmen haben sich innerhalb von weniger als drei Jahren an den Neuen Markt gedrängt. Für 2001 präsentiert sich nun ein anderes Bild: Eine sinkende Anzahl an Neuemissionen und weitere Unternehmenspleiten sind programmiert.
Zwar erwartet die Deutsche Bank für das kommende Jahr etwa 30 bis 40 Börsengänge am Neuen Markt, aber etwa 50 Goingpublics seien bereits in diesem Jahr auf Grund der schlechten Börsenlage verschoben worden. Die Fondsgesellschaft Union Investment wiederum rechnet damit, dass in den kommenden Monaten rund zwei Dutzend Gesellschaften vom Kurszettel des Neuen Marktes verschwinden werden. «Etwa die Hälfte der Börsenkandidaten ist nicht kapitalmarktfähig», monierte kürzlich Kurt Ochner, Vorstandsmitglied bei der Julius Bär Kapitalanlage AG in Frankfurt.
Wer am hiesigen SWX New Market in diesem Jahr noch zu Höchstkursen eingestiegen ist, musste ebenfalls bluten. Gemessen am SNMI-Index, sind Kursverluste von durchschnittlich 50 Prozent zu verbuchen. Zwar geben sich Exponenten der Schweizer Börse zuversichtlich und hoffen auf eine Vergrösserung des Kursblattes am SWX New Market von derzeit 16 auf 40 Titel bis Ende 2001. Ein hoch gestecktes Ziel, denn auch hier hat eine Reihe von Börsenkandidaten auf Grund der widrigen Marktverhältnisse ihr Going-public zurückgestellt.
Die Kurskapriolen an den Wachstumsmärkten verzerren das Börsenbild des Jahres 2000 allerdings. Denn die traditionellen Aktienmärkte fuhren längst nicht im gleichen Ausmass Achterbahn wie die Kurse vieler an den oft noch jungen Börsen kotierten Internet-, Medien-, Telekom- oder Biotechnologieunternehmen. Zwar fiel beim Nachbarn im Norden der breit angelegte Dax gegenüber seinem Höchststand 2000 um etwa 20 Prozent zurück. An der Wall Street oder in der Schweiz hielten sich die Einbussen bei den entsprechenden Indizes, gemessen am Jahreshöchst, allerdings im einstelligen Prozentbereich. Gegenüber den Jahresschlusskursen 1999 konnte der Swiss Performance Index sogar rund zehn Prozent zulegen.
Angesichts der von den Medien akribisch aufgelisteten Schwierigkeiten an den Börsen und den ständig wechselnden Analystenmeinungen erstaunt es wenig, dass die Verunsicherung bei den Investoren derzeit gross ist. Doch im langfristigen Vergleich gab es Jahre, in denen es an den traditionellen Aktienmärkten wesentlich hektischer zuging, wie ein Blick auf die Langzeitentwicklung belegt. Die Grafik «Der Puls der Wall Street schlägt schneller» auf den Seiten 112 und 113 zeigt die Kursentwicklung des klassischen US-Index Dow Jones Industrial von 1910 bis heute. Und zwar im logarithmischen Massstab, da eine Kursveränderung um beispielsweise 100 Punkte von einem niedrigen Kursniveau aus prozentual einen grösseren Ausschlag ergibt als von einem höheren aus. Gleichzeitig dokumentiert die Grafik das Ausmass der Kursausschläge, die so genannte Volatilität, über diesen Zeitraum.
Und diese Kombination zeigt deutlich, dass die Stressphasen an den Börsen schon wesentlich heftiger waren. Zuletzt führte die Verunsicherung um die Auswirkungen des Jahrtausendwechsels zu heftigen Kursausschlägen an der Wall Street. 1998 liessen die Finanzkrise in Russland und das Debakel um den Hedgefonds LTMC den Dow Jones Index abtauchen. Gleichzeitig nahmen die Kursschwankungen stark zu. Die heftigsten der jüngeren Zeit gab es aber am 19. Oktober 1987, als am Schwarzen Montag in New York die Aktienkurse in einem Zug um über 20 Prozent einbrachen.
Insgesamt haben sich im letzten Jahrzehnt die Kursausschläge und damit die Volatilitäten an den Aktienmärkten zwar etwas erhöht, liegen aber durchaus noch im Rahmen der historischen Bandbreiten, sieht man von Kriegsereignissen, Weltwirtschaftskrise und sonstigen Sondereinflüssen einmal ab.
Die subjektive Wahrnehmung der Investoren hingegen ist ganz anders. Sie haben heute das Gefühl, die Börsen seien im Vergleich zu früher unberechenbarer geworden. Diese Verunsicherung ist unter anderem mit der enormen Verschiebung der Kapitalflüsse zu erklären. Wies die nervöse US-Technologiebörse Nasdaq vor fünf Jahren noch eine Börsenkapitalisierung von 1,7 Billionen Dollar auf, so waren es beim Höchststand der Kurse im März 2000 rund 7,25 Billionen Dollar – mehr als eine Vervierfachung also. Mit dem Kurssturz an der Nasdaq ist deren Börsenkapitalisierung auf knapp 4,2 Billionen Dollar abgesackt.
