BILANZ: Die US-Notenbank hat sich vor den Präsidentschaftswahlen ruhig verhalten und alles getan, um die Märkte nicht zu verunsichern. Müssen die Anleger je nach Ausgang der Wahlen mit einer neuen Politik rechnen?
David Bowers:
Das Fed hat in der Tat im Vorfeld der Wahlen für Stabilität gesorgt. Aber der Ausgang der Präsidentschaftswahlen wird keinen wesentlichen Einfluss auf den US-Aktienmarkt haben. Sicher gibt sich Al Gore gegenüber den Unternehmen skeptischer als George Bush, der sich sehr unternehmerfreundlich zeigt. Diesbezüglich hält sich aber die Nervosität an den Märkten in Grenzen.

Al Gore hält die Pharmaindustrie mit seinem Programm, Medikamente mit billigeren Preisen allen zugänglich zu machen, aber auf Trab.
Das ist richtig. Bei den Pharmaaktien ist diese Unsicherheit sicher zu spüren. Aber beide Kandidaten wissen, dass sie später nur wieder gewählt werden, wenn sie gegenüber der Wirtschaft aufgeschlossen sind.

Wie wird sich denn Alan Greenspan nach den Wahlen positionieren?
Die Notenbank will sich so oder so neutral positionieren. Ich würde auch die Stützungskäufe für den schwachen Euro nicht als Politikwechsel interpretieren. Ich denke vielmehr, dass das Fed vor den Wahlen eine politische Krise mit Europa verhindern wollte. Aber die Rolle der Notenbank ist definitiv der ausschlaggebende Faktor für die Aktienmärkte. Und sie ist nicht einfacher geworden. Der Ölpreisschock und die Tatsache, dass die US-Wirtschaft langsamer wächst, sind für die Notenbank eine grosse Herausforderung. Die Frage, wie Greenspan auf diesen Ölpreisschock reagieren wird, wird meines Erachtens noch viel zu wenig diskutiert.

Über die Auswirkungen dieses Ölpreisschocks sind sich die Experten aber überhaupt nicht im Klaren.
Es gibt zwei Interpretationen. Wenn die Ölpreiserhöhungen zu einer Inflation führen, ist das für eine Wirtschaft im reifen Stadium des Zyklus mit ausgetrockneten Arbeitsmärkten eine ganz schlechte Ausgangslage. Damit könnte das Fed gezwungen sein, seine Geldpolitik trotz Abkühlung der Wirtschaft eng zu halten. Allerdings könnte es ja auch sein, dass die höheren Ölpreise die Wirtschaft und den privaten Konsum so stark negativ treffen, dass schon bald Zinssenkungen zur Diskussion stehen werden. Für die weitere Entwicklung der Aktienmärkte ist die Frage nach der Lockerung und dem Zeitpunkt der Lockerung der Geldpolitik entscheidend.

Die Experten sind mehrheitlich davon überzeugt, dass der US-Wirtschaft trotz Ölschock eine sanfte Landung gelingen wird.
Das stimmt. Wir bei Merrill Lynch gehören auch dazu. Aber viele europäische Fondsmanager haben die US-Aktienmärkte derzeit untergewichtet, weil sie einen Anstieg der Inflation fürchten. Die Antwort werden wir in den nächsten Monaten sehen. Wenn die US-Wirtschaft den Energieschock übersteht, die Löhne unter Kontrolle bleiben und die Produktivität weiter hoch bleibt, dann wäre dies der beste Beweis, dass die New Economy viel verändert hat. Die gegenwärtige Situation ist für die New Economy der Moment der Wahrheit.

In Europa hat die New Economy das Bewusstsein der Bürger anscheinend noch nicht verändert. Diese sind wie früher auf die Strasse gegangen und haben gegen die höheren Energiepreise protestiert.
Selbstverständlich ist dieser Energiepreisanstieg nicht nur für die US-Wirtschaft, sondern auch für Euro-Land ein Test. Ich bin gespannt, ob die US-Bürger diese höheren Preise akzeptieren. Spätestens im Winter werden wir auch in den USA die höheren Preise im Portemonnaie fühlen. Es ist aber für mich derzeit noch zu früh, um zu beurteilen, ob die sanfte Landung tatsächlich gelingt.

Gehen Sie denn davon aus, dass die höheren Energiepreise die privaten Haushalte stärker treffen als die Unternehmen?
Viele Unternehmen werden tiefere Margen hinnehmen müssen, und die Privaten müssen mit tieferen realen Einkommen rechnen. Markt und Konsumenten sehen es derzeit eher als konsumhemmend denn als preistreibend.

Das wäre aber ein Indiz, dass die New Economy und der Boom die Wahrnehmung der Konsumenten verändert haben. Die Theorie würde eine solch extreme Situation viel eher als preistreibend identifizieren.
Ja, und deshalb ist diese Zeit ja so spannend. In den nächsten Monaten werden wir sehen, ob die New Economy tatsächlich zu neuen Ausgangslagen führt. Wichtig scheint mir auch, dass der Ölschock jetzt transparent macht, dass die Old Economy ihre Investitionen vernachlässigt hat. Auch wenn der Ölpreis wieder herunterkommt, werden wir zu wenig Verarbeitungskapazität und Elektrizitätsherstellung haben. Die New Economy braucht nicht mehr Elektrizität, aber sie braucht ganz deutlich eine höhere Qualität. Deshalb schauen wir bei Merrill Lynch auch immer stärker auf Hersteller von alternativen Energien. Diese höheren Energiepreise machen also deutlich, dass die Investitionen in die Infrastruktur vernachlässigt worden sind.

