11. März 2002 Eigentlich hätte Peter Voser mit seiner Frau und seinen drei Kindern zu Tauchferien auf die Malediven fliegen wollen. Stattdessen versenkt er sich schon tief in die Zahlen von ABB. Denn CEO Jörgen Centerman hat ihn gebeten, angesichts der angespannten Finanzlage des Konzerns schon drei Wochen vor dem auf den 1. April vereinbarten Arbeitsantritt nach Zürich zu kommen. Bis dahin hatte ABB, immerhin mit dem zweitbesten Kreditrating AA, einen opportunistischen Finanzierungsansatz gepflegt. Ende 2001 machten die günstigen Commercial Papers, die nur über einen bis fünf Monate laufen, bei der Verschuldung drei Milliarden Dollar aus. Inzwischen ist aber, wegen der Verschlechterung der Wirtschaftslage und der Kreditwürdigkeit grosser Konzerne, dieser Markt völlig zusammengebrochen, so schnell, wie es niemand vorausgesehen hatte. Und Peter Voser weiss: «Diese Situation kann schnell zu Engpässen führen.» Er kommt aus einer völlig anderen Kultur. Als Sohn eines BBC-Angestellten in Baden und Umgebung aufgewachsen, hat er seine ganze Karriere bei Shell gemacht, in Niederlassungen in Argentinien und Chile die Finanzsparte geführt, dann ab 1997 in der Londoner Zentrale den Finanzbereich in der Sparte Ölprodukte geleitet, erst für Europa, zuletzt weltweit. Und der strikt konservativ finanzierte Ölgigant muss vor allem das Problem lösen, wie er den reichlich sprudelnden Cash sinnvoll ausgibt. Bei ABB droht dagegen die kurzfristige Geldversorgung zu versiegen. Um die Liquidität zu sichern, muss Voser eine langfristige Finanzierung zu Stande bringen, also – in seinen Worten – bei den Fälligkeiten «das Matterhorn in den Üetliberg verwandeln». Und dies innert weniger Wochen: «Ich bin schliesslich nicht hierher gekommen», lächelt Voser, «weil ich ein gemütliches Leben will.» 12. März 2002 «Der Neue hat sich bereits in Szene setzen können», meldet die «Finanz und Wirtschaft» von der Generalversammlung am zweiten Arbeitstag des neuen Finanzchefs. Wie bereits an der Medienkonferenz vom 13. Februar, als Peter Voser im Publikum sass, ist aber nicht die bedrohliche Finanzlage das Thema: Die Aktionäre sorgen sich nicht wegen der Eigenkapitalquote, die noch sechs Prozent beträgt, sondern sie empören sich über die «ABBzockerei» von Percy Barnevik und Göran Lindahl. Wollte die ABB-Führung mit der schockierenden, in aller Welt Schlagzeilen machenden Meldung unmittelbar vor der Medienkonferenz von den düsteren Aussichten ablenken? Peter Voser bestreitet es. Und hätte er sein Amt auch angetreten, wenn er gewusst hätte, wie schlecht es um ABB stand? «In den Abschlüssen des dritten und des vierten Quartals 2001 waren die Probleme schon klar dargestellt – für jeden, der eine Bilanz lesen kann.» Damals, im August 2001, kam die Anfrage des Headhunters. Und Peter Voser entschied sich nach Gesprächen mit Jörgen Centerman, Jürgen Dormann und Martin Ebner innert dreier Monate für den Job, im Wissen um die Probleme, die es anzupacken galt: «Allen war klar, wo der Schuh drückte.» Shell gibt sich auch bei der Karriereplanung konservativ: Peter Voser hätte sich noch jahrelang hochdienen müssen, um schliesslich als Finanzchef die Gesamtverantwortung übernehmen zu können. Dazu wollte der Nachwuchs – fünf-, drei- und einjährig, als die Familie vor 15 Jahren auszog – die Ausbildung im kaum mehr vertrauten Heimatland fortsetzen. Peter Voser wohnt jetzt unter der Woche in Zürich, zusammen mit der ältesten Tochter, die Publizistik studiert; die Familie folgt nach der Matur der zweitältesten Tochter aus London nach. 21. März 2002 Das harmlos tönende Communiqué erregt in den Redaktionen kaum Aufsehen: «ABB verstärkt Liquidität und finanzielle Flexibilität.» Nur die Insider wissen, welch schwierigen Entscheid der Finanzchef treffen musste. Denn im Dezember 2001 hatte die ABB mit 21 Banken eine so genannte