BILANZ: Herr Brantschen, Was suchen Manager bei Ihnen?

Niklaus Brantschen: Sich selbst.

Sich selbst?

Ja. Sie sind sich selbst abhanden gekommen. Bei vielen Menschen, nicht nur bei Managern, bleibt das bessere Ich oder das, was wir Seele nennen, irgendwo auf der Strecke. In der Zensprache heisst dies «wahres Selbst». Insofern sage ich, sie suchen sich selbst – das wissen sie selber aber gar nicht so genau.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Angenommen, ich bin Manager einer Firma, die in der Schweiz Spielzeug produziert. Die Konkurrenz ist so stark geworden, dass ich nicht mehr konkurrenzfähig bin und Personal entlassen muss. Da soll ich mich selbst suchen?

Zunächst einmal suchen Sie etwas anderes. Ihr Wunsch ist es, Stress abzubauen, besser schlafen zu können oder mit der Partnerin, dem Partner besser auszukommen. Es gibt Menschen, welche die Erlaubnis suchen, aufzuhören. Sie fragen: Muss ich mich neu orientieren? Soll ich eine Beratungsfirma gründen, statt im bisherigen Geschäft zu bleiben? Eine andere Möglichkeit ist, Kraft zu holen, um wie bisher weiterzumachen. Aber da weigern wir uns, es mit einer Trimm-dich-Methode zu tun. Zen ist keine Trimm-dich-Methode.

Kein Fitnessparcours für Manager?

Vor Jahren hat mich ein Siemens-Manager gefragt, ob sich Zen ins Anti-Stress-Programm des Unternehmens einbauen liesse. Ob man dies könne, antwortete ich, wisse ich nicht, ich tue es aber nicht. Unser Bemühen ist es, eine Veränderung in Gang zu setzen, einen Bewusstseinsveränderungsprozess. Es geht um die Frage nach dem Sinn und dem Wert, um Antworten auf Fragen wie: Woher komme ich, wohin gehe ich, was soll das Ganze, was erfüllt mich wirklich? Das geht nicht ohne Einkehr.

Liegen Sie da nicht ziemlich quer in der Realität?

Hoffentlich! Es ist höchste Zeit, dass sich einige Leute quer legen.

Sie sagen, der Homo oeconomicus sei die Schrumpfgestalt des Menschen. Was verstehen Sie darunter?

Es ist ein Ausdruck des Physikers Hans-Peter Dürr. Er meint Menschen, bei denen ganze Bereiche ausgeklammert sind, zum Beispiel das Herz oder die spirituelle Intelligenz, die nicht etwas Abgehobenes ist. Spirituelle Intelligenz meint die Art und Weise, wie ich stehe, wie ich atme – oberflächlich oder ruhig. Die Art und Weise, wie ich die Dinge sehe, ob ich das Ganze im Blick habe oder nur das Naheliegende. Was heute Physik oder Meteorologie erkennen, haben Mystiker und Zenleute schon längst erfahren, nämlich dass wir vernetzt sind. Einige der global handelnden Topmanager sind sich dessen bewusst, dass wir uns auf Gedeih und Verderb in diesem einen Raumschiff namens Erde befinden und dass es gesteuert werden sollte. Dieses Dorf, das wir Welt nennen, braucht unbedingt einen Kopf. Es ist ein Jammer, dass die Reformbemühungen der Uno gescheitert sind. Aber wenn es nicht so etwas wie einen Kopf und eine schnelle Eingriffgruppe gibt, quasi eine Dorfpolizei, dann ist das Dorf Welt kopflos.

Wer soll denn dieser Kopf sein?

Der Kopf wäre ein Global Government. Ob das die Uno, die gestärkt werden müsste, oder ein anderes Gremium wäre, kann hier offen bleiben. Vor allem aber braucht es einen Menschenrechtsrat, wie ihn die Schweiz erst jüngst ins Spiel gebracht hat.

