BILANZ: Wie ist es in diesen Tagen, Noel Gallagher zu sein?

Noel Gallagher: Sie meinen im Vergleich zur Zeit, als es Oasis noch gab?

Natürlich. Vor zwei Jahren haben Sie eine der berühmtesten Rockbands Englands verlassen. Wie hat das Ihr Leben verändert?

Ich lebe seither in meinem eigenen Tempo. Ich lasse mir Zeit. Das Blöde ist: Wenn ich jetzt mit meinem ersten Soloalbum einen Flop produziere, bin ich allein dafür verantwortlich. Und die Konzerte, die ich nun spielen werde, machen mir etwas Sorgen. Ich bin nicht der geborene Frontmann.

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Bei Oasis gab es die Rollenverteilung: Sie schrieben die Lieder, Ihr Bruder Liam sang sie.

Wissen Sie, ich fühle mich in der Mitte einer Bühne nicht besonders wohl. Ich habe keine schicken Tanzbewegungen drauf, ich kann keine Witze erzählen. Ich habe nicht mehr als meine Songs, die müssen reichen. Aber das werden sie. Ich habe wirklich ein verdammt gutes Album aufgenommen.

Simpel gefragt: Woher weiss man das als Musiker?

Man hört sich Lied für Lied an und stellt fest: Besser hätte ich es nicht hinbekommen können. Ich würde nichts ändern. Vielleicht ein paar technische Kleinigkeiten, aber die sind unwichtig. Nein, ich höre das Album und denke: Das wird die Zeit überdauern.

Mit Selbstzweifeln hatten Sie nie zu tun, oder?

Das war nie das Problem, nein.

Von heute aus gesehen ist das verständlich. Aber woher hatten Sie Ihr Selbstvertrauen ganz am Anfang?

Von meinen Songs. Ich hatte vor dem ersten Oasis-Album schon genug Ahnung von vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Musik, um zu wissen: Unsere Band wird gross. Als ich «Wonderwall» und «Don’t Look Back in Anger» schrieb, merkte ich, was für einen verfluchten Lauf ich hatte, und ich wusste, dass das zukünftige Welthits würden, und, herrje, ich platzte schier vor Selbstvertrauen. Ich habe mir nur nicht vorgestellt, dass wir mit Oasis am Ende in Fussballstadien auftreten würden. Und dass unsere erste Platte in den darauffolgenden 15 Jahren zu den wichtigsten drei Alben der britischen Musikgeschichte gezählt würde.

Auch Ihr zweites Album wurde ein gigantischer Erfolg. Beim dritten kippte das Ganze plötzlich – Sie konnten weder Kritiker noch Publikum so recht begeistern.

Zwischendurch habe ich ein wenig von dem verloren, was niemand benennen kann – von dem, was dich morgens aus dem Bett treibt, um Musik zu schreiben. Erfolg und Geld sind dafür einfach nicht nützlich.

Warum eigentlich nicht?

Weil man nichts dagegen machen kann, dass man eines Morgens denkt: Musik? Pfff! Lieber ein paar Drogen.

Und wenn es einmal weg ist, das Unbenennbare, dann kommt es nicht wieder?

Bei mir schon. Vor zehn Jahren ungefähr, von da an ging es wieder bergauf. Mein Songwriting ist heute besser als damals. Welcher 44-Jährige kann das schon von sich behaupten?

Keiner?

Genau! Und der eigentliche Trick besteht darin, nicht das Gelungene, sondern das Missratene zu erkennen. Selbst wenn andere Leute einem erzählen, dass das ganz, ganz toll ist.

Anders als in eigentlich allen anderen Kunstformen gibt es in der Popmusik keine Lehrinstitution, die einem bestätigt, dass man talentiert ist.

Die anderen nehmen sich aber auch viel ernster. Schauspieler machen sich in die Hose wegen Filmpreisen, und Maler bilden sich furchtbar was ein, wenn ihr Mist ins Museum kommt. Unsere Bestätigung ist die unmittelbare Reaktion des Publikums. Ein Maler kann nicht jeden Abend ins Museum gehen und sein altes Bild noch mal enthüllen – zumindest stünden da nicht ein paar tausend Menschen und würden klatschen, jubeln, schreien, weinen. Rock ’n’ Roll ist die beste Kunstform.

Sind Maler und Schauspieler deswegen nicht neidisch auf Sie?

Ich habe mich mal sehr lange mit einem Schauspieler darüber unterhalten, es könnte sich dabei um Johnny Depp gehandelt haben. Nun, er sagte: «Ich kann nicht bei einer Party aufstehen und einfach schauspielern, auch wenn ich noch so gut wäre. Ihr hingegen nehmt eure Gitarre in die Hand – und die Leute drehen durch.» Leider gibt sich die Musik damit aber nicht zufrieden. Stattdessen baut sie sich so einen Unfug wie die Rock ’n’ Roll Hall of Fame und versucht, Musiker zu Göttern zu erklären.