Back-stop-Facility vereinbart, einen Kreditrahmenvertrag, «für den Fall, dass etwas passierte»: Wenn der Markt der Commercial Papers, wie damals absehbar, austrocknen sollte, wollten die Banken Kredite bis zu drei Milliarden Dollar gewähren – allerdings nur unter der Bedingung, dass die Rating-Agenturen die Kreditwürdigkeit von ABB nicht zurückstuften. «Nicht unproblematisch» findet Peter Voser, dass dieser «Trigger» in den Vertrag eingebaut wurde: «Damit gab man sich in die Hand von Dritten.» Der Finanzchef muss das Geld abrufen, aber er weiss auch, was der Entscheid auslöst. Am Freitag, 22. März, bezieht ABB die drei Milliarden: zwei, um fällige Commercial Papers zurückzuzahlen, eine, um über die nötige Liquidität zu verfügen. Das allerdings verrät den Rating-Agenturen gerade, dass der Konzern das Geld dringend braucht: für sie das Signal, die Kreditwürdigkeit zu überprüfen. Übers Palmsonntag-Wochenende kommt denn auch, wie erwartet, die Zurückstufung. Am Montag, 25. März, hat der Konzern die Kreditwürdigkeit nicht mehr, aber das Geld. Innert 15 Tagen muss der Kredit nun neu verhandelt werden. Würden ihn die Banken, nach all den Schlagzeilen über Verluste und Bilanzschwäche, Asbestrisiken und Abzockerei, noch einmal zu ähnlichen Konditionen gewähren? 6. April 2002 «Ich gehe das Risiko ein», sagt Peter Voser, aber allein könnte er seine Aufgabe nicht bewältigen: «Ein Chef ist nur so gut wie die Summe seiner Mitarbeiter.» Auf sie muss er sich in diesen ersten Wochen besonders verlassen können, denn bei ABB tritt der Neuling gleich als Chefverkäufer auf: Der Finanzchef muss die Banken davon überzeugen, dass der Technologiekonzern bei allen aktuellen Problemen und Turbulenzen glänzende Aussichten hat – er stellt ihnen überzeugend dar, was er sich fast rund um die Uhr in einem Schnellkurs an Wissen über ABB aneignet. Damit hat er Erfolg. Einerseits kennt er die federführenden Bankiers von seinen Aktivitäten bei Shell. Anderseits pflegt er den stockseriösen Stil weiter, den er beim Ölkonzern gelernt hat: «Wer offen kommuniziert, mit dem wird auch offen kommuniziert.» Bei den drei Banken, die das Underwriting übernehmen, Citigroup, Credit Suisse First Boston und Barclays, setzt sich so auch an der Spitze die Überzeugung durch, dass die Finanzmärkte möglichst schnell zu beruhigen sind. Peter Voser braucht den Kredit von drei Milliarden Dollar nicht, weil die Liquidität gleich austrocknet, sondern um Zeit zu gewinnen: «Wir dürfen bei der Devestition des Unternehmensbereichs Structured Finance nicht als jemand gesehen werden, der innert zweier Monate verkaufen muss.» Er verspricht den Banken aber, den Deal bis Ende September abzuwickeln, Liegenschaften für eine halbe Milliarde abzustossen und dank einer Wandel- und einer Obligationenanleihe zwei der drei Milliarden innert weniger Wochen zurückzuzahlen – und er hält alle diese Versprechen auch. 29. April 2002 «Operationell und finanziell sind wir auf gutem Wege», hat Jörgen Centerman am 24. April beim Quartalsabschluss beteuert, der besser ausgefallen ist, als der Markt erwartet hat. Die Wandelanleihe über 968 Millionen Dollar, die sich nach einer Laufzeit von fünf Jahren zu einem Preis von 18.48 Franken in Aktien umtauschen lässt, findet denn auch reissenden Absatz: Innert dreier Stunden ist sie elfmal überzeichnet – mehr kann der Konzern aber nicht verkaufen, weil er nicht mehr verfügbare Aktien hat. Peter Voser wertet das als «Zeichen des Vertrauens». Aber der Finanzmann vom konservativen Ölkonzern lernt auch eine neue Kategorie von Investoren kennen: die Hedge-Fund-Manager, die bis dahin dickes Geld verdient haben, indem sie ABB-Aktien bei stetig fallenden Kursen leer verkauften, und die jetzt auf die gefährdeten und deshalb unterbewerteten Schuldpapiere, so genannte Distressed Securities, setzen. Bei ABB, vor einem Jahr noch mit einem stolzen Rating, machen diese als Aasgeier verschrienen Investoren reiche Beute. «Wir müssen mit den Hedge-Funds leben», meint Peter Voser. «Ich möchte sie nicht missen – sie sind nicht nur das Salz, sondern der Pfeffer in der Suppe.» 