BILANZ: Herr Aebischer, Sie haben mit dem Ja zur SVP-Initiative am 9. Februar gleich doppelt verloren. Wer leidet mehr: der Forscher oder der Romand in Ihnen?

Patrick Aebischer: Eindeutig der Forscher. Aber es geht nicht nur um mich und nicht nur um die ETH Lausanne. Es geht um viel mehr. Wenn wir nicht schnell eine Lösung finden, dann erleben wir das Grounding des Schweizer Forschungsplatzes.

Warum diese Dringlichkeit? Der Bundesrat sagt, wir hätten drei Jahre für eine Lösung.
Das mag ja für die Ausarbeitung eines Kontingentsystems stimmen. Aber der Forschungsplatz ist jetzt in Gefahr. Ich brauche eine Lösung bis zum 25. März. Bis dahin müssen die Forscher ihre Projekte für die Programmbeiträge des Europäischen Forschungsrats einreichen, für die European Research Council (ERC) Grants. Das sind die prestigeträchtigsten Programme, die es in Europa überhaupt gibt. Wir haben heute in Lausanne nicht weniger als 91 Professoren, die solche Beiträge erhalten. Mit der ETH Zürich und Oxford sowie Cambridge gehören wir zu den vier Universitäten Europas mit den meisten Beiträgen des ERC. Jetzt erhalte ich ständig Mails von verunsicherten Professoren, die mich fragen, ob sie überhaupt noch mitmachen können.

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Und: Was raten Sie ihnen?
Natürlich sollen sie mitmachen. Und ich hoffe, dass die Politik hier schnellstmöglich eine Lösung findet – und wenigstens Übergangsbestimmungen herausholen kann.

Und falls nicht?
Die Weltbesten sind sehr mobil. Wir werden Forscher verlieren. Und es wird schwieriger werden, neue anzulocken. Heute kann ich mithalten – sogar mit Stanford und Harvard. Aber wenn ich einem Spitzenforscher ein Angebot mache und ihm dann erklären muss, dass er jetzt noch drei Monate auf eine Bewilligung warten muss, dann geht er dann doch lieber nach Harvard. Die Wissenschaft ist global geworden.

Das heisst?
Um die Spitzenleute streiten sich alle guten Universitäten. Wenn wir sie nicht mehr holen können, dann werden wir es spüren. Nicht morgen, aber nach und nach. Der Niedergang schreitet langsam voran. Denn die Wissenschaft ist die Basis des Wohlstands von morgen, der Wirtschaft von morgen. Wir zerstören die Substanz. Ich erhalte jetzt immer wieder Anrufe aus dem Ausland. Die Menschen verstehen nicht, wieso die Schweiz den Ast absägt, auf dem sie sitzt. Sie halten uns für verrückt.

Die Universitäten haben sich erst am 21. Januar in den Abstimmungskampf eingemischt – und mit einem Manifest für ein Nein geworben. War das nicht zu spät?
Ja, vielleicht. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber man hat uns nicht gehört. Es geht uns Wissenschaftlern gegen den Strich, lauthals Alarm zu schlagen. Es liegt nicht in unserem Naturell. Immerhin: In meinem Einflussgebiet, in der Romandie, haben alle Kantone Nein gesagt – und das trotz Problemen, zum Beispiel mit den Grenzgängern. Auch wenn man uns jetzt beschuldigt, keine richtigen Patrioten zu sein.

Hat Sie der Spruch von Blocher gegen die Welschen beleidigt?
Zu sagen, dass die Romandie weniger schweizerisch sei als die Deutschschweiz, ist unangebracht. Es ist bedauernswert, dass man sich überhaupt getraut, so etwas zu sagen. Man sagt immer, dass die Schweiz ihre Minderheiten liebe. Doch wehe, die Minderheit holt die Mehrheit ein! Es ist doch ein Glücksfall für die Schweiz, dass sie zwei dynamische Pole hat: den Grossraum Zürich–Basel und – nach einer spektakulären Entwicklung – den Arc Lémanique. Das sind die beiden Treiber der Schweiz. Hier werden am meisten Stellen geschaffen. Und das nicht zuletzt dank den beiden ETHs.

Wenn die Universitäten die Basis für das Wirtschaftswachstum liefern: Hat sich die Wirtschaft zu wenig für sie eingesetzt?
Wir haben wohl alle zu wenig getan. Aber es ist sehr schwierig, auf einen solchen Populismus zu reagieren. Es ist schwierig, rational zu sein gegenüber dem Irrationalen.

