BILANZ: Herr Gygi, die SBB wollen vermehrt Geschäftsleute ansprechen. Im Zug nach Bern haben wir in der ersten Klasse vergeblich eine Steckdose für den Computer oder für das Handy gesucht.

Ulrich Gygi: Mit welchem Zug sind Sie denn gekommen?

Intercity, Zürich ab: 12 Uhr 32.

Viele unserer Fernverkehrszüge verfügen über Stromanschlüsse. Wo dies nicht der Fall ist, rüsten wir nach. Bis 2013 werden nach und nach 35  000 Steckdosen montiert.

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Sie wollen die Angebote für Geschäftskunden verbessern. Wie?

Unter anderem prüfen wir Vielfahrerprogramme oder das Angebot «Fahrendes Sitzungszimmer». Es gibt ja bereits Züge mit Geschäftsabteilen, da könnte man ausbauen. Aber ehrlich gesagt: Diese Ideen stehen nicht zuoberst auf unserer Prioritätenliste.

Welche dann?

Die Bewältigung des stetig zunehmenden Passagieraufkommens und die Pünktlichkeit.

Wir haben die Abfahrtszeiten von heute früh geprüft, in der Stosszeit um 7 Uhr 30 ist jeder dritte Zug ab Zürich verspätet.

Darf ich Ihre Liste sehen. 4 Minuten, 5 Minuten, 4 Minuten – das beeindruckt mich nicht so sehr. Darunter sind ja viele S-Bahnen, die im Raum Zürich in hoher Dichte verkehren. Bei diesem breiten Angebot merkt der Kunde kaum etwas.

Heute Morgen am Bahnhof Bern: Zwischen 7 Uhr 36 und 7 Uhr 46 waren 8 von 11 Zügen verspätet – jeweils zwischen 4 und 8 Minuten.

Unsere Zielsetzung ist eine Drei-Minuten-Ankunftspünktlichkeit. Der Wert hat sich über das ganze Netz positiv entwickelt und ist in diesem Jahr rund zwei Prozentpunkte besser als im Vorjahr. Klar: Alle Verspätungen sind lästig und unerwünscht. Aber in Spitzenzeiten sind sie auf unserem hoch belasteten Netz im kleinen Rahmen erträglich.

Wo sehen Sie denn die grossen Probleme?

Im Wachstum des Personenverkehrs.

Andere würden sich freuen.

Das tue ich auch. Die Nachfrage hat seit dem Projekt Bahn 2000, also seit 2004, um gut dreissig Prozent zugenommen. Und der Trend ist ungebrochen, wir verzeichnen dieses Jahr erneut ein Plus von vier Prozent. Das ist an und für sich sehr positiv.

Eben.

Aber das System stösst an seine Grenzen, besser gesagt, es ist an seiner Grenze. Wenn ich mit unserem Fahrplanchef spreche, sagt er mir: «Ich bringe keinen einzigen Zug mehr rein. Fertig.»

Die Lösung?

Wir können die zunehmende Mobilität nicht unbegrenzt bedienen und Zug um Zug einschieben, ohne die Stabilität des Gesamtsystems zu gefährden. Die Rechnung ist einfach: Je mehr Züge wir einsetzen, desto länger dürfte Ihre Liste mit den Verspätungen werden.

Sie müssen in die Infrastruktur investieren und wollen dafür mehr Geld – vom Staat.

Tatsächlich müssen wir bei den fixen Bauten und der Infrastruktur massiv ausbauen, über die dringlichsten Ausbauten hat das Parlament ja im Rahmen des Programms «Zukunft Eisenbahnverkehr» positiv entschieden. Aber das Geld fliesst bis 2016 fast vollständig in die Neat. Erst dann sind die anderen beschlossenen Projekte finanzierbar. Das ist angesichts der steigenden Nachfrage zu spät.

Als Direktor der Finanzverwaltung standen Sie auf der Ausgabenbremse, als SBB-Präsident müssen Sie jammern und fordern nun 3,7 Milliarden Franken vom Bund statt der in der Leistungsvereinbarung abgemachten 3 Milliarden.

Ich jammere nicht. Wir haben die Anforderungen und Bestellungen von Bund und Kantonen an die SBB geprüft und festgestellt, dass sie die bisherigen 1,5 Milliarden pro Jahr übersteigen. Jetzt geht es darum, dass zwischen dem Verkehrsdepartement und dem Finanzdepartement eine Leistungsvereinbarung ausgehandelt wird, die auch wir unterschreiben können.

Nochmals: Mehr Steuergelder sind die Rettung?

Die Finanzierung der Bahninfrastruktur ist Sache der öffentlichen Hand. Das ist praktisch auf der ganzen Welt so. Wir haben wegen der intensiveren Nutzung der Infrastruktur dringlichen zusätzlichen Unterhaltsbedarf, wie unser CEO Andreas Meyer festgestellt hat. Darum haben wir einen externen Infrastrukturcheck in Auftrag gegeben und gemerkt, dass wir auch hier nachlegen müssen, wenn wir mindestens die heutige Qualität sicherstellen wollen. Namentlich bei Schienen und Fahrleitungen besteht Nachholbedarf. Alles andere ist in sehr gutem Zustand.

