Karl Otto Pöhl (72) war langjähriger, erfolgreicher Chef der deutschen Bundesbank. 1991 trat er vorzeitig zurück, weil er unter anderem die Währungsunion mit der Ex-DDR nicht gutheissen konnte; Kanzler Helmut Kohl hatte sie zu einem Umtauschkurs von eins zu eins durchgedrückt. Wie von Pöhl vorausgesagt, brach die Ostwirtschaft zusammen und hat sich bis heute nicht erholt. Pöhl wechselte zur Kölner Privatbank Sal. Oppenheim, wo er Sprecher wurde. Noch heute ist er Verwaltungsrat der Zürcher Tochter. Bei der von René Braginsky geführten InCentive ist Pöhl Präsident des Verwaltungsrates. Seine Wohnorte: die Algarve, das Engadin und Deutschland, ausgewählt nach seinen Lieblingssportarten Golf und Skifahren.


BILANZ: Möchten Sie als früherer erfolgreicher Notenbankchef mit Alan Greenspan tauschen, dem mächtigen Fed-Chef, oder mit Wim Duisenberg, dem Vorsitzenden der Europäischen Zentralbank?
Karl Otto Pöhl:
Eine reichlich hypothetische Frage. Was die reine Technik der Geldsteuerung angeht, ist die Aufgabe nicht schwieriger oder komplexer geworden. Der Einfluss der Notenbanken auf die wirtschaftliche Entwicklung dürfte jedoch geringer sein, als zurzeit viele hoffen. Bestes Beispiel dafür ist Japan. Die Notenbank hat die Zinsen praktisch auf null gedrückt, und gleichwohl passiert in der Wirtschaft nichts. Rekordtiefe Zinsen haben wir ebenfalls in Amerika und in Europa. Trotzdem springt die Wirtschaft nicht an. Der frühere deutsche Finanzminister Karl Schiller pflegte zu sagen: «Wir können die Pferde zur Tränke führen, doch saufen müssen sie selber …»

Und warum wollen sie nicht saufen?
Die Unternehmen investieren nicht, weil in vielen Bereichen Überkapazitäten herrschen. Die Konsumenten werden zunehmend zurückhaltender, nicht zuletzt wegen der Vermögensverluste, die sie an den Aktienmärkten erlitten haben. Kommt meiner Meinung nach dazu, dass insbesondere die Regierungen in Europa eine doch sehr konservative Fiskalpolitik betreiben.

Musste es überhaupt zu diesem Absturz an den Börsen kommen? Hat Alan Greenspan die «bubble economy» nicht zu lange toleriert, obwohl er eigentlich schon 1996 vor irrationalen Erwartungen warnte?
Er war wahrscheinlich in Sorge, dass es zu einer Rezession kommt. In restriktiver Richtung ist Geldpolitik ja viel wirkungsvoller als umgekehrt. Zudem war das Umfeld aus Sicht der Notenbanken positiv. Es gab wenig Inflation und damit wenig Grund, die Zinsen zu erhöhen. Natürlich ist selbst ein so kluger Mann wie Alan Greenspan schlauer, wenn er vom Rathaus kommt, als wenn er hingeht.

Das heisst konkret?
Wenn man das Fed kritisieren wollte, so vielleicht die Politik des Stop and Go, welche die Bundesbank stets mit Skepsis betrachtet hat. Persönlich bin ich aber ebenso der Meinung, dass ein gewisser Pragmatismus in der Notenbankpolitik angemessen ist, wie ihn insbesondere Alan Greenspan praktiziert.

Müssen die Amerikaner nun mit einer erneuten Rezession rechnen und wir mit den entsprechenden Folgen für die Weltwirtschaft?
Ich erwarte keinen «double dip», denke aber, dass wir vielleicht am Anfang einer langfristigen Stagnation stehen. Diese Gefahr ist sowohl für die USA wie für Europa nicht von der Hand zu weisen. Japan ist sozusagen das Menetekel …

… wo sich die fallenden Preise zu einer eigentlichen Deflationskrise entwickelt haben.
Inflation ist unser Problem ganz sicher nicht. Die Vorstellung gewisser Leute von Nullinflation erachte ich ökonomisch als unsinnig. Bei einer über zwei, drei Jahre hin stagnierenden Wirtschaft würde ich jedenfalls die Deflationsgefahr nicht ausschliessen.