In Ihrem neuen Buch sprechen Sie von Tugend und Moral, Begriffen, die aus der Mode gekommen sind. Wie kommen Sie darauf, dass ein neues Zeitalter anbrechen soll, in dem Tugend wieder eine grössere Bedeutung hat?

Es gibt Fachkompetenz, es gibt emotionale Kompetenz, und neuerdings gibt es ethische Kompetenz. Mit der ethischen Kompetenz sind wir bei der Tugend. Das griechische Wort «arete» bedeutet Vortrefflichkeit oder Fertigkeit. Im Lateinischen ist es zu «virtus» geworden. Im Deutschen haben wir das Wort «taugen», und daraus sind die Tauglichkeit und schliesslich die Tugend geworden. Ich gebrauche bewusst das alte Wort Tugend und meine, dass ich damit auch ein Thema setzen darf. Tugend ist im Kommen.

Gut, nun haben Sie das Wort etymologisch hergeleitet. Was heisst für Sie persönlich Tugend?

Tugend bedeutet nichts anderes als die durch Übung gewonnene Leichtigkeit, etwas gut zu tun und das Gute gerne und mit Schwung zu vollbringen. Zusammengefasst: Es ist schön, gut zu sein.

Wenn wir auf der Strasse eine Umfrage machten, ob Manager ein tugendhafter Berufsstand sei, würden die meisten wohl antworten, es sei ein amoralischer Stand, weil dort horrend hohe Löhne bezahlt würden und weil Manager den Globus mit Produkten überzögen, die kein Mensch brauche.

Ich verstehe, was Sie meinen. Aber ich sehe keine Alternative, weil wir sonst vor die Hunde gehen. Mindestens diesen Versuch müssen wir wagen. Ein grosser griechischer Staatsmann, Thales von Milet, hat gesagt, ein Staat floriere dann, wenn es weder übermässig Reiche noch übermässig Arme gebe. Wenn wir nicht verhindern können, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, sind Konflikte vorprogrammiert.

Haben Sie mit den Topmanagern auch einmal über deren Löhne gesprochen – ob es tugendhaft ist, 15 bis 20 Millionen zu verdienen?

In der Öffentlichkeit ist dies bereits ein Thema, ich muss es also gar nicht erst problematisieren. Ich stelle einfach fest: Eine wachsende Zahl von Managern hat ein Unbehagen. Ein Beispiel kann ich nennen, weil ich im Stiftungsrat der Raiffeisenbanken Einsitz habe. Da habe ich erfahren, dass es Manager gibt, die auf 100 000 Franken und mehr verzichten, um bei Raiffeisen arbeiten zu können.

Was sagen Sie einem Manager, der ein Unbehagen hat?

Ich sage: Nehmen Sie das Unbehagen ernst, spüren Sie einmal, wie das ist, Gott sei Dank haben Sie ein Unbehagen! Ich bestärke den Manager in seinem Unbehagen, in der Hoffnung, dass sich aus diesem Unbehagen, dieser Frustration, diesem Leidensdruck heraus etwas verändert.

Steht Verzicht nicht in direktem Widerspruch zu unserem Wirtschaftssystem? Es geht doch im Grunde immer ums Mehr: mehr verkaufen, mehr verdienen, mehr gewinnen.

In diesem Mehr steckt in der Tat eine Eigendynamik. Aber Verzicht darf nicht als etwas Negatives verstanden werden, sondern kann ein Gewinn sein. Nur schon rein individuell, weil ich dann nicht mehr bei jeder Hundsverlochete dabei sein sowie Smalltalk und Fastfood-Mentalität pflegen muss. Solcher Verzicht kann bei Menschen in der Chefetage einen «change of mind», wie das so schön heisst, in Gang setzen. Man darf den Einfluss des Leidens nicht zu gering schätzen. Ein Beispiel ist Nelson Mandela. Was hat dieser Mensch durch seine Persönlichkeit doch an politischer Veränderung in Südafrika ermöglicht!

Sehen Sie im Wirtschaftsbereich eine ähnliche Lichtgestalt?

Gerade als ich Nelson Mandela erwähnte, fragte ich mich: Wo sind eigentlich die Wirtschaftskapitäne? Da tue ich mich etwas schwer.