24. Juli 2002 Zuversichtlich versammelt sich das Team um Jörgen Centerman und Peter Voser morgens um acht Uhr im Konferenzraum, um am Tag der Veröffentlichung der Quartalsresultate die Stellung zu halten, die Interviewwünsche der Medien zu erfüllen, die Telefonkonferenz mit den Analysten durchzuführen und den Investoren die Zahlen zu erläutern. Die Entwicklung im Geschäft, auf das sich ABB konzentrieren will, zeigt in die richtige Richtung. In Interviews versichert Jörgen Centerman immer noch, die versprochene Betriebsmarge von vier bis fünf Prozent sei erreichbar. Eine «anhaltende Erholung» beschwört denn auch das Communiqué. Nur wer genau hinsieht, kann erkennen, dass der Konzern im zweiten Quartal Verlust gemacht hat, auch wegen Wertberichtigungen bei falsch kalkulierten Grossprojekten in der Division Öl, Gas und Petrochemie. Deren Chef tritt ab: «Verlassen die Manager ein sinkendes Schiff?», fragen die Analysten der Bank Sarasin. Durften die Belastungen noch nicht im ersten Quartal anfallen, damit die Emission der Wandelanleihe und zweier Obligationsanleihen dank den überraschend guten Zahlen so erfolgreich war? Peter Voser beteuert, der Berichtigungsbedarf sei erst im zweiten Quartal zu erkennen gewesen – und gar nicht der Grund dafür, was folgt. Denn als die Börsen öffnen, bricht ein Sturm los: Der Aktienkurs stürzt ab, tiefer und tiefer, um bis zu 40 Prozent. Peter Voser behält die Fassung, auch bei Fragen, die ihn unter der Gürtellinie treffen: «Man muss einstecken können, ohne zu reagieren.» Lässt sich das trainieren? «Nein, es muss einem wohl in den Genen liegen.» Schnell erkennt der Finanzchef, wo das Problem liegt: Ende Juni hat sich der Dollar abgeschwächt, ABB musste also fast das ganze Halbjahr unverändert hohe Kosten in Dollars zahlen, aber am Stichtag zum Ende des Semesters eine markant höhere Verschuldung ausweisen. «Eine halbe Milliarde mehr an Schulden hat uns zwar keinen Rappen gekostet», weiss der Finanzchef, «aber der Markt hat diesen Anstieg der Verschuldung nicht erwartet.» Unverzüglich beginnt er deshalb schon für die Analystenkonferenz um 16.30 Uhr Slides vorzubereiten, die den Sachverhalt erklären. Offensichtlich brauchten die Investoren einen Buchhaltungskurs, witzelt er. Aber er muss sich auch eingestehen: «Das hätte man besser machen können.» Bis spät abends lässt Peter Voser den Sturm über sich hinwegbrausen, dann steigt er ins Flugzeug. Zum Frühstück trifft er Investoren in London: «Let’s face the music.» 4. September 2002 In den letzten Wochen täglich 500 Gerüchte, Indiskretionen, gezielte Informationen fürs «Wall Street Journal» oder die «Financial Times»: Die beteiligten Parteien nutzen alle Tricks, um bei den Verhandlungen über den Verkauf von Structured Finance an General Electric (GE) den Preis zu ihren Gunsten zu beeinflussen. «Man darf sich nicht in Versuchung führen lassen, unter Zeitdruck schneller abzuschliessen», weiss Peter Voser. Nur so lässt sich der Wert der Verkaufsobjekte schützen. ABB kann sich denn auch über ein gutes Ergebnis freuen, als schliesslich die Unterschriften unter dem Vertrag stehen: Statt der erwarteten fünf bis zehn Prozent Verlust muss der Konzern nur einen Abschlag von zwei Prozent auf dem verkauften Kreditportefeuille von 3,4 Milliarden Dollar hinnehmen; die 2,3 Milliarden Dollar, die ihm zufliessen sollen, stärken die Bilanz markant. Noch steht allerdings die Zustimmung der Wettbewerbsbehörden aus. «Ich glaube immer erst an etwas, wenn es abgeschlossen ist», sagt Peter Voser. Es dauert schliesslich noch fast drei Monate, bis das Geld eingeht: CEO Jörgen Centerman kann den Erfolg nicht mehr feiern – er muss am nächsten Tag sein Büro für Jürgen Dormann räumen. 