BILANZ: Herr Bundespräsident, die Vorgängerin in Ihrem Departement, Ruth Dreifuss, erzählte jeweils, sie erhalte nach jeder «Blick»-Schlagzeile zur Sicherheit der Renten Briefe von besorgten Bürgern, die nicht mehr schlafen könnten. Ihr Briefkasten muss in den letzten Monaten überquollen sein.

Pascal Couchepin: Nein. Ich bekomme interessante Zuschriften vorgelegt, aber eine Briefflut stellten wir nicht fest. Im Gegenteil: Beim Auftritt auf der Petersinsel spürte ich natürlich die Aggressivität, doch im Sommer empfand ich die Stimmung auf den Strassen als sehr positiv. Und jetzt sagen mir die Leute auch, sie seien vom Wahlkampf enttäuscht.

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Wo sehen Sie einen Wahlkampf?

Ja, die Inhalte fehlen völlig. Die Menschen wollen doch wissen, wie die Parteien ihre Renten bezahlen, wenn sie eine Erhöhung des Rentenalters ablehnen.

Dann nehmen sie Ihnen also Ihre Provokation nicht übel?

Ich bin seit bald vierzig Jahren in diesem Geschäft, und ich habe es oft gespürt, wenn es Schwierigkeiten gab. Jetzt habe ich das Gefühl, ich würde gut gewählt, wenn ich zur Wahl stünde.

Aber Sie gelten auch lieber als beliebter Landesvater denn als Buhmann.

Nein, wenn ich dieses Amt einmal aufgebe, will ich mir nicht sagen müssen: Du hast etwas nicht gemacht, was du hättest machen müssen, nur aus Angst um deine Popularität.

Allerdings haben Sie mit Ihren Angriffen auf das Schweigekartell provoziert, dass jetzt tatsächlich Schweigen herrscht.

Die Alternative wäre schlechter gewesen: Das Schweigekartell hätte nicht einmal zeigen müssen, dass es schweigen will.

Der FDP haben Sie aber nicht den Dienst geleistet, den Sie ihr leisten wollten.

Ich weiss es nicht. Gegenwärtig sieht es so aus, dass diese Debatte das Wahlergebnis nicht beeinflusst.

Die Freisinnigen setzen sich bei der Erhöhung des Rentenalters auch schon von Ihnen ab und schicken nur noch Sie vor.

Sie schicken mich nicht, ich gehe von allein. Aber im Ernst: Es wird interessant sein zu sehen, was die Wählerschaft zu den Leuten meint, die schweigen.

Blocher bringt es jedenfalls Erfolg.

Das ist tatsächlich ein Problem in der Schweiz. Sehen Sie nur: 44 der 46 Abstimmungen in dieser Legislatur sind gemäss den Parolen der FDP und meist auch der CVP ausgegangen. Das zeigt doch, dass wir Lösungen vorlegen, die das Volk anerkennt. Aber diese Anerkennung widerspiegelt sich nicht in den Wahlergebnissen. Die Leute glauben, sie könnten beides haben: die guten freisinnigen Lösungen, aber auch die Peitsche der Opposition, von links oder von rechts. Sie meinen wohl, damit hätten sie die Checks and Balances.

Sie brauchen die Peitsche doch selber.

Ich nicht, nein. Einem Journalisten, der mich fragte, was wir noch machen wollten, wenn die SVP und die SP je 25 Prozent gewännen, also zusammen die Mehrheit, antwortete ich deshalb: Das ist eine falsche Rechnung – 25 minus 25 macht null. Als Rest bleiben die freisinnigen Lösungen …

… aber Sie haben keine Mehrheit dafür.

Ich habe letzthin das interessante Buch «The Future of Freedom» von Fareed Zakaria gelesen, einem «Newsweek»-Journalisten. Er spricht sich gegen die direkte Demokratie aus, er sagt, die Schweiz sei eine Ausnahme, aber kein Trendsetter. Der Trendsetter sei Kalifornien, wo die direkte Demokratie nicht spielt. Dort bekommen die Emotionen ein zu grosses Gewicht, reiche Leute kaufen Abstimmungen und Wahlen.

