So vergänglich können höhere Weihen sein: Bis vor wenigen Wochen trug der 43-jährige Kuno Sommer noch den honorigen Titel eines Konzernleitungsmitglieds beim Basler Vorzeigekonzern Hoffmann-La Roche. Seit seiner fristlosen Entlassung Mitte Mai sitzt der Exspartenleiter und straffällige Vitamin-Chefverkäufer zu Hause und durchforstet mit gespanntem Interesse die Webpage der amerikanischen Gefängnisverwaltung. Von der US-Justiz als Drahtzieher einer weltweiten kriminellen Verschwörung und als obrigkeitswidriger Schwindler verurteilt, erwartet den fehlbaren Ziehsohn von Roche-Präsident Fritz Gerber in den Vereinigten Staaten eine viermonatige unbedingte Gefängnisstrafe.

Die laut US-Justizbeamten «grösste je aufgedeckte Kartellkonspiration» wurde zwar erst jetzt bekannt - aber schon viel früher manifest. In der Untersuchung um ein Zitronensäurekomplott, die die Amerikaner zwischen 1995 und 1996 aufrollten, war Sommer auf einer Geschäftsreise nach Chile den Antikartellbehörden zum ersten Mal ins Netz gegangen. Bei einem Stop-over in Atlanta wurde der Leiter des weltweiten Vitaminmarketings von FBI-Agenten des Nachts aus seinem Hotelzimmer geklopft und zu vermuteten Kartellabsprachen auf dem Zitronensäuremarkt vernommen. In einer weiteren Befragung durch die texanischen Untersuchungsbeamten wurde Sommer später auch nach ähnlichen Praktiken im ungleich umsatzstärkeren Vitamingeschäft ausgehorcht - eine damals unbewiesene Unterstellung, die der Verkaufscrack demzufolge mit einem Nein quittierte.

Da die Verschwörer der Vitamingiganten Roche, BASF und Rhône-Poulenc wohlweislich einschlägige Akten und Dokumente vernichtet hatten, stützte sich die Untersuchung der US-Kartellbeamten notgedrungen auf Zeugenaussagen und Tonbandaufnahmen, Mittel, mit denen sie sich den Vorwurf von Wildwestmethoden einhandelten und die in der Roche-Chefetage blankes Entsetzen hervorriefen. Mit verborgenen Mikrofonen ausgestattet, zeichnete der FBI-Informant Mark Whitacre, im Hauptberuf Manager des Rohstoffmultis Archer Daniels Midland (ADM), Gespräche auf Tonband und Video auf, die er mit seinen Geschäftspartnern, darunter Sommer, führte - und spielte sie den Kriminalbeamten zu.

So flog zunächst das Lysinkomplott auf, das Quoten- und Preisabsprachen beim Futterzusatzstoff Lysin betraf, und so wurde kurz darauf die Konspiration um Zitronensäure entlarvt, in der Roche neben ADM zu den Drahtziehern gehörte. «Wer anlässlich der Untersuchungen gegen das Zitronensäurekartell nicht merkte, dass es von nun an Ernst galt, hat seine unternehmerische Verantwortung nicht wahrgenommen», wundert sich ein Topmanager der Konkurrenz über die fortgesetzte Blauäugigkeit der Roche-Spitze.

Der Geschäftsführer der Roche-Tochter Citrique Belge, Udo Haas, musste für den ins Zwielicht geratenen Konzern im Frühjahr 1997 als Erster über die Klinge springen. Anlässlich der Vergleichsverhandlungen mit den amerikanischen Justizbehörden nahm Haas eine Busse von 150 000 Dollar in Kauf, während die säumige Muttergesellschaft in der ersten Runde noch mit einer Ablasszahlung von 14 Millionen Dollar davonkam (siehe «Die grössten Sünder»).

Ein Klacks gegenüber den 500Millionen Dollar für die Absprachen bei sechs Vitaminen, die Roche mit dem Justizministerium kürzlich in einem weiteren aussergerichtlichen Vergleich ausgehandelt hat. Ausser Kuno Sommer musste im Mai auch Vitaminchef Roland Brönnimann sein Büro fristlos räumen. Zusammen mit einem weiteren Angeklagten, dem früheren Marketingchef Andreas P. Hauri, wurden sie als böse Buben dargestellt. Der Name eines vierten Kadermanns wurde bislang unter Verschluss gehalten, weil er bei der US-Justiz ein vorläufiges Verbot für die Namensnennung erwirkt hatte. Es handelt sich um den ehemaligen Leiter der Rechtsabteilung, Hans-Rudolf Widmer. Über sein Pult war eine interne Untersuchung über die Zitronensäureabsprachen gelaufen, die nach offizieller Lesart «keinerlei weitere Unkorrektheiten» zu Tage förderte. Offensichtlich hat der ranghöchste Hausjurist das Vitaminkartell gedeckt. Er musste Ende 1997 gehen; der Abgang wurde intern als vorzeitige Pensionierung beschönigt.