Wie viel muss investiert werden?

Im Bereich der Fahrbahn gibt es Mängel bei gewissen Unterhaltsarbeiten. Da hat sich eine Lücke von einer Milliarde Franken aufgetan. Auf das gesamte SBB-Anlagevolumen von 75 Milliarden ist das nicht dramatisch, es lässt sich in den Griff kriegen. Zudem müssen wir den Unterhalt wegen des Mehrverkehrs überproportional steigern, damit wir das Niveau halten können.

Wenn Sie das Geld nicht bekommen, machen Sie Abstriche bei den Leistungen?

Ich drohe nicht, aber wir werden keine Vereinbarung unterschreiben, in der man von uns Leistungen verlangt, die nicht finanziert sind.

Was würde der frühere Direktor der Finanzverwaltung, Ulrich Gygi, dem SBB-Präsidenten Ulrich Gygi sagen, der mehr Staatsgelder will?

Ich bin SBB-Präsident, und die Bedürfnisse der Bahn sind ausgewiesen. Aber ich weiss auch, dass der Bund vor grossen finanziellen Herausforderungen steht. Jetzt geht es darum, Prioritäten zu setzen – andere würden sagen, dass ein Gerangel im Gang ist.

Vor etwas über einem Jahr wurde im Fall SBB Cargo riesiger Handlungsbedarf ausgemacht. Seitdem scheint nicht viel passiert zu sein.
Falsch. Es wurden Güterwagen stillgelegt, Loks eingemottet, Kundenlisten und Prozesse überarbeitet, rund 200 Stellen blieben unbesetzt. SBB Cargo hätte wohl ab Oktober 2008 schwarze Zahlen geschrieben, wenn man die Eigenkapitalrendite nicht berücksichtigt. Dann kam die Wirtschaftskrise.

Und in der Frage der Partnerschaft von SBB Cargo? Die möglichen Konzepte und Partner – SNCF, Deutsche Bahn – sind längst bekannt.

Einer der potenziellen Partner, die Deutsche Bahn, hat die ganze Führungsmannschaft ausgewechselt, das hat Zeit gekostet. Auch die Franzosen haben weniger schnell gehandelt, als wir annahmen. Aber es läuft, bis Ende Jahr wollen wir den Richtungsentscheid fällen, dann die Detailpläne ausarbeiten.

Wie stark ist der Einbruch des Geschäfts bei SBB Cargo aufgrund der Krise?

Zwanzig Prozent im internationalen Verkehr, zehn Prozent im ungleich grösseren nationalen.

Es heisst, Sie tendieren eher zu einem Alleingang?

Nein, aber es ist so: Wenn der Alleingang das bessere Ergebnis bringt, gehen wir sicherlich keine Partnerschaft ein. Das war und ist für mich die erste Hürde bei den Verhandlungen.

Im Dezember wollen Sie über die Marschrichtung entscheiden. Ist der Terminkalender überhaupt noch realistisch?

Ich gehe davon aus, aber wir sind stark gefordert.

Es wird also eher 2010?

Mein Ziel ist immer noch, dass wir im Dezember einen Richtungsentscheid fällen können.

Sie haben ein 50-Prozent-Pensum, sind Sie täglich im Büro?

Nicht gerade täglich, aber oft. Am Anfang muss man sich kundig machen. Ich besuche die Bereiche und Regionen.

Wie schauen Sie, dass Sie dem CEO nicht in die Quere kommen?

Nun, wir reden oft. Meistens sitzt er mir gegenüber, auf dem Stuhl, auf dem Sie gerade sitzen.

Wie oft wird diskutiert?

Wir führen fast jede Woche ein Gespräch, jeder bringt seine Punkte ein.

Bei den SBB wie bei der Post gab es eine Trendwende in der Führung. Beide Unternehmen haben jetzt starke Präsidenten: Bei den SBB sind Sie am Werk, bei der Post Claude Béglé. Wer ist aktiver, Sie oder Claude Béglé?

(lacht) Das ist wohl kaum von Belang. Aber ich denke, dass der Verwaltungsrat durchaus Agenda-Setting betreiben und nicht passiv darauf warten soll, was ihm die Konzernleitung vorlegt. Damit hat SBB-CEO Andreas Meyer kein Problem, wir haben diesbezüglich ähnliche Vorstellungen. Klar muss man ab und zu in Sachen Corporate Governance eine Standortbestimmung vornehmen. Deshalb schaue ich auch, was die Post oder Swisscom macht. Da gibt es interessante Ansätze.

Béglé erhöht die Zahl der Komitees im Post-VR. Wie viele gibt es denn bei den SBB?