Sie pflegen einen engen Kontakt zu den Firmen in der Region. Wie werden diese auf die Initiative reagieren?
Die Firmen überlegen, was sie in diesem Land tun – oder eben nicht mehr tun werden. Die Annahme von extremen Initiativen führt zu Rechtsunsicherheit, gefährdet die Stabilität. Ich glaube, dass diesmal auch ein Teil der Initianten, also ein Teil der SVP, gehofft hatte, dass die Initiative durchfällt. Aber natürlich werden sie das öffentlich nie zugeben.

Wieso finden die Universitäten kein Gehör, obwohl die Schweiz immer betont, dass Bildung ihr einziger Rohstoff ist?
Vielleicht fehlt die Visibilität. Wir hatten ein Departement für Bildung und Forschung verlangt, vergeblich. Sehr wahrscheinlich sind wir das einzige Land auf der Welt ohne Ministerium für Bildung und Forschung. Wer hört schon auf die Forschung. Wir sind ja nur «nice to have».

Immerhin wurden Bildung und Forschung per Anfang 2013 im Wirtschaftsdepartement zusammengefasst.
Das stimmt. Dennoch hat der Bereich kein Gewicht. Er geht auf in anderen Bereichen, jetzt in der Wirtschaft. Wir betrachten Bildung und Forschung als gottgegeben – die Schweiz war ja immer gut in der Forschung. Und so denkt man wohl, dass sie es auch immer sein wird. Doch jetzt nimmt man ihr die Instrumente weg, die sie für die Erlangung eines Spitzenplatzes braucht. Und das macht mir wirklich grosse Sorgen.

Die Befürworter der Initiative sagen, dass die Schweiz ihre Forschung selbst bezahlen könne und dafür die EU nicht brauche.
Es ist nicht nur eine Frage des Geldes. Es geht auch um Attraktivität. Wir sind top, weil wir bisher die Besten anziehen konnten. Aber wenn man den Forschern hier nicht mehr erlaubt, international zu kooperieren – und sich international zu messen –, dann gehen sie. An andere Universitäten, wo man ihnen die Chance gibt, Leader zu sein. Es ist, wie wenn man Roger Federer oder Stanislas Wawrinka, um einen Romand zu nennen, vorschreiben würde, dass sie nur noch an nationalen Turnieren teilnehmen dürfen, und ihnen den Zugang zum Grand Slam verbaut. Heisst ihre Wahl: Gstaad statt Wimbledon und Paris, dann gehen sie.

Nochmals: Das Geld ist also kein Problem?
Doch, natürlich auch. Die ETH Lausanne hat 2013 rund 84 Millionen Franken aus Europa erhalten, wovon 24 Millionen für das «Human Brain»-Projekt sind. Der Schweizer Forschungsplatz erhält ungefähr 150 Prozent der Summen, die der Bund in die kompetitiven EU-Programme einzahlt. Wenn die Schweiz die Kosten für alle Projekte alleine zahlen will, dann muss das Parlament das Budget dementsprechend erhöhen.

Jetzt geht der Kampf um die Kontingente los. Alle reklamieren möglichst viele Kontingente für sich. Sogar die Lega im Tessin ...
Ja, das ist wirklich der Gipfel, nachdem sie derart gegen die Einwanderung mobil gemacht hat!

Glauben Sie, dass Sie genug Kontingente für Ihre ETH erhalten werden? Oder gibt der Kanton Waadt dann alle an Nestlé?
Wir werden alle miteinander in Konkurrenz stehen. Die Situation ist absurd, auch wenn die Regeln noch nicht feststehen. Aber eines muss ich festhalten: Die Forschung in der Schweiz funktioniert nicht ohne Ausländer. In der Romandie ist dies noch offensichtlicher. Sie können nicht eine Universität von Weltruf führen, die sich auf ein Rekrutierungsbecken von 1,5 Millionen Menschen beschränken muss. No chance! Wir haben einen Innovations-Park mit Start-up-Quartier neben dem Campus hochgezogen. Dort arbeiten viele ehemalige ausländische Studenten, die jetzt hier für die Schweiz Mehrwert schaffen.

