Gut, dass Generalversammlungen nicht nach dem Motto «One man, one vote» funktionieren. Gut jedenfalls für Rolf Hüppi: Am 17. Mai rettete ihn nur die geballte Macht der Depotstimmen vor einer höchst peinlichen Dechargeverweigerung. Denn die Mehrzahl der Kleinaktionäre, die das Wort ergriffen, deckte den sieggewohnten Gentleman mit unverblümter Kritik ein. Frontalangriff eines Votanten: «Das Problem sind Sie selbst!» Am Ende stand Hüppi da wie ein gerupfter Pfau.

Hinter den Kulissen geht die Auseinandersetzung weiter. Und zwar in jenem Gremium, vor dem sich Konzernchef Hüppi verantworten muss: dem Verwaltungsrat der «Zürich»-Gruppe. Angestossen worden war sie genau einen Monat vor der GV. Am 17. und 18. April, Dienstag und Mittwoch nach Ostern, hatte sich der Verwaltungsrat der Zurich Financial Services (ZFS) zu einer Marathonsitzung von eineinhalb Tagen getroffen – hinter verschlossenen Türen.

Danach tat der Verwaltungsrat, was die meisten Beobachter angesichts der bisher ungetrübten Autorität Hüppis nicht für möglich gehalten hatten: Er signalisierte Hüppi, dieser möge doch bitte eine Lösung ausarbeiten, wie man das Problem der Doppelfunktion zügig angehen und die «checks and balances», die Führungsaufteilung und die Machtkontrolle an der Konzernspitze, verbessern könne. Hüppi ist Präsident und CEO in Personalunion und kontrolliert sich so quasi selber.

«Wir haben die Sache mit Herrn Hüppi direkt besprochen», sagt ein Verwaltungsrat, «man wird transitorische Massnahmen einleiten.» Zwei Verwaltungsräte der Zurich Financial Services bestätigen unabhängig voneinander, dass Hüppi vom Gremium darauf hingewiesen wurde, einen Nachfolger im operativen Bereich zu suchen. Wer dieser operative Chef sein soll, wird Hüppi selber überlassen: «Wir haben einen klaren Hinweis gegeben – und Hüppi muss jetzt mit Namen zurückkommen» sagt ein ZFS-Verwaltungsrat.

Dass möglicherweise Bewegung in die Frage der Doppelfunktion kommen könnte, hat Hüppi an der Generalversammlung erstmals auch selber signalisiert. «Die Frage des Doppelmandats ist weder für den Verwaltungsrat noch für mich persönlich ein Dogma», sagte Hüppi in seinem Eröffnungsreferat. Derzeit sei jedoch keinerlei Änderung geplant. Man werde sich sorgfältig überlegen, wann der richtige Zeitpunkt dafür sei.

Der Verwaltungsrat erwägt, die Ablösung Hüppis schrittweise vorzunehmen, und zwar über die Einführung des neuen Postens eines Chief Operating Officer (COO), eines operativen Chefs. Hüppi würde bei einer solchen Lösung zunächst sowohl das Präsidium als auch die Funktion als CEO behalten. Eine ähnliche Lösung hatte 1996 die Swissair gewählt, als sie Philippe Bruggisser zum Chief Operating Officer machte, Konzernchef Otto Loepfe aber noch ein Jahr lang als CEO fungierte.

Ob sich dieser Vorschlag bei der «Zürich»-Gruppe durchsetzen wird, ist fraglich. Typischerweise führt ein COO in einem Konzern das Tagesgeschäft. Nur gibt es so etwas bei der «Zürich» praktisch nicht. Die Zurich Financial Services ist ein Konglomerat von Einzelteilen, die von starken Bereichsleitern geführt werden wie etwa von Martin Feinstein, Chef der US-Versicherungstochter Farmers, oder Sandy Leitch, Chef des Grossbritannien-Geschäfts.

Der COO wäre nur eine – im Grunde unnötige – Führungsstufe mehr. In der Übergangsphase unter dem immer noch allgegenwärtigen Hüppi würde der COO riskieren, verheizt zu werden. Dass der VR die Lösung eines COO diskutiert, zeigt, dass immer noch Berührungsängste bezüglich Hüppi vorhanden sind. Auch «Zürich»-Verwaltungsrat Dana Mead, von der «SonntagsZeitung» kürzlich zu Veränderungen im Management befragt, beeilte sich zu betonen, eine Verstärkung der Führung sei «in der Hierarchie unter Hüppi angesiedelt, nicht über ihm».

Ob eine zaghafte Lösung zum erklärten Ziel führt, die wichtigen angelsächsischen Investoren zu beeindrucken, ist fraglich. Diese Investoren hatten zuletzt gleich massenhaft das Weite gesucht, als Hüppi wiederholt Gewinnversprechungen nicht halten konnte und mit unglaubwürdiger Kommunikation für den Kurssturz der ZFS-Aktie sorgte.

Ein starkes Management hat die «Zürich»-Gruppe aber dringend nötig. Denn der Kampf auf dem internationalen Parkett wird immer härter. Bei allen drei Hauptkonkurrenten – der deutschen Allianz, der französischen Axa und der italienischen Generali – sind derzeit Veränderungen im Gang, die zu neuer Dynamik und zu einer Neuauflage des Gerangels zwischen den vier Erzrivalen führen dürften.