Während Sommer sein Lehrgeld - vier Monate Gefängnis und 100000 Dollar Busse - bereits kennt, verhandeln Brönnimann, Hauri und Widmer mit den US-Beamten über die Höhe ihrer Strafe. Dass Angeklagte mit Vergleichsverhandlungen («plea bargaining») Gerichtsverfahren umgehen, ist in den USA gang und gäbe; die Strafen sagen nichts darüber aus, wie ein Richter entschieden hätte. Vier Roche-Verantwortliche haben sich gestellt, das reicht den Ermittlern. Gemäss dem abgeschlossenen Vergleich wollen sie von Strafen gegen weitere Roche-Manager absehen.

Sämtliche Efforts der Roche-Anwälte zielten darauf ab, die in der Verantwortung stehende Führungscrew mit Fritz Gerber, Henri B. Meier und Andres F. Leuenberger in günstigem Licht erscheinen zu lassen. Die Angeklagten erhielten dagegen nur ein Minimum an juristischer Unterstützung. Gegenüber Belegschaft und Öffentlichkeit reagierten die Topshots mit einer Mischung aus Ärger, Betroffenheit und vorgetäuschter Ungläubigkeit auf das Komplott, doch hinter den Kulissen herrschte Panik. Krisensitzungen jagten sich an Wochenenden, zu denen selbst pensionierte Spitzenmanager aufgeboten wurden. Enttäuschte Mitarbeiter schrieben geharnischte Briefe an die Konzernleitung. Doch statt ehrlicher Vergangenheitsbewältigung stimmte diese eine naive Zukunftsdebatte an.

Die Kultur des stillschweigenden Tolerierens und Wegschauens hat in der Roche-Chefetage Tradition. Auf den obersten Führungsebenen regiert eine Geisteshaltung aus Kadavergehorsam, Laisser-faire und knallhartem Renditedenken. Auf diesem Nährboden konnte die Vitamin-Connection optimal gedeihen. Den Nukleus dazu legte Mitte der Siebzigerjahre der seinerzeitige Leiter des Vitaminmarketings und spätere «Lehrmeister» Sommers, Andreas P. Hauri.

Auf grund seiner vielsei-tigen Talente kam Hauri, der bei Roche als 19-jähriger Volontär eingetreten war, intern aussergewöhnlich zügig voran. Der Pfarrerssohn verdiente seine Sporen zunächst in Lateinamerika ab und leitete Anfang der Sechzigerjahre von Hongkong aus die asiatischen Vitaminmärkte, bevor er - zurück in Basel - Mitte der Siebzigerjahre ins Direktorium aufstieg. Im Kulturleben am Rheinknie machte der passionierte Cellospieler von sich reden, als er 1974 zum Präsidenten der Basler Theatergenossenschaft gewählt wurde. Ein Kenner der lokalen Theaterszene weiss um den «leicht chaotischen, nahezu papierlosen Arbeitsstil», den Hauri während seines Mandats an den Tag legte. Unter Verzicht auf eine ordentliche Traktandenliste habe er Sitzungen in der Regel «aus dem Handgelenk geleitet», erinnert sich der Informant. Seiner Rechenschaftspflicht als Theaterpräsident glaubte der Roche-Direktor denn auch mit der jährlichen Publikation einer dürren Betriebsrechnung zu genügen.

Vitamin-Chefverkäufer Hauri war ein Mann mit einem unübersehbaren Hang zur Grossspurigkeit. Gegen aussen trat der Marketingchef ungeniert als «Spartenleiter» auf, etwa Ende 1982, als er in der «Basler Zeitung» sein Leid klagte: Die Chinesen böten Vitamine zu Preisen an, «die mit ökonomischen Grundsätzen nichts mehr zu tun haben». Im basel-landschaftlichen Röschenz residierte er mit seiner kolumbianischen Ehefrau und vier Töchtern auf einer weitläufigen Ranch. Dorthin lud er in den Siebzigerjahren verschiedentlich Musikfreunde aus der Region zu Hauskonzerten. Seine Liebe zur Musik verband ihn mit dem Dirigenten und Roche-Besitzer Paul Sacher, zu dem er sehr gute Beziehungen pflegte.

