BILANZ: Frau Massenet, wir haben auf Ihrer Website gestöbert. Warum brauchen Frauen ein Kleid für 11 000 Euro?
Natalie Massenet:
Niemand braucht Mode. Egal, ob es sich um Jeans für 100 Euro oder ein Cocktailkleid für 20 000 Euro handelt. Mode bereichert aber das Leben. Ob sich Frauen ein Kleidungsstück gönnen, um einen Erfolg zu feiern, um sich nach einem stressigen Tag besser zu fühlen oder um die eigene Individualität zu entwickeln. Das ist das Tollste an der Mode. Sie erlaubt es jedem, sich auszudrücken.

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Was ist denn Ihr teuerstes Stück im Schrank?
Das dürfte wohl meine Birkin Bag sein. Mein Mann hat sie mir zu meinem 40. Geburtstag geschenkt. Ich habe mir immer gesagt: Sollte ich einmal erfolgreich werden, dann kaufe ich mir eine. Als Zeichen, dass ich angekommen bin. Mein Mann kam mir zuvor. Geträumt habe ich von dieser Tasche aber schon mein ganzes Leben.

Wie kann man ein Leben lang von einer Tasche träumen?
Bei Frauen, die unter einem femininen Einfluss, sprich: dem Einfluss ihrer Mutter, aufwachsen, ist das wohl so. Von klein auf schaust du zu diesem Wesen empor, das dich durchs Leben begleitet und von dem du alles lernst. Du lernst, beim Abendessen gerade zu sitzen. Du lernst, mit Menschen zu reden, du lernst, nach einem schlechten Tag in der Schule nach Hause zu kommen und nicht bekümmert zu sein. Du lernst auch, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Ich hatte eine sehr stilbewusste Mutter, wuchs mit den Bildern von Filmstars wie Grace Kelly auf. Da romantisiert man sehr viel. Für einen Mann ist es vielleicht eher der Whisky mit dem Vater, die erste wichtige Uhr oder der Sportwagen.

Sie sind ja nun selber eine Stilikone. Kaufen Sie Ihre Kleidung überhaupt noch selbst?
Ich sehe mich gar nicht so. Ich kleide mich ziemlich klassisch. Doch kürzlich war ich auf einer sehr grossen Party eingeladen, und Designer boten mir ihre Modelle an. Das habe ich dankend abgelehnt. Meine Kleider kaufe ich selber.

Wo kaufen Sie denn ein?
Nur noch sehr selten in einem Geschäft. Ich habe ja kaum Zeit. Ich mag es, mir meine Sachen liefern zu lassen. Für mich ist guter Service Luxus und die Möglichkeit, im Internet einkaufen zu können. Es ist ganz anders, als in ein Geschäft zu gehen.

Als Modejournalistin beklagten Sie, dass die in den Hochglanzmagazinen abgebildeten Kleider nur schwer zu bekommen seien. Mit Net-a-porter wollten Sie genau das ändern.
Ja, es ist so einfach und fast schockierend, dass niemand vor uns darauf gekommen ist, eine solche Website zu starten. Das Fantastische am Internet ist doch, dass es jedem erlaubt hereinzukommen. Ich habe am Shopping immer gehasst, dass ich mich chic machen musste. Wenn ich mal nicht entsprechend angezogen war, musste ich mich beim Betreten des Ladens von einem Verkäufer mustern lassen, ob ich mir die Sachen wohl auch leisten könne.

Wird Luxus nicht zu etwas Gewöhnlichem, wenn er über das Internet stets verfügbar ist?
Ich halte nichts von Elitismus um des Elitismus willen. Warum sollte jemand einem Kunden, der eine bestimmte Marke mag, sagen: «Sorry, wir verkaufen dir nichts, weil du in der falschen Stadt wohnst oder zur falschen Zeit vorbeigekommen bist?» Nein, es geht um den Zugang. Und wir machen die Dinge zugänglich.

Die Designerin Stella McCartney entwirft sowohl Kollektionen für Sie wie für H&M. Ist das überhaupt noch Luxus?
Wenn Stella süsse Kleider für Leute entwirft, die sich ihre Marke sonst nicht leisten können, ist das doch fantastisch. Sie trägt dazu bei, dass mehr Leute etwas über Stil lernen und darüber, wie sie Designerstücke mit Kleidung von Ladenketten kombinieren können.

Christian Dior hat vor 50 Jahren gesagt, in einer «so düsteren Zeit wie dieser» müsse Luxus «Zentimeter für Zentimeter» verteidigt werden. Was würde er zu Net-a-porter sagen?
Ich glaube, alle berühmten Designer wären total online. Sie würden sagen: «Das ist neu, das ist revolutionär, lass uns loslegen.» Coco Chanel hätte bestimmt den ersten Online-Shop überhaupt eröffnet. Sie wäre auch unsere erste Kundin gewesen. Sie war nie in Konventionen gefangen.