Unterschätzen Sie in Ihrem Szenario nicht die Dynamik und den Pragmatismus der Amerikaner?
Das einzig Positive, das ich sehen kann, ist ihre expansive Geld- und Fiskalpolitik. Auf der anderen Seite sehe ich gewaltige Überkapazitäten der Wirtschaft, die einseitig über die Kosten – sprich Personal – abzubauen sind, sowie die Milliarden und Milliarden von Vermögensverlusten der Konsumenten. In Europa herrscht wegen des Stabilitätspaktes eine restriktive Finanzpolitik vor. Die Regierungen sehen sich gezwungen, die Defizite, bezogen auf das Sozialprodukt, unter drei Prozent zu halten. In der jetzigen Situation ist das klar kontraproduktiv. Ich sehe nicht, woher die Wachstumskräfte kommen sollten.

Hat nun aber nicht Kanzler Schröder den Pakt bereits auffliegen lassen, indem er unwirsch gesagt hat, im Moment kümmerten ihn die drei Prozent überhaupt nicht?
Ich habe dafür in der jetzigen Situation ein gewisses Verständnis, aber Verträge sind Verträge. Allerdings meine ich, der Pakt ist von Anfang an eine Fehlkonstruktion gewesen, obwohl mit bester Absicht eingeführt. Die gemeinsame Währung verlangte ultimativ nach einem finanzpolitischen Korsett. Nur: Das Haushaltsdefizit ist der falsche Indikator dafür. Das Defizit ist doch ein Residual aus Ausgaben und Einnahmen.

Wonach sollte man sich dann ausrichten?
Ich hätte als Indikator eine Reduktion der Staatsquote gewählt. Oder eine Vorschrift wie im deutschen Grundgesetz, dass die Kreditaufnahme nicht höher als die staatlichen Investitionen sein darf, ausser in Krisenzeiten. Aber in der jetzigen Situation, in der die Einnahmen drastisch fallen, auch noch die Ausgaben zu kürzen, wie man es vor allem bei den Kommunen beobachten kann, verstösst gegen das Einmaleins der Konjunkturpolitik. Um das zu wissen, braucht man nicht Keynesianer zu sein.

Die Schieflage vieler Staatsfinanzen bringt die Stabilität allerdings ebenfalls in Gefahr.
Das ist, längerfristig gesehen, völlig richtig, aber kurzfristig haben wir in der Wirtschaft ein Nachfrageproblem, und das sollten wir zuerst lösen. Es wäre im Augenblick höchst wünschenswert, dass die öffentlichen Hände zumindest ihre Investitionsvolumen aufrechterhalten würden. Das geschieht nicht! Wir sind dabei, eine Politik zu beginnen, die fatal an die Dreissigerjahre erinnert. Ich wundere mich, dass insbesondere in Deutschland weder die Wissenschaft noch die Politik die darin liegende Gefahr thematisieren.

Warum tun sich die Deutschen einmal mehr so schwer, Lokomotive zu spielen?
Die Deutschen haben den Stabilitätspakt erfunden. Wenn ausgerechnet wir jetzt «April, April!» sagen würden, wäre das für Länder wie Portugal und Italien die Einladung zu einer nachlässigen Finanzpolitik.

Vielleicht ist der keynesianische, staatliche Geldstoss nun mit der verheerenden Flutkatastrophe gekommen.
Ja, so makaber das klingt, aber das könnte, konjunkturell gesehen, helfen. Von der nächsten Regierung erwarte ich, dass die Steuern weiter gesenkt werden und dass man dafür zeitweise sogar höhere Defizite in Kauf nimmt. Wenn die Wirtschaft anspringt, kommen danach die Einnahmen automatisch. Das haben die Amerikaner in den Neunzigerjahren vordemonstriert.