In der Riege konservativer Leistungsträger der Roche-Chefetage war Hauri ein Exot. «Während man gute Kunden gewöhnlich bei Stucki oder Donati zum Essen einlud, verabredete sich Hauri mit ihnen zu einem Déjeuner sur l’herbe am Waldrand», erinnert sich ein früherer Arbeitskollege. Neben einem sicheren Instinkt fürs Geschäftemachen fiel der Nonkonformist durch seine Affinität für Esoterik und Religion auf. So pflegte er für Roche-Verhältnisse allerlei kuriose Nebentätigkeiten. 1990 rief Hauri etwa die Stiftung Life Foundation ins Leben, die gemäss Stiftungszweck «geistig-ganzheitliche Lebenshilfe an suchende Menschen vermittelt, dies durch individuelle Betreuung, Zusammenkünfte in Gruppen und Information».

Zur Würdigung seines Verkaufstalents wurde Hauri 1980 mit dem Titel eines Roche-Zentraldirektors dekoriert, zuständig für die weltweite Forschung und Vermarktung von Vitaminen und Feinchemikalien. Hauris direkter Vorgesetzter, an den er zu rapportieren hatte, war der heutige Roche-Vizepräsident Andres F. Leuenberger. Wer sonst, wenn nicht der notorische Marktrhetoriker Leuenberger, zugleich Präsident des Wirtschaftsverbands Vorort, hätte augenblicklich die Notbremse ziehen müssen, als Anfang 1997 die wettbewerbsfeindlichen Machenschaften im Zitronensäureoligopol ruchbar wurden?

Auf Konzernleitungsstufe wurde die Verantwortung für das kartellanfällige Vitamin- und Feinchemikaliengeschäft von Leuenberger später an die Generaldirektoren Oskar Höchli (1982 bis 1985) und André Futterknecht (1985 bis 1989) weitergereicht. De facto verfügte Marketingleiter Hauri allerdings in all den Jahren über einen schier unbegrenzten Handlungsspielraum. Für die Art von Eigenleben, die er bei Roche zu entwickeln vermochte, war kein Geschäft so geeignet wie das Vitamingeschäft.

Der Markt, angeführt von den Grossmächten Roche und BASF, wächst langsamer als das Pharmabusiness, zudem ist er weniger reglementiert. Vitamine sind keine Endprodukte, sondern Massengüter mit Rohstoffcharakter, die Lebens- und Futtermitteln beigemischt werden. Weil das Geschäft im Gegensatz zu Pharma nicht von Innovationen getrieben wird - Vitamine sind bereits erfunden - spielt der Wettbewerb hauptsächlich über die Preise. Bei Roche werden sie zentral in Basel administriert - eine Konstellation, die den Marketingmanagern um Hauri eine extreme Machtfülle verliehen hat. Sie konnten schalten und walten, wie es ihnen gefiel. Keiner der Renditegeneräle in der Roche-Konzernleitung stellte offenbar ausdrücklich die Absurdität in Frage, dass in dem Massengeschäft Vitamine Traummargen von 20 Prozent erzielt werden, wie sie sonst nur im Pharmageschäft üblich sind. «Unter dem Strich stimmten die Zahlen. Das war alles, was zählte. Wie sie zu Stande kamen, interessierte nicht», sagt ein ehemaliger Kadermann. Und ein Zweiter fügt bei: «Wenn das Heu eingefahren ist, fragt man bei Roche nicht nach, woher es stammt.»

Den renditevorgaben aus der Finanzabteilung, mit denen die Manager und ihre Divisionen auf Trab gehalten wurden, haftete eine Note der Unausweichlichkeit an. Kaum jemand entwickelte Courage zur Opposition; Gehorsam und Gefälligkeit hiess das Gebot in den Sitzungen. Die Jagd nach mehr Rendite einte die Zahlenhuber auch über die Hierarchiestufen hinweg: Erwin Schneider zum Beispiel, lange Zeit treuer Controller der Vitamindivision, sitzt heute an wichtiger Stelle in Henri B. Meiers Finanzabteilung.