Einige Luxusmarken wollen aber dennoch ihre Kollektionen nicht bei Ihnen verkaufen. Haben Sie Feinde in der Branche?
Nun, Feinde ist ein sehr hartes Wort. Wir stehen in einem Dialog mit den Marken, die wir nicht im Angebot haben. Sie alle denken über ihre Online-Strategie nach. Sie verstehen, dass es sehr wichtig ist, im Internet präsent zu sein. Irgendwann werden alle ihre Kollektionen online verkaufen.

Haben Sie ein Problem damit, Ihre Branche zu kritisieren?
Wir sind nicht die Art von Unternehmen, die viel kritisieren. Wir schauen uns nach Lösungen und Möglichkeiten um, das Leben zu verbessern. Ich bewundere Firmen, die wachsen und langfristige Ziele haben. Wenn ein Unternehmen dem Kunden missfällt, dann geht es unter. Ich verkaufe wunderschöne Mode. Natürlich hätte ich auch eine Wissenschaftlerin werden können, was von aussen betrachtet vielleicht als wertvollerer Beitrag für die Menschheit gilt. Aber ich habe etwas gemacht, von dem ich etwas verstehe. Ich liebe alles Neue, Schöne, Kreative. Alle Dinge, mit denen man ein wenig vor dem Alltag fliehen kann.

Wer ist Ihre typische Kundin?
Eine Frau zwischen 18 und 80, die Mode liebt und gerne die Erste hinsichtlich neuer Trends ist. Nehmen Sie den französischen Schuh-Designer Christian Louboutin. In jeder Stadt dieser Welt gibt es bestimmt eine Frau, die den 120 Peep-Toe Pump haben will. Unsere Kundinnen mögen die gleichen Dinge, lesen die gleichen Magazine und schauen dieselben Modeschauen im Internet.

Frauen lieben es, durch Geschäfte zu streifen. Klauen Sie ihnen nicht den Spass?
Als wir anfingen, wussten wir, dass wir mit einer Lieblingsbeschäftigung von Frauen konkurrieren. Aber das Shoppen bei Net-a-porter macht auch Spass. Sie kuscheln sich mit ihrem Laptop aufs Sofa und bestellen sich etwas, gehen abends schlafen, wachen am anderen Morgen auf, und ein Paket kommt per Post: schwarz und in Seidenpapier eingeschlagen. Sie fragen sich: Wer hat mir bloss ein Geschenk geschickt? Und ihnen fällt ein: Hey! Ich selber habe mir ein Geschenk bestellt!

Ein Leben ohne Luxus – wäre das für Sie sinnlos?
Ja! Für mich umfasst Luxus aber alles – von 20 Minuten länger schlafen können über weisse Kerzen in meinem Haus bis hin zu Freunden, die entspannt und schön aussehen, wenn ich sie einlade.

Für diese Art von Luxus braucht es nicht schrecklich viel Geld. Für den, den Sie verkaufen, schon.
Ich denke (Pause), das wird jetzt aber sehr philosophisch …

Konsum zu hinterfragen, schadet nicht, oder?
Ich kann nur sagen: Natürlich hoffe ich, dass unsere Kunden viele Dinge haben, die umsonst sind. Wenn es darum geht, wie man seinen Look erneuern kann, nennen wir in unserem Editorial immer auch Dinge, die umsonst sind.

Viele junge Frauen sind geradezu Shopping-süchtig. Auch weil der Druck, das richtige Label, die letzte Schuhmode zu tragen, mittlerweile so gross ist.
Daran ist doch nichts neu! Den sozialen Druck, irgendwo dazuzugehören, gab es schon immer. Kleidung ist nun mal der einfachste Weg, damit man bei einer Gruppe ankommt.

Zehnjährige Mädchen kleiden sich heute genau gleich wie andere Zehnjährige. Jeans, Wellington Boots, ein Rock-and-Roll-T-Shirt und klimpernde Armreife. Finden Sie das gut?
Nein. Ich sage immer, es ist besser, komplett anders als der Rest auszusehen. Wenn alle links gehen, sollte man selbst rechts abbiegen. Auch was unsere Geschäftsidee angeht: Jede Menge Leute versuchen uns zu kopieren. Mein Kreativteam muss dann seine ganze Zeit darauf verwenden, Design und Typografie erneut zu verändern – nur damit wir anders sind. Und genau das versuche ich meinen Töchtern beizubringen.

Shoppen Ihre Töchter mittlerweile auch anders? Nicht mehr im Laden, sondern bei Net-a-porter?
Noch haben die beiden nicht einmal ein Handy. Aber die 13-Jährigen? Sind die online? Ja, natürlich! Und wenn meine Töchter mit einem Job ihr Taschengeld aufbessern, werden sie auch online shoppen. Sie verstehen es gar nicht, wie man mit der Mutter jeden Samstag von Boutique zu Boutique hetzen kann. So habe ich in Paris meine ganze Kindheit verbracht. Ich rannte meiner Mutter hinterher, die sich ihr Partykleid für den Abend kaufte. Meine Töchter sitzen bei mir auf dem Schoss, während ich auf dem Bildschirm hoch- und runterscrolle. Das ist für sie Shopping. Und sie sehen auch, wie viel Spass das macht.