Eine solche Gestalt würde umgehend als Sozialromantiker apostrophiert!

Das glaube ich nicht. Wer andere so apostrophiert, verliert an Glaubwürdigkeit. Das kommt nicht gut an. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel aus der Politik, das intensiv an die Wirtschaft gekoppelt ist: Der japanische Ministerpräsident Koizumi hat es geschafft, mit einer klaren, massiven Konfrontation gegen das Establishment etwas in Gang zu setzen. Wenn man Japan kennt, staunt man, dass der Ministerpräsident dies zu Stande gebracht hat.

Was hat er zu Stande gebracht?

Er hat eine grosse Akzeptanz vom Volk für seine Politik erhalten, das heisst, er hat massiv aufgeräumt mit alten Zöpfen. Er ist ja daran, das staatliche Postmonopol aufzuheben, und wird von einer Mehrheit der Japaner darin unterstützt.

Ist Koizumi, um jetzt in Ihrer Terminologie zu sprechen, ein tugendhaftes oder moralisches Vorbild?

Ich möchte Koizumi nicht heilig sprechen. Ich stelle nur Anzeichen von einem neuen Denken fest, das man sich vor 20 Jahren in Japan überhaupt nicht hätte vorstellen können.

Der Zen-Buddhismus ist ein östlicher Weg. Japan, Korea und China sind heutzutage in unterschiedlicher Form neue Ausprägungen der Weltwirtschaft. Vor allem Japan ist bekannt dafür, mit Rücksichtslosigkeit die Natur auszubeuten. Wie passen Zen-Buddhismus und dieses Phänomen zusammen?

Es ist wie beim Christentum. Die alten Traditionen haben nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher. Japan ist heute westlicher als der Westen. Kommt der totale Zusammenbruch vor 60 Jahren hinzu: Japan war am Boden zerstört. Ähnlich wie Deutschland hat Japan ein Wirtschaftswunder par excellence erlebt, und dieses gelangt nun an ein Ende. Jetzt gibt es in Japan eine Rückbesinnung. Das Leben auf Pump, auf Reserve, auf Kosten auch zum Beispiel der schönen Nationalparks nimmt ab. Via Westen und Amerika kommt dank der Globalisierung ein weniger sturer Zen-Buddhismus wieder nach Japan zurück. Das ist die positive Globalisierung, nämlich der Austausch von Werten.

Hat dies auch etwas mit dem 11. September zu tun? Damals ging der Hedonismus in Europa zusammen mit dem Platzen der New-Economy-Blase zu Ende.

Es war ein Schrecken und ein Aufhorchen. Selbstverständlichkeiten wie die öffentliche Sicherheit wurden massiv in Frage gestellt. Mit den Anschlägen in Madrid und London ging das Aufschrecken und Aufhorchen weiter. Die erste Reaktion ist schwarzweiss: Die andern sind die Bösen, wir die Guten. Das Nachdenken über unseren Anteil am Angriff auf unsere Sicherheit hat aber eingesetzt.

Der aggressive Islamismus hat auch Gründe, die wir mitverschulden. Wie würden Sie diese umschreiben?

Der American Way of Life ist für verschiedene Menschen eine Verletzung
ihrer Kultur. Sie sagen sich: Wenn die Coca-Cola-Mentalität uns überschwemmt, dann verlieren wir uns, dann verlieren wir unsere ureigenen Werte.

Und die systemimmanenten Gründe?

In den drei abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – gibt es die Tendenz zum Fundamentalismus. Fundamentalisten sind Menschen, die kein Fundament haben. Sie pochen äusserlich auf ein Fundament, auf ihren Gott, und schlagen in seinem Namen zu.

Heisst das, dass die spirituellen Führer eines aggressiven Islam gegen Regeln des Weltethos verstossen?

Soweit sie das tun, sind sie für mich keine spirituellen, sondern religiöse Führer. Ich unterscheide zwischen Religion und Spiritualität. Ich kenne Scheichs und Rabbiner, die total dem Bild widersprechen, das wir vom Nahen Osten her haben.

