Von aussen betrachtet, nimmt sich der Baucontainer ganz manierlich aus. Wer den Wunsch verspürt, ihn zu betreten, muss sich zunächst an einer offenen Mülltonne vorbei in die hinterste Ecke der Ausstellungshalle zwängen. Erwartungsvoll dringt der Besucher ins Innere des Containers vor – und fühlt sich dort wie ein ungebetener Gast. Vor einem zerwühlten Bett mit vor Schmutz starrenden Laken stehend, blickt er sich angeekelt um: Haust hier ein Penner? Links ein offener Kühlschrank mit einer angegammelten Pfanne drauf. Am Boden ein Teppich in Ausflösung. Überquellende Aschenbecher, halb volle PET-Flaschen, eine alte Autobatterie. Es müffelt.

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Totales Chaos überall. Auf dem Nachttisch eine Packung mit Schmerztabletten. Unbeobachtet nimmt man diese zur Hand und realisiert spätestens jetzt, dass man sich für die Vorlieben des Typen, der hier vegetiert, näher zu interessieren beginnt. Was sollen eigentlich all die arabischen Schriftzeichen? Im Nebenzimmer verdichtet sich die dunkle Ahnung zur Gewissheit: Vor einem mannshohen Tonmodell der New-Yorker Zwillingstürme baumelt ein Spielzeug-Jumbojet von der Decke. Zerbröckelnde Ziegelsteine erfüllen die sinistre Absteige mit Staub und Dreck. Ein ausgebreitetes Arafat-Tuch als finales Beweisstück. Nichts wie raus hier!

Was sich wie das Versteck eines Al-Kaida-Schläfers ausnimmt, ist das Werk des gegenwärtig renommiertesten Nachwuchskünstlers der Schweiz. «Close Encounters» nennt Christoph Büchel seine beklemmende Rauminstallation, die von März bis 25. Mai im Zürcher Migros Museum zu erleben war. Der 37-jährige Interventionskünstler hat sich auf die detailgetreue Inszenierung des menschlichen Chaos verlegt. Seine begehbaren Erfahrungswelten sind perfekt nachgestellte Psychogramme von gesellschaftlichen Aussenseitern, verschrobenen Einzelgängern oder Psychopathen.

Der montierwütige Kreative hat einen steilen Aufstieg hinter sich: Vor drei Jahren tauchte sein Name erstmals im BILANZ-Rating der «50 wichtigsten lebenden Schweizer Künstlerinnen und Künstler» auf. In der aktuellen Rangliste belegt Christoph Büchel – unmittelbar hinter den Ikonen der helvetischen Kunstszene – bereits den vierten Platz.
Gesellschaftskritische Fragestellungen sind ein Markenzeichen des Senkrechtstarters aus Basel. Mit subversiver Lust spürt der Absolvent der Düsseldorfer Kunstakademie den Widersprüchen des modernen Kunstbetriebs nach und setzt diese ebenso schonungslos wie humorvoll in Szene.

Im Herbst letzten Jahres provozierte Büchel den Zürcher Stadtrat mit dem Projekt «Capital Affair»: Anstatt wie geplant eine seiner raumgreifenden Chaoslandschaften aufzubauen, schlug er (zusammen mit Künstlerkollege Gianni Motti; Platz 18) überraschend vor, die Ausstellungsräume im Zürcher Helmhaus leer zu lassen und die von der Stadt zur Verfügung gestellten 50 000 Franken stattdessen in Form eines Checks irgendwo darin zu verstecken. Als der Zürcher Stadtpräsident das Budget für das ungewöhnliche Steuergeld-Experiment auf 20 000 Franken zurückschrauben wollte, lehnten Christoph Büchel und Gianni Motti indigniert ab – und liessen das Happening platzen.
Als marktgängig im herkömmlichen Sinn lässt sich Kunst, wie sie von den «enfants terribles» der Kunstszene zelebriert wird, kaum bezeichnen. Der Basler Galerist Nicolas Krupp, der Büchel und Motti im Programm führt, weiss davon ein Lied zu singen: «Obschon die beiden absolut heiss sind und mit ihren Aktionen im In- und Ausland für Aufsehen sorgen, habe ich bisher noch von keinem der beiden etwas verkaufen können.»

Von der Platzierung in der BILANZ-Rangliste auf den kommerziellen Erfolg eines Künstlers zu schliessen, wäre folglich naiv. Der Versuch, kreatives Schaffen anhand fixer Kriterien zu bewerten und vergleichbar zu machen, ist unter Experten ohnehin stark umstritten. Trotzdem hat sich unser jeweils im Juni veröffentlichtes Ruhmesbarometer für Ausstellungsmacher, Galeristen, Sammler und die davon direkt betroffenen Künstlerinnen und Künstler zu einem viel beachteten Popularitätsnachweis entwickelt.