Demgegenüber verkörperten die Titel an der behäbigeren New York Stock Exchange (Nyse), an der auch die klassischen Bluechips gehandelt werden, vor fünf Jahren einen Gegenwert von an die 8,2 Billionen Dollar. Im März 2000 lag die Börsenkapitalisierung bei 17,2 Billionen Dollar (eine Verdoppelung also) und beträgt heute immer noch etwa 15,9 Billionen.
Offensichtlich hat sich die Vernunft an der Wall Street zurückgemeldet, doch nicht nur hier. Nach den markanten Kurseinbrüchen werden die Geschäftsmodelle der New-Economy-Unternehmen an den Wachstumsmärkten auf den Prüfstand gestellt und kritisch durchleuchtet. Auch versucht man, mit neuen Bewertungsmassstäben die Chancen und Risiken dieser Firmen auszuloten (siehe auch Interview «Darwin regiert die New Economy» auf Seite 118).
Diese Bestrebungen sind zwar sinnvoll, denn die New Economy wird ihr Revival feiern können. Doch in den letzten Monaten ist allen Anlegern klar geworden, dass herkömmliche Bewertungsmassstäbe wie etwa das Kurs-Gewinn-Verhältnis mitnichten ausgedient haben. Es ist kein Zufall, dass angelsächsische Wirtschaftsmagazine, welche die Begeisterung über die New Economy mächtig angeheizt haben, plötzlich feststellen, dass jetzt Value-Anleger wieder auf der Gewinnerseite stehen. Zu ihnen gehört beispielsweise Warren Buffett. Im Vergleich zum Index liegt seine Berkshire-Hathaway-Aktie zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahren wieder im Plus. Doch unterdessen musste sich der Vorzeigeinvestor, der den Index während über eines Vierteljahrhunderts jedes Jahr geschlagen hatte, arge Vorwürfe gefallen lassen. An der diesjährigen Generalversammlung in Omaha übten die treuen Gefolgsleute erstmals lauthals Kritik an ihrem Guru. Sie konnten nicht verstehen, dass Buffett partout keine Hightech-Titel, Internetaktien und Telekom-Werte kaufen wollte und damit den grössten Boom aller Zeiten einfach an sich und seinen Aktionären vorbeiziehen liess.
Dass Buffett seiner Strategie treu geblieben ist und nur in Unternehmen mit vernünftiger Bewertung und nachvollziehbaren Produkten investiert, hat sich jetzt nach einer längeren Durststrecke ausbezahlt. Die Fähigkeit, die richtigen Aktien zu picken, wird auch im kommenden Jahr über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Die Situation an den Finanzmärkten bleibt nämlich verwirrlich.
Gespannt schauen die Investoren derzeit auf die USA. Die bange Frage lautet: Gelingt der wirtschaftlichen Supermacht eine weiche konjunkturelle Landung, oder schlittert das Land im kommenden Jahr in eine Rezession, wie bereits einige Pessimisten spekulieren, denen das unerwartet schnelle Abflauen des Wirtschaftswachstums jenseits des Atlantiks Sorgen bereitet (siehe dazu auch das BILANZ-Dossier «Konjunktur 2001» ab Seite 85).
Wuchs das amerikanische Bruttoinlandprodukt im zweiten Quartal 2000 noch um 5,6 Prozent, so waren es im dritten Quartal gerade noch 2,4 Prozent. Damit hat das konjunkturelle Bremsmanöver von US-Notenbankpräsident Alan Greenspan Erfolg gezeitigt, hatte dieser doch zwischen Juni 1999 und Mai 2000 mit einer Serie von sechs Zinserhöhungen dem überschäumenden Wirtschaftswachstum Gegensteuer gegeben und damit auch der Inflation Paroli geboten. So verharrt diese mit 2,6 Prozent auch weiterhin auf einem sehr tiefen Stand.
Das gibt Greenspan bei einem allzu steilen konjunkturellen Landeanflug Spielraum für Zinssenkungen. Dass er diesen zu nützen gedenkt, hat er bereits in der ersten Dezemberwoche klar gemacht. Greenspan liess durchblicken, dass die US-Notenbank Gegensteuer geben werde, wenn weitere Börsenkorrekturen zu einer übermässigen Schwächung der Konsumnachfrage und der Unternehmensinvestitionen führen würden. Die Börsen verdankten seine Äusserungen mit einer kräftigen Kursrallye am gleichen Tag. Sind damit die Börsen vollständig am Gängelband des mächtigen Notenbankers?
Auch die Europäische Zentralbank (EZB) hat seit November 1999 in sieben Schritten Zinserhöhungen durchgezogen, weil die Inflationsraten im Euro-Land insgesamt noch deutlich über der Toleranzgrenze von zwei Prozent liegen. Pikanterweise gibt der Internationale Währungsfonds den EZB-Verantwortlichen den Rat, sich bei der Beurteilung der Preisstabilität an der Kern-Inflationsrate – diese klammert die Ölpreise aus – zu orientieren und nicht an der Gesamtrate. Und diese Kern-Inflationsrate ist im Jahr 2000 gegenüber 1999 mit 1,5 Prozent nahezu unverändert. Steigenden Ölpreisen ist mit höheren Zinsen ohnehin nicht beizukommen. Sollte der Ölpreis während des Winters nochmals anziehen und das Wirtschaftswachstum weiter schwächen, könnten die Notenbanken – allen voran die der USA – ein Zeichen setzen und die Zinsen zurücknehmen.