Wie Arnold Schwarzenegger?

Ich weiss nicht, ob er gewinnt. Aber er ist nicht so, wie wir mit unseren Vorurteilen glauben. Er hat ein Studium gemacht und sein Vermögen gut verwaltet. Er ist nicht so dumm, wie alle Medien behaupten. Aber zurück zur Schweiz: Bei uns spielt die direkte Demokratie – das ist die These von Tocqueville –, weil die Leute nicht eindimensional sind. Sie nutzen viele Informationsquellen, Parteien, Medien, Gewerkschaften, Kirchen, Reisen, Gespräche mit Freunden, und sie sind es gewohnt, diese Informationen zu verarbeiten. Sie haben wirklich bei den Abstimmungen einen gut informierten gesunden Menschenverstand. Aber bei den Wahlen haben wir kalifornische Verhältnisse. Die Leute sagen sich: Unser System ist so solid, dass wir mit der Peitsche spielen, also die SVP wählen können. Wenn es dagegen um konkrete Entscheide geht, dann machen sie Ernst.

Und den gesunden Menschenverstand setzen Sie mit dem Freisinn gleich?

Ja. Beunruhigend finde ich: Wenn es so bleibt wie in dieser Legislatur, mit zwei halben Oppositionsparteien, die halb mitmachen, geht es noch. Ihre Bundesräte übernehmen ja auch Verantwortung, sie arbeiten mit uns zusammen. Aber wenn diese beiden Parteien ein zu grosses Gewicht bekommen, dann wird es schwierig. Dann bleibt der Bundesrat ständig allein, mit der Minderheit der Mitte. Er kann schon Volksabstimmungen gewinnen, wird dabei aber stets von beiden Seiten angegriffen.

Zur Person
Pascal Couchepin


«König Pascal I.» ist er für die Medien, «der derzeit einzige Politiker im Bundesrat» für Peter Bodenmann: Pascal Couchepin, der 2003 lustvoll das Amt des Bundespräsidenten ausübt, hat das Handwerk der Politik von der Pike auf gelernt. 1942 geboren, schaffte er nach dem Jusstudium schon mit 26 im heimatlichen Martigny den Sprung in die Exekutive, mit 42 ins Stadtpräsidium. 1998 erreichte er sein unverhohlen angestrebtes Ziel: die Wahl in den Bundesrat. Nach gut vier Jahren als Volkswirtschaftsminister muss der Pragmatiker mit philosophischem Tiefgang jetzt als Innenminister noch schwierigere Probleme lösen.

Vielleicht überfordern Probleme wie die Altersvorsorge und das Gesundheitswesen die direkte Demokratie, wenn es nur noch Verzicht und Verlierer gibt.

Das ist die Frage, ja. Aber als Demokrat bin ich überzeugt, dass die Demokratie Bestand hat. Es gibt ja diese Geschichte vom russischen Flüchtling in New York. Er sieht in einem Laden ein Hemd, nach fünfzig Metern dasselbe Hemd zu einem anderen Preis und nach hundert Metern nochmals. Wieder zu Hause, sagt er seiner Frau: Was ist das für eine Zivilisation, in der man nachdenken muss, wenn man ein Hemd kauft? Ich beobachte fasziniert, welche Wissenschaft meine Kinder mit den Telefontarifen betreiben. Und ich glaube, nach der Krise des letzten Jahres verfügen die Leute bald über ein ebenso fantastisches Wissen, was die zweite Säule angeht. Das zeigten mir die Reaktionen auf den Entscheid, den Mindestzinssatz nochmals zu senken. Die Letzten, die sich noch künstlich empörten, waren die Medien.

Und die Gewerkschaften ein bisschen.

Ja, die empören sich von Berufs wegen.

Der «Blick» schrieb allerdings, der Entscheid des Bundesrates sei eine Niederlage für Sie.