Die ETH Lausanne hat das mit einer Milliarde dotierte Prestigeprojekt der europäischen Forschung gewonnen: «Human Brain». Ist es jetzt in Gefahr?
Hier haben wir etwas Zeit. Wir bekamen Gelder für 30 Monate zugesprochen. Bei der Eingabe für die zweite Tranche hingegen müssten wir den Lead abgeben, falls die Schweiz bis dahin keine Lösung mit der EU gefunden hat.

«Human Brain» zieht derzeit in das ehemalige Gebäude von Merck Serono ein, das Ernesto Bertarelli Ihnen zur Verfügung gestellt hat. Kann es dort bleiben?
Vielleicht muss es über die französische Grenze nach Evian umziehen (lacht). Aber im Ernst: «Human Brain» steht in Konkurrenz zu einem ähnlichen amerikanischen Projekt. Die EU wird gut überlegen, ob sie wegen Umzugsproblemen in Rückstand geraten will.

Sie kommen eigentlich direkt aus Ihrem Sabbatical zurück, wo Sie unter anderem in mehreren afrikanischen Ländern waren.
Die Rückkehr war hart! Ich bin erst sechs Tage vor der Abstimmung zurückgekommen.

Und jetzt? Packen Sie Ihre Koffer und gehen gleich wieder?
Ich reise jetzt dann tatsächlich gleich nach Dakar. Wenn auch nur kurz für unser MOOC-Projekt, für den Ausbau in Massive Open Online Courses, wo eine unbegrenzte Zahl von Studenten via Internet an der ETH Lausanne Kurse besuchen kann. Mein Aufenthalt in Afrika hat mir gezeigt, welchen Respekt die Schweiz in Bezug auf Bildung und Forschung im Ausland geniesst. Darauf lässt sich eine wissenschaftliche Diplomatie aufbauen – quasi als Weiterentwicklung der humanitären Hilfe.

Wie meinen Sie das?
In Afrika gibt es viele junge Menschen, die grossen Hunger nach Bildung haben. Die Schweiz wiederum hat als neutrales Land ohne koloniale Vergangenheit eine gute Ausgangsposition, dieses Bedürfnis zu stillen. Und die ETH Lausanne als zweisprachige Universität mit Französisch und Englisch ist prädestiniert, eine Vorreiterrolle zu spielen. Wir haben uns deshalb auch als erste Universität Europas in MOOC engagiert.

Wieso Afrika? Schwärmen nicht alle von China?
Das tun heute alle. Vor 30 Jahren sprach aber niemand von China. Jetzt spricht niemand von Afrika. Aber ich wette, dass Afrika in 30 Jahren eine gewaltige Entwicklung hinter sich haben wird. Nicht zuletzt dank der Technologie. Die Menschen haben begrenzten Zugang zu Wasser und Strom. Aber sie haben ein Handy und Empfang. Und damit können sie einen Teil der fehlenden Infrastruktur überspringen. Sie loggen sich ein – und besuchen unsere Kurse. Mein Ziel: Ich will, dass wir in zwei Jahren 100 000 afrikanische Studenten haben. Heute sind es 10 000.

Sind die Kurse denn gratis?
Ja.

Haben Sie keine Angst, damit das ETH-Studium abzuwerten?
Nein, wieso auch. Wir legen das Niveau fest. Es wird ja nicht einfacher, nur weil es gratis ist. Immerhin sprechen wir hier von einem Mathematik- oder Physikstudium. Entweder meistert man das oder nicht.

Was sagen Sie Ihren Kindern nach dem Ja zur SVP-Initiative? Geht nach Afrika? Oder an andere ausländische Universitäten?
Ein Sohn ist schon im Ausland. Mein Vater war Schweizer, meine Mutter Holländerin. Meine Kinder sind in den USA geboren. Die Welt ist gross. Ich liebe die Schweiz, wirklich. Aber ich finde es so schade, dass sie nicht erkennt, wie viel Glück sie hat. Und alles aufs Spiel setzt wegen überwiegend irrationaler Ängste.

Der Anreisser: Im Jahr 2000 übernahm Patrick Aebischer (59) das Präsidium der ETH Lausanne – und führte diese aus dem Schatten ihrer Zürcher Schwester. Unter anderem mit spektakulären Projekten wie «Alinghi», «Solar Impulse» und jetzt «Human Brain». Aebischer sitzt in den Verwaltungsräten der Nestlé-Tochter Health -Science und von Lonza. Der studierte Mediziner und Neurowissenschaftler ist verheiratet, hat einen Sohn und eine Tochter und lebt in Villette VD.