Vor allem im oberen Drittel der Rangliste ist die Fluktuationsrate über die Jahre hinweg äusserst gering. Dieser Umstand scheint für eine relativ hohe Verlässlichkeit unserer Expertenbefragung zu sprechen. So haben sich auf den vordersten Rängen – abgesehen vom rasanten Vorstoss Büchels – auch im Verlauf der vergangenen zwölf Monate kaum Verschiebungen ergeben: Fischli/ Weiss, Roman Signer und Pipilotti Rist lauten wie gehabt die Namen auf dem Siegerpodest. Seit Jahren auf einen Platz unter den top ten abonniert sind des Weiteren der gefeierte Pappkarton-Installateur Thomas Hirschhorn (Platz 5), das Genfer Multitalent John Armleder (Platz 6) und die Shopping-Fetischistin Sylvie Fleury (Platz 7).
Die Konstanz an der Tabellenspitze erscheint umso bemerkenswerter, als die für die Künstlerauswahl zuständige Jury in weiten Teilen erneuert und professionalisiert wurde: Bei der Nominierung der Kreativen kamen bei der vorliegenden Auswertung ausschliesslich unabhängige Experten wie Kunsthistoriker, Museumsleiter oder freie Kuratoren zum Zug, während Galeristen und professionelle Händler heuer nicht mehr vertreten.

Einen Riesensprung nach vorne getan haben Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger (Platz 9), die 2002 noch im hintersten Drittel der Tabelle platziert waren (Platz 37). Das verspielte Künstlerduo, das an der Biennale in Venedig mit einer Einzelausstellung in der Kirche San Staë brillieren wird, ist für seine Materialschlachten bekannt. Allein für die Installation «Der Tag nach der Kiesgrube», die anlässlich der letztjährigen Kunstmesse «Art» in Basel zu sehen war, mussten mehrere Tonnen Erdreich in die Ausstellungshalle gekarrt und Tage später wieder entsorgt werden. Hinzu kam eine ausufernde Materialliste mit nicht eben supermarktgängigen Objekten – ausgestopfte Tiere etwa, spezielle Pflanzenarten und Kakteen, Wasserpumpen und so weiter. Der Basler Galerist Diego Stampa liess sich den Aufbau der Grossinstallation mehr als 20 000 Franken kosten, wobei allein die Lastwagenmiete mit 5000 Franken zu Buche schlug. Tapfer bezeichnet Stampa dies als eine «Langfristinvestition» in das sympathische Künstlerpaar und dessen schwer verkäufliche Werke.

Definitv nicht ins Wohnzimmer hängen lassen sich die skurrilen Einfälle eines San Keller. Unter den Newcomern, die es in diesem Jahr unter die top 50 geschafft haben, sticht dieser Performancekünstler durch seine Originalität und seinen Spielwitz hervor. Einen Namen gemacht hat sich der 32-jährige Wahlzürcher durch seine Aktion «San Keller schläft an Ihrem Arbeitsort». Wenn er nicht gerade auftragsmässig irgendwo vor sich hindöst, begibt sich Keller auf nächtliche Stadtspaziergänge, sucht vereinsamte Seelen auf, hilft Leuten beim Zügeln, übt sich im öffentlichen Dauertanz oder küsst wildfremde Frauen auf Plakatwänden. Auch das ist Kunst.

Peter Fischli / David Weiss
Seit es das BILANZ-Künstler-Rating gibt (1993), ist das Zürcher Künstlerduo Peter Fischli (51, links) und David Weiss (57) auf den ersten Rang abonniert. In den letzten Jahren beschränkten sie sich vorab darauf, bereits existierendes Material weiterzuentwickeln. Als Fundus erweist sich dabei die Fotoarbeit «Sichtbare Welt», bestehend aus 2800 Diapositiven.
Ausstellungen: Kunstmuseum Basel (bis 29. Juni); Kunsthalle Frankfurt (bis 9. Juni); Biennale in Venedig (15. Juni bis 2. November).
 
Roman Signer
Der Ostschweizer Sprengmeister gehört zu den eigenwilligsten Kreativen des Landes. Signer (65) lotet die Grenzen der Physik aus und vermengt dabei wissenschaftlichen Erkenntnisdrang mit Lausbubenwitz. Bei seinen Aktionen – Druckexperimente, Beschleunigungen und Explosionen – lässt er Kajaks mit Wasser voll laufen, schiesst Gummistiefel an die Decke oder katapultiert Möbelstücke durch die Luft. Ausstellungen: Sammlung Hauser & Wirth, Lokremise St. Gallen (bis 12. Oktober); Galerie Stampa, Basel (bis 28. August).
 
Pipilotti Rist
Seit ihrem Abgang als künstlerische Leiterin der Expo.02 ist es um die Rheintalerin (41) ziemlich ruhig geworden. Am Fusse des Zürcher Üetlibergs baut die Videokünstlerin und Mutter des inzwischen knapp eineinhalbjährigen Himalaya Yuji gegenwärtig ein Haus und bekleidet daneben in Los Angeles einen universitären Lehrauftrag. Wenn sie nicht gerade zwischen den beiden Städten hin und her pendelt, kümmert sich «Pipilotti nationale» neuerdings wieder vermehrt um ihren kreativen Output.
Ausstellung: Galerie Hauser & Wirth an der «Art» in Basel (18.–23. Juni).