Bei den SBB haben wir die üblichen Ausschüsse: Audit, Personal und Salarierung, dann einen für Corporate Governance, einen zur Vermeidung von Interessenkonflikten der VR-Mitglieder sowie ein Ad-hoc-Cargo-Komitee, das wir aufheben, wenn eine Lösung gefunden ist. Das ist also eher eine knappe Bestückung.

Sie wollen aufstocken?

Weniger die Zahl der Komitees als hinsichtlich der Art und Weise, wie wir Geschäfte behandeln. Das darf ruhig etwas intensiver werden. Ich strebe aber keine Revolution an. Ich finde es richtig, dass der CEO den Betrieb in operativen Fragen nach aussen vertritt, bei der Strategie ist der VR verantwortlich, bei den Beziehungen zur Politik sprechen wir uns beide ab.

Doch die Gewichte werden sich mehr Richtung VR verlagern?

Die SBB haben einen starken CEO, er ist sehr präsent und rundum akzeptiert.
Und beschäftigt sehr viele Berater. Wie viel geben Sie dafür jährlich aus?
Das weiss ich nicht im Detail. Als CEO der Post nahm ich zweimal externe Leistungen in Anspruch und war in beiden Fällen zufrieden. Berater beizuziehen, ist Teil des heutigen Managements.

Überflüssigerweise?

Wir haben vor allem im Cargobereich viel mit Beratern gearbeitet, das hat gekostet, klar. Ich habe eine Obergrenze gesetzt. Gute Beratung ist sehr wertvoll, man soll sie sich leisten, aber sie muss im Rahmen bleiben.

Bei der Post tobt ein Machtkampf zwischen Ihrem Nachfolger, CEO Michel Kunz, und dem neuen Präsidenten Claude Béglé. Haben sich Ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet?

Eigentlich ergänzen sich die beiden vom Profil her gut. Hier ein starker operativer Chef, der die Post gut kennt und erfolgreich führt, dort ein internationaler Manager, der auf beiden Beinen steht und ein guter Kommunikator ist. Ich hoffe, dass sie sich zusammenraufen. Wenn nicht, wäre das schade.

Sie sind zu 50 Prozent als VR-Präsident der SBB angestellt, den Rest teilen Sie sich auf als VR der SRG und der Axa Winterthur. Was macht mehr Spass?

Alle drei Aufgaben sind sehr interessant. Die «Winterthur» war einst ein grosser Name im Versicherungsmarkt. Vor ein paar Jahren übernahm die französische Axa den Konzern. Als Schweizer Vertreter haben wir auch dafür zu sorgen, dass die Schweizer Tochter ein optimales Verhältnis zum Eigentümer hat und das Schweizerische am Unternehmen erhalten bleibt.

Sie sorgen dafür, dass der Name Winterthur weiterhin im Logo bleibt?

Nein, die Franzosen wussten auch um die Bedeutung von Winterthur und haben deshalb das Logo nicht sofort zu Axa umgestaltet, wie sie das im Ausland gemacht haben, sondern einen Zwischenschritt eingelegt – eben Axa Winterthur. In einigen Jahren wird wohl der Name Winterthur verschwinden.

Stimmt das Gerücht, dass Sie einmal Investment Banker werden wollten?

Ja, das ist kein Witz.

Der Staatsdiener und SP-Mann als Investment Banker?

Nach zehn Jahren an der Spitze der Eidgenössischen Finanzverwaltung stand mir der Sinn nach Veränderung. Ich hatte damals das Angebot einer Investmentbank.

Goldman Sachs?

Namen nenne ich keine, Arbeitsort wäre London gewesen. Ich war drei Tage dort, habe mir den Arbeitsplatz angeschaut, Gespräche geführt. Auch die finanziellen Bedingungen kannte ich bereits.

Ein tolles Salär und ein noch besserer Bonus?

Das Fixum war etwa gleich wie jenes als CEO der Post, dazu kam ein Bonus. In einem schlechten Jahr hätte dieser null betragen, in einem guten Jahr bis zum Zwanzigfachen des Fixums.

Doch bevor Sie Investment Banker wurden, kam das Angebot des CEO-Postens bei der Schweizer Post.

Genau. Und ich wusste: Das ist das Richtige. Aber es bleibt dabei, Investment Banking ist ein faszinierendes Geschäft, besonders wenn man einen Börsengang organisiert. Am ersten Handelstag das grosse Zittern: Liegt der Preis am Abend unter pari, hat man einen schlechten Job gemacht, liegt man weit darüber, auch. Ein echter Nervenkitzel.

Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler wuchs in einfachen Verhältnissen im Berner Seeland auf. 1979 stieg Ulrich Gygi bei der Finanzverwaltung des Bundes ein, 1989 wurde er eidgenössischer Finanzdirektor. Von 2000 bis 2009 verschuf er sich als Konzernleiter der Post mit der konsequenten Modernisierung des Staatsbetriebs Respekt. Anfang Jahr übernahm Gygi das SBB-Präsidium. Der 62-Jährige ist SP-Mitglied, mag Jazz, spielt Saxofon und ist YB- und SCB-Fan.