Ach, man weiss ja, dass der «Blick» das Sprachrohr der SP ist.

Waren Sie denn zufrieden mit dem Entscheid des Bundesrates?

Er ist in Ordnung. Deshalb sagte ich meinen Mitarbeitern: Wenn wir so mit guten Entscheiden weitermachen, ist das Problem der zweiten Säule in drei, vier Jahren gelöst. Wenn die Gesetzesrevision durch ist, können wir die nächsten Probleme anpacken. Denn die Leute werden immer mehr wissen, worum es geht. Sie werden sich mit Zahlen abfinden, die sie heute noch als skandalös betrachten, weil sie einsehen, dass die Lebenserwartung steigt und dass deshalb das Altersguthaben nicht für gleich hohe Renten reicht.

Warum hat denn das Volk die SP-Initiative zur Krankenversicherung so klar abgelehnt, entgegen allen Umfragen?

Weil es weiss, dass diese Versprechen nicht zu halten sind.

Aber die Grenzen der Demokratie sind doch erreicht, wenn die Nutzniesser die Mehrheit haben: 51 Prozent der Urnengänger sind über 50.

Mein lieber Freund, wenn Sie so rechnen, geht die Erhöhung des Rentenalters durch. Wie alt sind Sie?

So alt, dass mich die Erhöhung betrifft.

Eben. Der Journalist Beat Kappeler rechnete einmal aus, dass 2011 die Mehrheit der Urnengänger im Rentenalter sein werde. Das würde heissen: Wir haben kein Problem, die Mehrheit ist gar nicht betroffen. Beim Mischindex könnten Sie so rechnen, wie Sie es tun. Aber ich glaube nicht, dass die Schweizer so denken. Sie entscheiden auch als Bürger, nicht nur als Privatpersonen, wenn sie spüren, dass es das Gesamtinteresse verlangt. Das haben wir bei der Mehrwertsteuer gesehen: Niemand wollte sie aus Eigeninteresse, ausser der Exportindustrie.

Das ist der Unterschied zu Deutschland, wo jeder für sich schaut.

Ich bin überzeugt, dass sich der Schweizer als Mitglied einer Gemeinschaft sieht. Und ich bin überzeugt, dass es so bleibt. Darum will ich nicht, dass diese Halbregierungsparteien weiter gewinnen. Ein Volk, das seine Steuern selber festlegt, ist fähig, gegen seine Partikularinteressen zu entscheiden. Das ist der «contrat social» von Rousseau: Ich gebe als Individuum etwas, um kollektiv etwas zu gewinnen.

Die direkte Demokratie braucht aber einen Grundkonsens, und der bröckelt.

Nein, der Konsens ist doch grösser als in den Dreissigerjahren. Es gibt keine Alternative zur Demokratie: Der Faschismus und der Kommunismus sind untergegangen. Es gibt keine Alternative zum Wachstum: Niemand fordert noch Nullwachstum. Und es gibt keine Alternative zur Marktwirtschaft: Einige verlangen zwar nicht-WTO-konforme Regelungen, aber auch nicht wirklich ernsthaft.

Sie gelten als Meister des politischen Handwerks, also des Interessenausgleichs und der Konsenssuche. Aber lassen sich Probleme wie das Gesundheitswesen noch so lösen?

On verra. Aber schauen Sie doch die Gewerkschafter an, die sagen, es gebe kein Problem mit der AHV. Am Ende jedes Interviews meinen sie, vielleicht sollte man mit der Erbschaftssteuer oder mit dem Nationalbankgold etwas machen. Das bedeutet doch, dass sie das Problem anerkennen und sich um Lösungen bemühen. Wenn Sie mich fragen, ob ich für Rentenalter 67 bin, sage ich natürlich sofort Nein. Aber wenn Sie mich fragen, ob ich ein höheres Rentenalter oder mehr Lohnprozente für die AHV will, beginne ich mit dem Abwägen. Die Kunst der Politik besteht darin, keine absoluten Fragen zu stellen, sondern nur zu fragen: Sehen Sie das Problem? Dann finden wir mit Alternativen eine Lösung.