Die Art, wie Sie Shopping erlebt haben, wollen Sie Ihren Kindern ersparen. Haben Sie deshalb Net-a-porter gegründet?
Mir ging es darum, mich vom Prozess des Einkaufens zu lösen. Ich liebe Musik. Die Tatsache, dass ich heute meine ganze Sammlung auf einem kleinen Gerät mit Wählscheibe habe, verändert nichts. Es macht mir genauso viel Spass wie damals, als ich noch meine 45er-Schallplatten von Led Zeppelin auflegte. Und genau so geht es einer Frau, die Kleidung mag. Das tolle Gefühl, mit einem Paar neuer Schuhe an eine Party zu gehen, wird nie verschwinden. Egal, wie sie die Schuhe gekauft hat. Im Gegenteil: Je einfacher und besser unser Service ist, desto süchtiger wird sie.

Wie schaffen Sie es, Frauen süchtig zu machen?
Als Online-Portal sind wir direkt bei den Frauen zu Hause. Und nicht nur das. Wir sind an ihrem Telefon, wir schreiben sie an, fragen, ob sie über ihre Lieblingsdinge informiert werden wollen. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie viele Frauen mich persönlich angesprochen haben, um mir zu sagen: «Danke! Sie haben mein Leben gerettet. Immer wenn ich wegen eines wichtigen Meetings gestresst bin, gehe ich auf Ihre Website und kaufe mir etwas Schönes.» Oder: «Sobald die Kinder im Bett sind, gönne ich mir eine Stunde bei Ihnen, die nur mir gehört.»

Haben Sie bei Net-a-porter die Finanzkrise gespürt?
Als die Krise losging, wurden wir sehr nervös und planten, weniger Waren einzukaufen. Tatsächlich aber verbuchten wir Rekordumsätze, gerade als die Märkte abstürzten.

Wie ist das möglich?
Weil wir uns weiter auf schöne Dinge und einen ausgezeichneten Service konzentrierten. Und weil wir in einer Zeit, in der Frauen möglicherweise nicht so gerne beim Einkaufen gesehen werden wollten, Diskretion boten.

Und deshalb wachsen Sie weiter, obwohl die Umsätze der Luxusindustrie im Schnitt um 15 Prozent sinken?
Zum Teil ist das so. Und wir gewinnen auch täglich neue Kunden. Wir sind im Internet ein junges Business, das sein Potenzial noch nicht voll ausgeschöpft hat. Und jeder neue Kunde, der zu uns findet, kommt wieder und kauft ein – wenn auch momentan ein bisschen weniger als sonst.

Was kostet das billigste Teil auf Ihrer Website?
Um die 25 Pfund. Dafür bekommen Sie eine Strumpfhose, eine Brosche oder ein Paar weisse Converse Trainers, einen der stylishsten Schuhe überhaupt und das beste Beispiel, dass man nicht viel Geld braucht, um in seiner Freizeit gut angezogen zu sein.

Wir stellen uns also vor: In Ihrer Freizeit tragen Sie weisse Converse Trainers. Was machen Sie sonst noch?
Ich habe zu stricken angefangen. Gerade versuche ich mich an einem Snood.

Was bitte ist das?
Wenn Sie Net-a-porter lesen würden, wüssten Sie es. Es ist dieser schlauchartige Schal, den man sich jetzt so lässig überstülpt. Es ist wahrscheinlich das einfachste Teil, das man stricken kann, weil man Anfang und Ende nur zusammennäht. Ich bin keine grossartige Strickerin, aber ich fahre gerne raus in unser Landhaus. Da werde ich den Snood im Winter gut gebrauchen können. Liebend gerne suche ich übrigens im Internet auch nach Häusern …

… der Lieblingssport vieler Menschen.
Tja, es ist wohl eine Form von Eskapismus. Wie auch gute Musik, ein richtig tolles Musical und natürlich Mode.

 

Natalie Massenet (44) gründete im Juni 2000 Net-a-porter, das weltweit führende Online-Luxusmodeportal für Frauen. Als Tochter eines ehemaligen Chanel-Models und eines Journalisten wuchs sie in Paris, Madrid und Los Angeles auf. Nach dem Studium arbeitete sie als Moderedaktorin für die Zeitschriften «Women’s Wear Daily» und «Tatler». Laut Net-a-porter besuchen rund zwei Millionen Frauen im Monat die Website, zu der auch ein Online-Modemagazin gehört. Ausgeliefert wird in 170 Länder. Zum Unternehmen mit rund 600 Mitarbeitenden gehört auch Outnet.com, eine Website für Discount-Luxusmode. Seit Juni 2010 hält der Schweizer Luxusgüterkonzern Richemont 93 Prozent am Online-Portal. Der Umsatz lag nach eigenen Angaben 2009/10 bei etwa 180 Millionen Schweizer Franken. Massenet lebt mit ihrem Mann, einem Investment Banker, und zwei Töchtern in London.