22. Oktober 2002 «Die Chemie mit Jörgen Centerman hat gestimmt», sagt Peter Voser, «sonst wäre ich nicht zu ABB gekommen.» Er hätte gerne mit dem CEO weitergearbeitet, aber er weiss auch, «dass solche Sachen passieren können». Bis sich Jürgen Dormann mit dem Tagesgeschäft vertraut gemacht hat, übernimmt der seit einem halben Jahr amtierende Finanzchef vorübergehend mehr Aufgaben im Konzern: «Die Firma hat davon nicht viel gemerkt.» Und wie lässt sich mit Jürgen Dormann zusammenarbeiten, der seine Karriere als Finanzfachmann gemacht hat? «Wir kommen sehr gut miteinander aus. Er hat natürlich als ehemaliger Finanzchef bei Hoechst ein tiefes Verständnis für finanzielle Zusammenhänge, aber er ist kein CEO, der in die Arbeit des CFO eingreift», sagt Peter Voser. Am 27. September fällt der Kurs von ABB unter fünf Franken – «billiger als eine Bratwurst», höhnt «Cash». Und am 15. Oktober steigt Martin Ebner aus dem Verwaltungsrat aus, kaum aus freien Stücken: Der Präsident verschwendet einen ganzen Satz des Dankes. «Kommt ABB jetzt unter den Hammer?», fragt die «Finanz und Wirtschaft». Jürgen Dormann und Peter Voser, zusammen mit einem verschworenen Team, bereiten inzwischen die Umorganisation der Dauerbaustelle ABB vor, stellen sich ohne Scheuklappen dem Asbestproblem und überarbeiten nach enttäuschenden Zahlen im September die Jahresziele: Von den versprochenen vier bis fünf Prozent Betriebsmarge kann keine Rede mehr sein. Was ABB am Abend des 21. Oktober veröffentlicht, ist denn auch eine ausgewachsene Gewinnwarnung: Der Konzern sieht sich ausser Stande, noch eine Ertragsaussicht bekannt zu geben. «Die Einsicht der ABB-Oberen in das eigene Unvermögen lässt die Frage aufkommen, ob der angeschlagene Industriekoloss noch zu retten ist», kommentiert die «Finanz und Wirtschaft». Die Börse antwortet auf ihre Art: Der Kurs bricht von seinem kläglichen Niveau noch um 62 Prozent ein. Und Peter Voser weiss: «Allein die Division Power-Technology wäre für einen Betrag zu verkaufen, der die Marktkapitalisierung des Konzerns übersteigt.» 24. Oktober 2002 «Wenn man selber nichts falsch gemacht hat, bringt es nichts, etwas zu berichtigen», weiss der Finanzchef inzwischen. «Man muss die Marktreaktion so annehmen, wie sie ist.» Er ist überrascht, dass die Börse so heftig auf die Gewinnwarnung reagiert hat; persönlich hat er mit einem Taucher von höchstens 20 bis 30 Prozent gerechnet. Die Veröffentlichung der Quartalszahlen nach dem Debakel ist gut vorbereitet, die Zahlen sind «eigentlich besser als erwartet». Dazu gibt ABB, einmal mehr, eine Umstrukturierung zu noch zwei Divisionen mit neuen Leitern und einen weiteren Abbau von Arbeitsplätzen, bekannt. Das bedeutet für Peter Voser die Trennung von Kollegen, mit denen zusammen er ein halbes Jahr lang gekämpft hat – auch bei rationaler Einsicht ein emotional belastender Vorgang. «Mittlerweile schliessen viele Analysten einen Konkurs nicht mehr aus», schreibt «Cash», eher auf Grund der Gewinnwarnung am Montag als wegen der Quartalszahlen am Mittwoch. Platzierte ABB das schockierende Communiqué bewusst, um danach mit den gar nicht so schlimmen Ergebnissen besser dazustehen? Peter Voser schmunzelt: «Wenn ich eine Chance gehabt hätte, den Einbruch des Aktienkurses um 62 Prozent zu verhindern, dann hätte ich es getan.» 