Bundeshausinsider werfen Ihnen vor, Sie hätten die AHV-Debatte nur angezettelt, um davon abzulenken, dass Sie das Problem mit dem Gesundheitswesen auch nicht lösen können.

Nein, bei der AHV sind einfach die Eckdaten bekannt. Wir wissen jetzt schon, wie viele Leute 2050 über 65 sind, da können wir bereits das Ziel der Reise zeigen. Beim Gesundheitswesen ist es viel schwieriger. Da mussten wir zuerst die Lage deblockieren. Mit der Lockerung des Kontrahierungszwangs (die Krankenkassen müssen alle zugelassenen Ärzte akzeptieren, Red.) machen wir einen ersten, scheuen Schritt. Aber wenn diese Vorlage in der Abstimmung scheitert, müssen wir uns natürlich fragen: Welche Politik können wir machen? Denn es gibt keine Eckdaten, alles ist offen.

Ausser, dass es immer mehr kostet.

Ja, aber vielleicht wollen das die Leute so. Vielleicht wollen sie den Kontrahierungszwang nicht aufheben, um den Preis, dass sie noch mehr bezahlen. Erst wenn die KVG-Revision durch ist, können wir die nächsten Schritte machen.

Sie hätten einige Sorgen weniger, wenn die Wirtschaftslage besser wäre. Bei Ihren Projektionen für die AHV gehen Sie von 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum aus. Aber in Ihrer Zeit als Wirtschaftsminister erreichte die Schweiz nicht einmal das.

Die Gewerkschafter behaupten ja, wir könnten ein viel höheres Wachstum erzielen. Vasco Pedrina sagt, es habe niemals in der Geschichte so pessimistische Prognosen gegeben wie die von Couchepin. Er hat wohl eine nicht so lange Sicht der Geschichte. Können wir ein höheres Wachstum erreichen? Gute Frage.

Wissen Sie die Antwort?

Nein, wenn wir in den nächsten Jahren durchschnittlich 1,5 Prozent schaffen, ist es schon gut.

Wo hapert es denn?

Wir müssen vor allem beim Binnenmarkt ansetzen, bei den administrierten Preisen für Strom und Wasser und bei den Gebühren.

Und das lässt sich durchsetzen, wenn die Blockierer noch dazugewinnen?

Wenn es uns nicht gelingt, dann bestraft uns die Wirklichkeit. Sie sehen ja, was in Deutschland oder Frankreich geschieht. Frankreich ist fantastisch: Da wurde zwar die Zahl der Beitragsjahre für die Renten erhöht, aber niemand wagte es, die Privilegien anzutasten. Die Eisenbahner können immer noch mit 50 in Pension gehen, obwohl sie ja, so viel wir wissen, nicht mehr den ganzen Tag Kohlen in den Heizkessel schaufeln.

Sie sind vor allem als Bundespräsident viel in der Welt herumgekommen. Wo sehen Sie bessere Lösungen?

Die USA lösen das Wachstumsproblem besser, aber zu einem Preis, den ich nicht bezahlen will: Sie glauben immer noch, dass jeder selber schuld ist, wenn er scheitert. Das ist eine Philosophie, die ich nicht teile; in unseren alten, aber guten Gesellschaften kann man nicht so mit den Menschen umgehen.

Was war Ihre schönste Reise in diesem Jahr?

Gefühlsmässig ist es für mich natürlich in Frankreich einfacher – aber die Bekanntschaft mit Gerhard Schröder zu machen, war eine sehr positive Erfahrung. Ein alter Freund, Ex-Wirtschaftsminister Werner Müller, sagte mir schon lange, ich müsse Schröder kennen lernen, um zu verstehen, weshalb er diesen als Wirtschaftsminister begleitet habe. Das war für mich eine Entdeckung.

Sehen Sie eigentlich politische Differenzen zwischen Schröder und Ihnen?

Nicht viele …