Das beeinflusst aber Ihre Anlagestrategie.
Ja, klar. Wir sind in Energie- und Versorgertiteln übergewichtet.

Das ist eine defensive Strategie. Wie interpretieren Sie denn die Tatsache, dass in den USA die Obligationen die Aktien bislang geschlagen haben?
Das ist ein klares Zeichen, dass die Anleger von einem langsameren Weltwirtschaftswachstum ausgehen und dass die Gewinne der Unternehmen deshalb weniger stark steigen. Gegenwärtig sind wir nicht in einem Umfeld für grosse Risiken. Aus diesem Grund haben wir in den letzten Monaten an den Aktienmärkten einen Richtungswechsel zur Qualität hin gesehen. Die Anleger kaufen Aktien mit vorhersehbarem Gewinnwachstum.

Sind denn US-Aktien diesbezüglich überhaupt noch interessant? Neben der Wachstumsabschwächung könnte ja auch eine Korrektur des Dollars für europäische Anleger ein grosses Risiko darstellen.
Wir haben einige Enttäuschungen gesehen. US-Unternehmen sind mit ihrer starken Währung natürlich weniger wettbewerbsfähig geworden. Unsicherheit verbreitet aber auch eine neue Bestimmung der Regulierungsbehörde SEC, die den Unternehmen verbietet, Analysten zu beeinflussen. Bislang konnten Unternehmen, die eine Gewinnschätzung eines Analysten zu hoch einstuften, mit diesem reden. Ab Ende Oktober können solche Informationen nur noch an den ganzen Markt erfolgen. Das dürfte künftig vor allem bei den Hightech-Firmen zu Unsicherheiten in Bezug auf vorhersehbare Gewinnströme und damit zu Überraschungen führen.

Damit müssten europäische Firmen eigentlich besser dastehen. Sie sollten zudem vom schwachen Euro profitieren können.
Ja, der Euro ist sehr schwach, und ich bin überzeugt, dass wir in den Gewinnausweisen deshalb einige positive Überraschungen erleben werden. Der schwache Euro könnte für die Gewinne der Unternehmen höchstens dann ein Problem werden, wenn die Europäische Zentralbank der Währung nochmals mit höheren Zinsen unter die Arme greifen würde. Das wäre ein grosser Fehler.

Was bringt denn den Euro endlich wieder auf ein vernünftiges Niveau?
Der Euro ist sicher zu billig. Das ist aber für Europa so lange kein Desaster, als die Notenbank keine zu restriktive Geldpolitik fährt und sich gegen die Gemeinschaftswährung kein politischer Widerstand regt. Ich bin überzeugt, dass derzeit fast nur eine Bruchlandung der US-Wirtschaft zu einer schnellen Korrektur dieser Dollar-Euro-Relation führen kann.

Die erwarten Sie aber nicht. Also sind Sie in europäischen Aktien wohl übergewichtet.
Genau. Wir glauben, dass die Erholung der europäischen Wirtschaft breit abgestützt ist. Wir glauben auch, dass die anstehenden Restrukturierungen richtig angepackt werden. Auch die Regierungen zeigen sich wirtschaftsfreundlicher. Ich denke da an die deutsche Steuerreform. Und in der New Economy gibt es viele Anzeichen dafür, dass Europa die Lücke zu den USA langsam schliessen kann. Es gibt viele Gründe, die für Europa sprechen. Die Unternehmensgewinne wachsen stärker als in den USA, die Bewertungen der Aktien sind tiefer, die Währung ist schwach, die Erholung ist erst in einem frühen Stadium, die Leistungsbilanz ist gesünder, und der Finanzsektor ist in besserer Verfassung.

Was könnte denn dieses für Europa wunderbare Szenario überhaupt durchkreuzen?
Sollte die Euro-Abwertung ausser Kontrolle geraten, wäre das ein schlechtes Zeichen. Und wenn die US-Notenbank die Zinsen früher senken sollte als die Europäer, wäre bei Engagements in Europa Vorsicht angebracht.

Wie sollten sich die Investoren angesichts erheblicher Unsicherheiten positionieren?
Wenn der US-Wirtschaft die sanfte Landung gelingt und das Wachstum bei wenig Inflation zurückgeht, sollten sich die Anleger in den defensiven Wachstumsaktien positionieren, die dank vorhersehbaren Gewinnen Qualität garantieren. Solche Aktien sind etwa Pharmatitel oder auch Versicherer. Die meisten Fondsmanager sind laut unseren Umfragen bereits in diesem Bereich positioniert. Das ist auch für den Schweizer Markt mit den vielen eher defensiven Titeln ein tolles Umfeld. Allerdings darf es angesichts der mittlerweile doch stolzen Bewertung solcher Aktien jetzt keine Enttäuschungen geben. Sollten die Notenbanken die Zinsen senken, wären wir zyklischen Wachstumsaktien wieder eher zugeneigt.

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