Jetzt sagen Sie bloss, Sie machen es nicht auch für den Ruhm.

Selbst wenn ich nur vor dreissig Leuten spielen würde, dächte sich jeder der dreissig bei jedem Lied etwas anderes. Das ist das eigentliche Wunder des Rock ’n’ Roll. In der Musik geht es immer zuerst um den Zuhörer und darum, wie er Musik wahrnimmt. Ein Gemälde mit einem Hund drauf ist ein Gemälde mit einem Hund drauf, Ende.

Das könnte aber doch auch jeder Betrachter anders sehen, es käme auf den Grad der Abstraktion an, nicht?

Erkennt man den Hund nicht, ist es ein bescheuertes Gemälde.

So viel zum Kunstverständnis.

Musik löst einfach unmittelbarer als irgendwas sonst Gefühle und Erinnerungen aus. Punkt.

Popmusik ist aber viel mehr an ihre Zeit gebunden. Sie definiert sie und wird von ihr definiert: Wenn Sie Ihr Album «Definitely Maybe» fünf Jahre vorher oder nachher aufgenommen hätten, wäre es wohl fünf Jahre zu früh oder zu spät gewesen.

Ich weiss, was Sie meinen. Gutes Timing hilft in der Popmusik. Doch ich bin mir sicher: «Definitely Maybe» könnte auch morgen aufgenommen werden, es würde übermorgen ein Riesenerfolg. Ein anderes Beispiel: «Nevermind» von Nirvana wird immer mit der Zeit des Grunge in Verbindung gebracht, aber es wäre auch ohne Grunge genial gewesen. «Never Mind the Bollocks» von den Sex Pistols wurde vor mehr als dreissig Jahren aufgenommen, doch wenn man es heute auflegt, denkt man noch immer: Himmel, Herr, das ist die Zukunft! Wie das geht? Keine Ahnung. Meine Erklärung lautet: Sahne schwimmt oben, egal zu welcher Zeit.

Es gibt auch so was wie die Magie des Augenblicks, und in der Popmusik tritt sie besonders gerne in Gestalt junger Männer auf, die zusammen in einer Band spielen. Doch kaum sind die jungen Männer nicht mehr ganz neu, ist die Magie weg. Warum?

Die Magie kommt daher, dass der Songschreiber dieser Band im gleichen Alter ist und unter den gleichen Umständen lebt wie diejenigen, für die er seine Songs schreibt. Man nennt dies Identifikation. Bei unserer ersten Platte hatte ich kein Geld, ich lebte in einer Sozialwohnung, die der Staat bezahlte, ich trug die gleichen Klamotten wie alle anderen. Die Leute konnten sich mit mir identifizieren.

Das ging zwei Platten lang gut, dann waren Sie grösser als Gott.

So ist das halt: Wenn es gut läuft für die Band, wird die Distanz zum Publikum immer grösser. Plötzlich hatte ich einen Privatjet, einen Rolls-Royce. Die Wahrnehmung der Leute ändert sich: Sie sehen in dir den Rockstar und behandeln dich auch so. Und du führst dich entsprechend auf. Ob das für die Musik gut oder schlecht ist, weiss ich nicht. Für den Rockstar ist es gut, glauben Sie mir. Aber die Magie ist weg.

Die also kommt im Unterschied zur guten Songschreibe nicht wieder?

Es kommt einem als Rockstar halt immer was dazwischen: Frauen, Kinder, Ferien, Drogen. Man braucht allein schon dafür eine Auszeit, um ein standesgemässer Drogenabhängiger zu sein. So was dauert. Und dann braucht man wieder eine Auszeit, um von der Sucht runterzukommen. Wer Glück hat, überlebt es, wer Pech hat, tut es nicht. Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll: Ich habe von allem reichlich gehabt. Und ich habe es überlebt.

Ganz ehrlich: Vermissen Sie Oasis nicht ein bisschen?

Sagen wir es so: Mir wäre es lieber, mein neues Album wäre eines von Oasis. Dann wüsste ich, was auf mich zukommt. Ich hatte meine Rolle in dieser Band, ich habe sie immer weiter perfektioniert, sie war komfortabel. Nun fange ich wieder von vorne an.

Was erwarten Sie, wenn Sie auf Tour gehen?

Ich habe gerade zwei Szenarien, sie fangen beide gleich an: Nach exakt dem zwölften Konzert sitze ich in der Garderobe. Im ersten Szenario sage ich: «Leute, es könnte sein, dass ich tatsächlich so gut bin wie Elvis. Ich bin ein so grandioser Performer wie er, und als Songschreiber bin ich doppelt so gut wie Bob Dylan, vielleicht sogar besser als Neil Young und John Lennon. Ich glaube, ich bin der Beste aller Zeiten.»