Bekanntlich geniesst keiner bei Roche Meiers Durchblick, was die relevanten Finanzkennziffern, Gewinngrössen und Spartenbeiträge betrifft. Dem viel gerühmten Finanzguru hätte es in all den Jahren auffallen müssen, dass im Vitaminsektor nicht alles mit rechten Dingen zuging. Es widerspricht jeglicher Marktlogik, dass die Preise auf Märkten mit Rohstoffcharakter beständig sinken, während sich gleichzeitig die Marge in der betreffenden Geschäftsdivision auf halsbrecherischem Niveau halten lässt. «Die Hauptunterstützung zur Förderung des Wertschöpfungsprozesses leistet das Controlling, indem es dem Management auf allen Ebenen Informationen/Daten liefert und Fehlleistungen offen legt und gleichzeitig Vorschläge zur Behebung dieser Mängel und zur Ausschöpfung des Potenzials ausarbeitet», doziert Henri B. Meier in einem Beitrag über die Organisation der Finanzkontrolle im Roche-Konzern, der erst kürzlich in einer Festschrift des Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrums an der Universität Basel (WWZ) erschienen ist.

Mit personalentscheiden lässt sich auch Geschäfts- und Kulturpolitik betreiben. Als Hauris persönlicher Assistent trat Anfang 1985 der promovierte Ökonom Kuno Sommer (Dissertationsthema: «Marketing Audit») in die Roche-Vitaminsparte ein und erwies sich bald als gelehriger Schüler. Unter der Obhut des exzentrischen Hauri stieg Sommer schnurstracks zum globalen Produktemanager, Divisionsdelegierten und Anfang der Neunzigerjahre bereits zum Marketingleiter für Futtermittelzusätze in den USA auf. Als sich Hauri im September 1994 mit 59 Jahren frühpensionieren liess, übernahm Sommer die Gesamtleitung für das weltweite Vitaminmarketing. Vom Temperament her barg Heisssporn Sommer die gleichen Risiken wie Hauri, trotzdem erhielt er aus einer Reihe von Kandidaten den Zuschlag. Nur folgerichtig, dass die Mischeleien und Absprachen unter Sommers Ägide weitergeführt wurden.

Das machiavellistische System wurde mit Geheimkränzchen in Privatvillen oder Luxushotels perfektioniert. Viermal jährlich trafen sich die Manager der Vitamingrossmächte Roche, BASF und Rhône-Poulenc, um Preise und Quoten auf die Kommastelle genau festzulegen. Der Versuch, die chinesischen Anbieter zurückzubinden, die mit tiefen Preisen in den Markt drängten, gelang; Wettbewerb bestand immer nur vordergründig. Wollte etwa ein US-Futtermittelkonzern billiges Vitamin C von einem chinesischen Anbieter beziehen, lief er auf: Die «Vitamin Inc.», die ihre Abnehmer zu Exklusivität in allen Vitaminen verpflichtet hatte, drohte mit einem Lieferstopp für die Vitamine A oder E. Dabei wusste das Kartell, dass die Chinesen gar nicht in der Lage waren, die Vitamine A oder E in gewünschter Qualität und Quantität zu liefern. Selbst das Einholen von Offerten nützte nichts: Mit fingierten Angeboten täuschte das konspirative Trio einen Wettbewerb vor, der gar nicht existierte. Zum Vornherein war abgekartet, welcher Anbieter die günstigste Offerte vorlegen sollte.

Die Konzernleitung liess Kuno Sommer gewähren. Den Übereifer Sommers würdigte Roche-Präsident Fritz Gerber - notabene nach Auffliegen des Zitronensäurekartells - sogar mit dessen Berufung in die Konzernleitung. Anfang 1998 beförderte er den Vitaminverkaufsleiter, gegen den mittlerweile ein Strafverfahren lief, zum CEO von Givaudan Roure und übertrug dem aggressiven Manager somit ausgerechnet die Verantwortung für eine Geschäftsdivision, die ihrerseits auf oligopolistisch geprägten Märkten agiert: Die fünf grössten Anbieter von synthetischen Aromen und Riechstoffen teilen derzeit zwei Drittel des Weltmarktvolumens unter sich auf.

Sommer stand im krassen Gegensatz zu seinem Chef Roland Brönnimann, einem wortkargen Schaffer, seit 1989 Leiter der Vitamindivision, der sichtlich darunter litt, in der Konzernleitung die Zwei auf dem Rücken zu tragen. Nicht weil er schlechte Zahlen geliefert hätte, sondern weil Vitamine ein derart unspektakuläres Geschäft sind. Da konnte der Pharmachef vom revolutionären Schlankheitsmittel Xenical berichten, der Diagnostikaleiter vom neusten Blutdruckmesser, der Finanzchef von seinen Milliardenbeständen in der Kasse. Und der Leiter Vitamine? Bei ihm drehte sich alles um dröge Substanzen namens A, B und C.