Aber Ihre Vorschläge könnten dafür den Euro schwächen, der endlich wieder etwas an Höhe gewonnen hat.
Die relative Schwäche hat mich schon vorher nicht gestört. Wahrscheinlich ist man mit 1.20 Dollar gegenüber einem Euro ganz einfach zu hoch gestartet. Was wir heute erleben, könnte aber vielleicht der Anfang einer längeren Dollarschwäche sein. Der unbestrittene Schwachpunkt der amerikanischen Währung ist das gewaltige Defizit in der Leistungsbilanz. Bis jetzt hat Amerika das Glück, dass die ganze Welt in Dollars anlegt. Aus welchen Gründen auch immer kann sich das sehr rasch ändern. In meiner aktiven Laufbahn habe ich einen überwiegend schwachen Dollar erlebt. Eine Krise folgte auf die andere. Eine solche Phase kann wieder kommen.

Ich spüre, dass Sie insgeheim ein stärkeres Europa erwarten.
Die Osterweiterung, wenn sie dann kommt, wird für die Wirtschaft gewiss Impulse bringen. Vor allem aber sehe ich grosse Anlagechancen in Europa. Viele Unternehmen sind ja sehr billig. Auch der Euro ist für mich eine Erfolgsstory. Ein grosser Teil des Aussenhandels, früher voll dem Wechselkursrisiko ausgesetzt, ist jetzt Binnenhandel. In Italien und Spanien, in Portugal haben Sie so tiefe Zinsen wie noch nie seit dem Krieg. Mit eigenen Augen sehe ich zum Beispiel, welchen enormen wirtschaftlichen Aufschwung gerade Portugal nimmt.

Aber auch erste Risse sind sichtbar.
Sicher braucht es ein gewisses Mass an ökonomischer Konvergenz. Löhne, Produktivität, Inflation dürfen sich nicht zu stark gegenläufig entwickeln, wie das leider im Moment teilweise der Fall ist. Ein Argument gegen den Euro ist das aber nicht, es ist vielmehr ein Argument für mehr Disziplin. Die Euroeinführung ist irreversibel. Es ist nicht vorstellbar, dass ein grösseres Land austreten könnte. Der Zwang zur politischen europäischen Einigung ist durch die Währungsunion verstärkt worden. Ich bin gespannt, was der Konvent unter Leitung von Valéry Giscard d’Estaing an Vorschlägen zur politischen Union hervorbringt.

Zukunftsmusik! Wenden wir uns dem Drama Südamerika zu.
Solche Krisen hat es immer gegeben. Die Mexikokrise in den Achtzigerjahren war mindestens so ernst. Dann erlebten wir die Asien- und Russlandkrise 1997/98. Persönlich habe ich gemeint, Russland sei am Ende. Ich muss gestehen: Ich lag völlig falsch. Russland ist heute wieder kreditwürdig und hat ein grosses wirtschaftliches Potenzial.

Aber können Sie die Politik des IWF gutheissen? Im Fall von Argentinien spielt man hart, für Brasilien hingegen werden 30 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt. Warum ist IWF-Chef Horst Köhler umgefallen?
Der IWF ist die einzige Organisation, die wir haben, um solche Krisen halbwegs unter Kontrolle zu halten und Druck auf die Regierungen ausüben zu können. Leider ist die Organisation mehr und mehr zu einem Instrument der amerikanischen Aussenpolitik geworden, nachdem die ursprüngliche Aufgabe, Ungleichgewichte in der Zahlungsbilanz von Industriestaaten ausgleichen zu helfen, durch das Regime der flexiblen Wechselkurse hinfällig geworden war. Die amerikanische Dominanz ist zwar sehr problematisch, aber man muss das wohl hinnehmen.