Das ist die Variante Grössenwahn. Und die andere?

Da sage ich: «Ich hasse es, ich halte es nicht aus, ich will nach Hause, sofort.»

Dazwischen gibt es nichts?

Das gäbe es, doch das wäre das Schlimmste. Ich könnte denken: Tja, ganz okay.

Warum setzen Sie sich der Gefahr des Scheiterns überhaupt noch aus? Geld haben Sie genug. Jedenfalls so viel, dass Sie sich anstrengen müssten, es in diesem Leben noch auszugeben.

Das ist tatsächlich schwerer, als man denkt, harte Arbeit, dieses Geldausgeben, he he. Aber, wissen Sie: Wenn ich jetzt noch länger zu Hause herumhinge, würde ich meiner Frau endgültig auf die Nerven gehen. Die fragt schon die ganze Zeit: «Wann gehst du noch mal auf Tour?»

Das sind so die Gespräche der Gallaghers am Frühstückstisch?

Unter anderem. Ich sitze einfach gern zu Hause, gucke ein bisschen Fernsehen, spiele ein bisschen auf der Gitarre herum, so Sachen. Meine Frau muss das mit anschauen. Fakt ist: Ich schreibe in dem, was man so Freizeit nennt, Lieder. Warum sollte ich sie nicht veröffentlichen? So können andere Menschen sie auch hören. Und es kommt weiter Geld herein.

Warum haben Sie sich überhaupt einst diesen Rolls-Royce gekauft? Sie haben keinen Führerschein.

Nein, nie gemacht. Ich bin den Wagen auch nie gefahren.

Sie wollten ihn nur besitzen?

Richtig, zu einer gewissen Zeit meines Lebens war das wichtig. Aber dann stand er die ganze Zeit in der Garage. Also habe ich ihn verkauft, irgendwann. Das tat nicht weh.

Der Privatjet ist noch da?

Das war wirklich ein Scherz. Nein, ich hatte nie einen Privatjet, ehrlich. Ich mache mir eigentlich nicht so viel aus Besitz. Ich habe ein schönes Haus, ich habe schöne Gitarren, ich schicke meine Kinder auf unsittlich teure Privatschulen, aber das ist es eigentlich auch schon, wofür ich Geld ausgebe.

Bei den beliebten Listen der reichsten Briten gibt es doch bestimmt auch eine mit Musikern. Und dann steht da: Noel Gallagher, 20 Millionen Pfund oder so, Platz 15 oder so …

… 63,5 Millionen, laut der letzten. 63,5 Millionen! So viel soll ich wert sein.

Wie fühlt sich das an? Denkt man: Wow, so viel? Oder: Warum hat dieser verdammte Paul McCartney so viel mehr als ich?

Man denkt: Sorry, so viel ist es nicht. Keine Ahnung, wie die auf die Summe kommen, woher die ihre Informationen beziehen. Meine Frau sah die letzte Liste und sagte: «Ernsthaft? So reich bist du?» Ich antwortete: «Nein!» Worauf sie anfing nachzuhaken: «Wirklich nicht? Nein?» Diese Listen sind nicht nur Nonsens – sie stören meinen Hausfrieden.

Wann haben Sie zuletzt den Kontostand gecheckt?

Noch nie. Eine Angestellte kümmert sich in meinem Büro um meine Finanzen. Vor 15 Jahren habe ich ihr gesagt: «Es interessiert mich nicht im Geringsten, wie du mein Geld anlegst. Ich will nur nicht eines Tages in der Zeitung lesen, dass ich Waffen kaufe oder Aktien von Unternehmen, die seltsame Dinge herstellen. Und ruf mich niemals, wirklich niemals an – bis zu dem Tag, an dem nur noch eine Million Pfund übrig ist.»

Er kam natürlich noch nicht, der Anruf.

Bis heute nicht. Vielleicht bin ich ja wirklich stinkreich.

Was wäre dann?

Dann bräuchte ich vielleicht wirklich ein teures Hobby.

Brit-Pop-Legende
Noel Gallagher wurde 1967 in der Nähe von Manchester geboren. Nach einer Zeit als Roadie schloss er sich 1992 der Band seines jüngeren Bruders Liam an, die beiden bildeten von da an Oasis. 1995 wurde das zweite Album, «(What’s The Story) Morning Glory» zum Inbegriff des Brit Pop, es verkaufte sich weltweit mehr als 20 Millionen Mal. 2009 verliess Noel die Band, worauf sich diese auflöste. Noel nahm sein erstes Soloalbum auf. «Noel Gallagher’s High Flying Birds» ist vor kurzem erschienen. Seit Oktober ist er auf Tour. Am 23. März 2012 gibt er im Zürcher Komplex Nr. 457 sein einziges Konzert in der Schweiz.