1. November 2002 Zehn Rappen gibt die Deutsche Bank noch als Kursziel für die Aktie von ABB an: Nach dem Eingeständnis, dass sich das Asbestproblem nur schwer kontrollieren lasse, sei der Konzern kaum mehr seriös zu bewerten. Deshalb ist die Meldung der entscheidende Wendepunkt: «ABB führt Gespräche mit Vertretern der Kläger von Asbestgeschädigten.» Viele Nächte lang kämpft das Team um Chefjurist Beat Hess am Telefon in den Verhandlungen; Peter Voser steht ihm bei und fliegt auch einmal in die USA, um sich mit Klägervertretern zu treffen. Bis Mitte 2003 sollen die Verhandlungen zu einer Lösung führen. ABB nimmt eine harte Haltung ein. Bis Februar wird die amerikanische Tochter Combustion Engineering, gegen welche die Klagen laufen, in den Konkurs geschickt. Der Konzern bietet an, über die 812 Millionen Dollar hinaus, die das Unternehmen an Vermögen besitzt, 300 Millionen Dollar einzuschiessen. Wenn die Kläger dem so genannten Pre-Packaged Chapter 11, also der Nachlassstundung, nicht zustimmen, bleibt nur das Free-Fall Chapter 11, der Konkurs. Immerhin lässt sich das Problem jetzt eingrenzen: Die Asbestklagen fordern zwar viel Geld, Zeit und Kraft, bedrohen aber nicht mehr die Existenz des Konzerns. Die «Finanz und Wirtschaft» titelt denn auch: «ABB sieht Mörgenröte.» 29. November 2002 Am 5. November genehmigt die Europäische Kommission den Verkauf von Structured Finance an GE. Und die Medien verbreiten zu Unrecht das Gerücht, GE wolle den Preis drücken, da der Aktienkurs von ABB seit dem Sommer auf ein Sechstel abgestürzt ist: Die Amerikaner halten sich strikt an den am 4. September unterschriebenen Vertrag. Die Rating-Agenturen stufen ABB aber immer weiter zurück; mit einem Ba2 bei Moody’s verfügt der Konzern nicht mehr über einen Investment-Grade, verliert also die risikoscheuen Pensionskassen als Anleger. «ABB sind Nahrung für Aasgeier», schreibt die «Finanz und Wirtschaft», «die Anlegerschaft dürfte sich drastisch verändert haben.» Am Freitag, 29. November, um 15.30 Uhr MEZ geht das Geld für den Verkauf auf dem Konto ein. Peter Voser fliegt zur Familie nach London und genehmigt sich ein gutes Glas Rotwein. Am Samstag lässt er allen aus dem 15-köpfigen inneren Kreis, der die Verkaufsverhandlungen geführt hat, eine Flasche Champagner mit Dankeskarte nach Hause schicken. Dann heisst es: «Life goes on.» 18. Dezember 2002 «2002 ist nicht ungesehen vorbeigegangen», stellt Peter Voser fest, als er zwei Wochen lang zusammen mit seinem Team in Kreditkomitees harte Verhandlungen um die zukünftige Finanzierung führt. Der am 26. April vereinbarte Kreditrahmen über drei Milliarden Dollar ist bis 17. Dezember befristet; schliesslich kommt eine neue Vereinbarung zu Stande: «Wir hatten vorher 20 Banken, jetzt sind es wieder 20, nur eine davon ist ausgewechselt.» Die 1,5 Milliarden Dollar, die für 2003 und zur Hälfte für 2004 bereitstehen, muss Peter Voser nicht gleich beziehen: «Sie sollen uns die Sicherheit geben, dass wir über die Zeit über die nötige Liquidität verfügen.» «Der Konzern startet neu; Unternehmen haben eben mehrere Leben», schreibt die «NZZ». Aber der Finanzchef weiss, dass es auch im neuen Jahr nicht an Arbeit fehlt – sei es der Verkauf der Division Öl, Gas und Petrochemie und der Unternehmen in der Gebäudetechnik oder die Einigung mit den Klägern bei den Asbestfällen. Vorerst fliegt Peter Voser jedoch in die Ferien, zum Abtauchen auf die Malediven. Denn im Frühling befahl die Familie: «Beim nächsten Mal kommt der Vater aber mit.» Epilog: Am 17. Januar 2003 erreicht Peter Voser mit den amerikanischen Anwälten eine Einigung über die Asbest-Klagen. Die ausgehandelte Summe fällt viel tiefer aus als erwartet: Bis 2009 sollen die Kläger eine Entschädigung von etwa 1,2 Milliarden Franken erhalten – laut Voser keine existenzgefährdende, sondern eine quantifizierbare Belastung.
Noch immer ein Weltkonzern ABB ist weltweit führend in der Energie- und Automatisierungstechnik. Der Konzern mit Hauptsitz in Zürich Oerlikon arbeitet mit seinen Unternehmen in über hundert Ländern und beschäftigt gegenwärtig rund 146 000 Mitarbeitende. Er erzielte 2001 einen Umsatz von 23,7 Milliarden Dollar und einen Verlust von 691 Millionen Dollar (www.abb.com).
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