Tönt etwas gar fatalistisch!
Ist es gut, dass die Amerikaner die einzige verbliebene Weltmacht sind? Es ist vielleicht besser, als wenn niemand da wäre. Die Europäer sind jedenfalls nicht in der Lage, ein wirkliches Gegengewicht zu bilden. Vielleicht irgendwann mal. Der Euro könnte dazu beitragen, aber erst wenn Europa einmal mit einer Stimme spricht. Der jüngste Fall ist klassisch abgelaufen: Nach Argentinien wollten die Amerikaner ganz einfach nicht, dass auch Brasilien in den Strudel gerät – mit unabsehbaren Konsequenzen für die Finanzmärkte und den amerikanischen Aussenhandel. Südamerika ist das Hinterland Amerikas, wie für uns Osteuropa und Russland. Das lässt man nicht untergehen.

Dann sehen Sie zukünftig zwei grosse Handelsblöcke – die USA und Europa?
In meiner Vision sehe ich tatsächlich zwei grosse liberalisierte Wirtschaftsräume: die von den USA angeführte erweiterte Freihandelszone Nafta und ein Europa von ähnlicher Grösse, in das Osteuropa bis einschliesslich Russland integriert ist. Untereinander sollten die Beziehungen eng sein, was sie – die Stahlzölle einmal ignoriert – Gott sei Dank auch sind.

Und die Globalisierungsgegner …
… haben keine wirklichen Argumente ins Feld zu führen. Was sie haben, ist Kritik an einzelnen, unerfreulichen Symptomen. Meine Sichtweise gilt natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die grossen Wirtschaftsländer nicht in eine Periode der Stagnation versinken, in der dann irgendwann protektionistische Neigungen aufkommen. Die Belebung der Wirtschaft ist noch stets über den Export erfolgt, und nicht zuletzt die unterentwickelten Länder haben davon profitiert.

Und wie ordnen Sie Japan, die drittgrösste Wirtschaftsmacht, ein?
Durch die zehnjährige Schwächephase ist die Bedeutung Japans relativ zurückgegangen. Dafür haben vor allem China, aber auch Indien aufgeholt. Von diesen Ländern einschliesslich Brasilien werden entscheidende Impulse auch für die Wirtschaft der Industriestaaten ausgehen.

Überall sehen Sie Integration und mittendrin die unabhängige Schweiz, wo Sie ja teilweise auch wohnen?
Ich bedaure sehr, dass die Schweiz den Charakter des Granits, der überdurchschnittlichen Solidität, doch weitgehend verloren hat. Alle die unglaublichen Fehlleistungen von Swissair über Swiss Life, «Zürich», ABB bis jüngst hin zu CS und Ebner, das hätte man der Schweiz ganz einfach nicht zugetraut. Das ist sehr enttäuschend …

… vor allem, wenn Sie Ihr Aktienportefeuille betrachten?
Gewiss auch! Trotzdem meine ich, dass die Schweiz versuchen sollte, den eigenen Weg zu gehen und nicht Mitglied der EU zu werden. Es braucht in Europa so etwas wie die Schweiz. Ich teile die Meinung nicht, aus wirtschaftlichen Gründen müsse das Land beitreten. Die bilateralen Verträge sind ausreichend. Der Franken ist sicher hoch bewertet, aber bis jetzt hat er keinen Schaden verursacht – im Gegenteil.

Eine deutsche Steueramnestie, die zurzeit heiss diskutiert wird, könnte jedoch den Banken schaden …
Die kommt nie, davon bin ich überzeugt. So etwas kann Herr Berlusconi veranstalten, aber nicht eine deutsche Regierung. Eine Amnestie würde eklatant gegen den Gleichheitsgrundsatz verstossen. Was ich stets befürwortet habe, ist eine Abgeltungssteuer auf Zinserträge, ähnlich wie in Österreich oder in der Schweiz.

Und das Bankgeheimnis?
Das ist hoffentlich nicht gefährdet. Es gibt doch noch so etwas wie das Recht auf Privacy. De jure haben wir das Bankgeheimnis auch in Deutschland, aber de facto wird pausenlos dagegen verstossen. Das ist alleine schon ein Grund, ein Konto in Zürich zu haben, aber natürlich ordentlich in Deutschland versteuert.
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