Die Umstände sind nicht so positiv für die Geisteshaltung, die Sie propagieren.

Ich steigere mich nicht in eine optimistische Lebenshaltung hinein, wenn Sie das meinen. Wohl aber verbinde ich mich durch meine Meditationspraxis bewusst auch mit meinen Gegnern, mit Menschen, die mir Mühe bereiten. Diese helfen mir enorm, weil ich mich in ihnen sehe. Immer dann, wenn ich stagniere, wenn ich zu bequem bin, wenn ich leise trete und meine Meinung nicht sage, dann verzweifle ich an der Welt. Immer dann, wenn ich trotz vielen Schwierigkeiten, trotz meiner Geschichte und meiner Programmierung einen Schritt mache und auf Menschen zugehe, wenn ich die Antennen ausfahre, ein Lämpchen aufblitzen lasse, dann traue ich nicht nur mir, sondern auch den andern eine Veränderung zu.

Dann spüren Sie positive Energie?

Genau. Ich möchte hier einen Appell anbringen: Ein guter, achtsamer Umgang mit sich und Freude an sich selber machen es möglich, auch bei den andern das Positive zu sehen.

In Ihrem Buch sprechen Sie auch die Moral an. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie hörten, dass US-Präsident Bush unter der Prämisse der Moral den Irak angreift?

Die Welt ist komplizierter, man kann sie nicht ohne weiteres in Gut und Schlecht unterteilen. Moral in diesem negativen Sinn wird zur Moralpauke und führt in die Hölle. Moralisten haben ein riesiges Über-Ich. Das Schlimmste ist, wenn sie ihren «Auftrag» angeblich von Gott erhalten – als «Auftrag», im Interesse des Wohles der Menschen Unheil anzurichten. Da hilft nur Aufklärung.

Zen hat etwas mit Stille und Einkehr zu tun. Schaffen Sie es in der heutigen lauten Welt, mit einem stillen Konzept zu überzeugen?

Ich kann und will nicht überzeugen. Ich kann Menschen einladen, sich auf den Boden zu setzen und still zu werden. Und dann schauen, was sich ergibt. Das ist gerade der Unterschied zur Moral, die vorschreiben will, was gut ist und was nicht. Ich kann den Leuten einen bestimmten Weg vorschlagen und schauen, was passiert.

Was ist bei Ihnen passiert, als Sie sich auf den Weg aufgemacht haben?

Ich bin nicht als frustrierter Abendländer in den Osten aufgebrochen, um Zen zu praktizieren. Ich bin aus Neugier gegangen, im Wissen darum, dass ein Austausch ansteht. Wir sind im christlich-abendländischen Denken nicht die Hirsche schlechthin. Am Anfang stand für mich fest: Es gibt eine Austausch-, eine Ergänzungsmöglichkeit. Durch diese Begegnung mit einer ganz anderen Kultur – nicht auf der theoretischen Ebene, sondern auf der Ebene der Erfahrung – hatte ich das grosse Glück, dass ich mich öffnete, erweiterte, dass scheinbare Widersprüche aufgelöst wurden. Es gibt immer ein «Ja, und» und nicht nur ein «Ja, aber».

Ihr Buch heisst «Vom Vorteil, gut zu sein».

Richtig. Aber nicht einem so genannten Gutmenschen rede ich das Wort. Der ist dumm. Die erste Tugend, die zu einem guten Menschen führt, ist Klugheit. Und klug ist der Mensch, der in sich geht und entsprechend seiner Einsicht handelt. Das geht nicht ohne Übung. Mein Buch ist ein Übungsbuch. Übung der Präsenz, dass ich lerne, wirklich präsent zu sein, dass ich lerne, wirklich da zu sein, wenn ich da bin. Wer lernt, präsent zu sein, wird ein Präsent, ein Geschenk. Chefs, die lernen, präsent zu sein, sind ein Präsent für die Mitarbeitenden und die Welt.