Pikantes Detail: Bevor Brönnimann 1986 zu Roche stiess, war er Betriebsleiter der Walliser Lonza-Werke. Im Baurecht betreibt Roche in Lalden im Kanton Wallis auf Lonza-Terrain eine petrochemische Grossanlage, in der, ausgehend von Lonza-Basisstoffen, Zwischenprodukte für die Vitaminherstellung entstehen. Dieser seit Mitte der Sechzigerjahre mit Erfolg praktizierte «Bezug über den Zaun» macht Roche zu einem der wichtigsten und treuesten Lonza-Kunden. Kurz bevor Roche als grösster Kartellsünder aller Zeiten an den Pranger gestellt wurde, kam es Anfang März 1999 zwischen dem US-Justizministerium und Lonza bereits zu einem vorgezogenen, «kleinen» Vitaminvergleich. Der Schweizer Feinchemikalienhersteller gab zu, an illegalen Preisabsprachen für Vitamin B3 teilgenommen zu haben und willigte in eine Busse von 10,5 Millionen Dollar ein.

Das Topkader von Roche muss sich wegen fortgesetzter Nichterfüllung seiner Aufsichtspflicht zumindest fahrlässiges Verschleudern von Firmen- und Aktionärswerten vorwerfen lassen. Nur die Tatsache, dass Roche im Grunde noch immer ein urschweizerisches Familienunternehmen ist, bewahrte Fritz Gerber und Henri B. Meier vor dem Rücktritt. In den USA hätten starke Shareholder längst auf das Ausscheiden der Verantwortlichen gedrängt.

Der Fall ist trotzdem noch längst nicht abgeschlossen. Die Strafe von 500 Millionen Dollar, die Roche mit dem Justizministerium als aussergerichtlichen Vergleich ausgehandelt hat, ist erst der Anfang. Die Kartellbehörden von Kanada, der EU und der Schweiz haben Untersuchungen eingeleitet. Mehrere Dutzend US-Anwaltskanzleien bereiten derzeit Sammel- und Einzelklagen vor, darunter der Haudegen Michael Hausfeld, der bereits die Schweizer Banken in der Holocaust-Affäre das Fürchten lehrte. Die Schadenersatzzahlungen könnten gegen eine Milliarde Dollar erreichen. Gemäss US-Behörden hat das Kartell die Konsumenten und die Hersteller wegen zu hoher Preise um insgesamt fünf Milliarden Dollar geprellt. Tatsächlich sind die Preise für Vitamine seit Auffliegen des Kartells markant gesunken; im ersten Halbjahr 1998 ging der Vitaminumsatz im Roche-Konzern um sieben Prozent zurück.

Nahrungsmittelhersteller wie Kellogg ha-ben bereits Klage eingereicht, ebenso Futtermittelmultis wie Tyson Foods oder Wright Enrichment. Für die Vitaminhersteller hat in den Neunzigerjahren das Tierfuttergeschäft - Geflügel- und Schweinemast oder Fischfutter - den Lebensmittelmarkt überholt. Kein Grund für eine Beteiligung an den Sammelklagen sieht Nestlé. Die Absprachen, sagt Nestlé-Sprecher Hansjörg Renk, hätten keinen Einfluss auf die Preise von Nestlé USA gehabt.

Schon nach Auffliegen des Zitronensäurekomplotts taten die Roche-Verantwortlichen so, als handle es sich um einen Einzelfall, und erneut ist es möglich, dass die Affäre noch weitere Kreise zieht. Genauso, wie der Lysinfall die Zitronensäure ins Rollen brachte und dadurch der Skandal um die sechs Vitamine aufflog, könnten weitere Komplotte zum Vorschein kommen. Es gibt nämlich nicht nur 6, sondern 13 Vitamine. Im Eifer, die Margen hoch und die Konkurrenz in Schach zu halten, wurden die Marketingleute immer zügelloser. «Dass die Absprachen die mengenreichen Vitamine A und E betreffen, war bekannt. Überrascht haben die anderen Vitamine», sagt ein Roche-Spitzenmann. Neben A und E fielen die Vitamine B2, B5, Vitamin C und Beta-Karotin unter die Absprachen.

Mitchell Chitwood, Staatsanwalt in der Kartellbehörde in Texas, gräbt jedenfalls weiter beflissen in den Vitaminsümpfen, um deren Ausmass offenzulegen: «Unsere Untersuchungen sind nun schon Jahre im Gang, und wir wissen immer noch nicht, wie gross der Fall tatsächlich ist», sagt er, «es gibt noch mehr Vitamine, die betroffen sein könnten - keine Ahnung, ob wir schon alle gefunden haben.»

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