Dies vor allem auch deshalb, weil die Wachstumsrisiken für das Jahr 2001 zugenommen haben. So rechnet die Welthandelsorganisation (WTO) in Genf für 2001 mit einer leicht abgeschwächten Welthandelsexpansion von rund sieben Prozent nach einer voraussichtlichen Zunahme von mindestens zehn Prozent im laufenden Jahr. Im Vorjahr war der Welthandel nur um fünf Prozent gewachsen. «Die Vereinigten Staaten sind immer noch die Lokomotive des Welthandels», konstatiert WTO-Forschungsdirektor Michael Finger, «aber sie sind nicht mehr allein.»
Immerhin geht die EU-Kommission in ihrem Herbstgutachten für das Jahr 2001 mit einem Anstieg des aggregierten Bruttoinlandprodukts der elf Staaten umfassenden Euro-Zone von 3,2 Prozent aus; für die gesamte Europäische Union (EU) wird eine Zunahme von 3,1 Prozent prognostiziert. Ohne den drastischen Ölpreisanstieg – im Dollar seit Frühjahr 1999 eine Verdreifachung und im Euro gar eine Vervierfachung – hätten diese Prognosen jeweils noch um 0,3 Prozentpunkte höher gelegen. Auch wenn im Euro-Land die vergleichsweise hohen Wachstumsraten der vergangenen Quartale nicht mehr erreicht werden, gibt es für wirtschaftliche Schwarzmalerei wenig Anlass. «Wir rechnen nicht mit einer konjunkturellen Wende, sondern allenfalls mit einer Atempause», meinen die Ökonomen des Research-Teams der Deutschen Bank.
Auf den Listen vieler internationaler Anlagestrategen befindet sich der Euro-Raum denn auch mit einer relativ stärkeren Gewichtung berücksichtigt als Nordamerika. Dahinter steht unter anderem die Überlegung, dass das Wirtschaftswachstum in Kontinentaleuropa sich auf einem etwas höheren Niveau als jenseits des Atlantiks einpendelt. Das sollte internationales Kapital anziehen.
Doch eine massive Erholung des seit seiner Geburtsstunde arg gebeutelten Euro ist deswegen nicht angesagt. Viele Analysten halten die europäische Kunstwährung für schwach. Da helfen auch alle Lobreden der Europäischen Zentralbank und die Devisenmarktinterventionen nichts. Die Ökonomen der Deutschen Bank etwa geben sich skeptisch und «rechnen nicht mit einem baldigen nachhaltigen Aufwärtstrend des Euro». Erst gegen Ende des Jahres 2001 könnte im Zuge von – im Vergleich zu den USA – überzeugenderen Wirtschaftsdaten für Euro-Land die Parität zum Dollar in Sichtweite rücken. «Aber auch das wäre dann nicht der Beginn einer dynamischen Euro-Aufwertung, sondern zunächst einmal lediglich eine Korrektur der gegenwärtig starken Unterbewertung des Euro», heisst es aus Frankfurt.
Für eine veritable Rallye an den Börsen reicht die konjunkturelle Verfassung der wichtigen Länder nicht aus. Ohne gütige Mithilfe der Notenbanken werden die Wertpapiermärkte kaum durchstarten. Eine Zinssenkung in den USA hingegen könnte den gebeutelten Technologietiteln Boden verschaffen. Profitieren würden davon auch die zinssensitiven Finanztitel. Und gleichzeitig müssten die zyklischen Werte nicht Haare lassen. Sie sind gegenwärtig in einer heiklen Ausgangslage: Im Technologieboom wurden sie von den Investoren links liegen gelassen, und jetzt, wo die Stockpicker die Substanzwerte dieser Branchen wieder entdecken, droht die Konjunktur zu erlahmen, auf deren Impulse die zyklischen Aktien dringend angewiesen sind.
Schweizer Anleger tun angesichts der Unsicherheiten gut daran, ihr Portefeuille ausreichend zu diversifzieren. So lauern in den USA neben markt- und titelspezifischen Risiken auch erhebliche Währungsrisiken, falls der Dollar gegenüber dem Franken respektive dem Euro schwächer wird. Ähnliche Überlegungen gilt es bei den Emerging Markets anzustellen. Etwas Sicherheit dürfte hingegen der Heimathafen bieten. Die Chancen, dass der Schweizer Markt im internationalen Vergleich auch nächstes Jahr durchaus erfreulich abschneidet, stehen nach wie vor gut. Der Schweizer Aktienmarkt weist überdurchschnittlich viele defensive Merkmale auf, die in unsicheren Zeiten gefragt sind.
Partner-Inhalte