Da ist zum einen die Allianz unter dem zielgerichteten Macher Henning Schulte-Noelle, die gerade erst durch den Kauf der Dresdner Bank zum Allfinanzgiganten geworden ist und nur einen Tag vor der Generalversammlung der «Zürich» ankündigte, die Berner Versicherung vollständig übernehmen zu wollen. Der deutsche Riese stellt damit einmal mehr seinen Anspruch auf den Schweizer Markt klar.

Dann ist da die italienische Generali, wo erst vor vier Wochen der neue Präsident Gianfranco Gutty eine harte und umstrittene Kampfwahl gegen seinen Vorgänger gewonnen hat und nun seinen Aktionären wohl schon bald mit einem unzimperlichen Wachstumskurs beweisen will, dass es richtig war, auf ihn zu setzen.

Und dann ist da die französische Axa unter dem neuen Chef Henri de Castries, einem Adligen und Nachfahren des Admirals von Ludwig XVI., der nach dem Verkauf der Investmentbank Donaldson, Lufkin & Jenrette an die Credit Suisse erstmals seit langem wieder Geld in der Kriegkasse hat.

Der Konsolidierungsprozess in der Versicherungswelt hat erst begonnen. Noch immer ist der Markt sehr aufgesplittert, viele Player buhlen um die Kunden, doch keiner ist wirklich beherrschend. So hat die Axa, der nach Prämieneinnahmen weltweit grösste Versicherer, einen Weltmarktanteil von gerade mal zwei Prozent. In anderen Industriezweigen, etwa der Autoindustrie, sind ein paar wenige Unternehmenskonglomerate weltweit beherrschend. Experten erwarten für die kommenden Jahre auch in der Versicherungsbranche einen Konzentrationsprozess. «Wie in den meisten Branchen wird es vielleicht fünf oder zehn weltweite Player geben», prophezeit Axa-Chef de Castries: Durch die Branche dürfte eine regelrechte Übernahme- und Merger-Welle gehen, und nur die Stärksten werden da nicht unter die Räder kommen.

Ob die Zurich Financial Services dabei sein wird, ist fraglich. Zuletzt jedenfalls wurde die Gruppe weniger als aggressiver Käufer denn als geschwächter Übernahmekandidat gehandelt. Der Kurssturz hat die ZFS zu einem Schnäppchen gemacht. Sie gilt beim heutigen Kurs als unterbewertet. Die Gruppe hat eine starke Substanz, verkörpert vor allem durch die gut funktionierenden Geschäftseinheiten. Doch die ZFS ist ein Flickenteppich geblieben – die Einzelteile werden von der Konzernzentrale unter Hüppi nicht zu einem wertvolleren Ganzen verschmolzen. Im Gegenteil: Weil die Investoren Hüppi nicht trauen, wird das Ganze sogar mit einem Discount gehandelt.

So gab es sowohl in Zürich als auch in Paris Gerüchte, die Axa plane eine Übernahme der Zurich Financial Services. (BILANZ 4/2001). Axa-Finanzchef Gérard de la Martinière verneint gegenüber der BILANZ nun aber klar ein Interesse an der ZFS: «Es gibt im Moment keine solchen Pläne.» Der Grund, den der Axa-Finanzchef dafür angibt: «Axa und ZFS ergänzen sich nicht optimal.» Es gebe zwar Teile der «Zürich», die stark seien wie Farmers oder das Schweiz-Geschäft, andere aber würden die Axa nicht gut ergänzen.

Schwachstellen hat die «Zürich» in der Tat, etwa das Asset-Management, im Besonderen die US-Tochter Scudder, von Hüppi 1997 einverleibt: Scudder laufen die Kunden gleich massenhaft davon. In unabhängigen Branchenvergleichen hat Scudder in den letzten Jahren meist die hintersten Plätze belegt. Jetzt wurde die US-Bank Morgan Stanley damit beauftragt, Lösungen auszuarbeiten. Vermutet wird das Zusammengehen mit einem Partner oder ein (Teil-)Verkauf, was allerdings von der «Zürich» dementiert wird. Für Hüppi sind die Probleme schmerzlich, denn die Zukäufe von Scudder und andern Firmen im Asset-Management hat er schliesslich immer als besonderen strategischen Wurf verkauft.

Wenig attraktiv erscheint die ZFS auch in den Augen der Credit Suisse. Diese hat, so bestätigt ein Mitglied der Konzernführung des schweizerischen Bankgiganten, genau angeschaut, ob die ZFS für die CS interessant wäre. «Intransparent, langfristige Risikoabwägung schwer einzuschätzen», lautet das Urteil des CS-Topmanagers über Hüppis Firmenkonglomerat. Vor allem die so genannten alternativen Investments, die Beteiligung an Technologie- und Internetfirmen, die der jetzige Scudder-Chef und enge Hüppi-Vertraute Steven Gluckstern eingegangen ist, seien nur schwer abschätzbar. Verluste Hunderter von Millionen, wie von der Zeitung «Cash» in diesem Bereich vermutet, hat die ZFS allerdings klar dementiert.

Andere Investoren scheinen bei der ZFS mehr die Chancen denn die Risiken zu sehen. Seit längerem wird vermutet, BZ-Banker Martin Ebner kaufe mit einem Teil der 4,8 Milliarden, die er für den Verkauf des Roche-Pakets an Novartis gelöst hat, «Zürich»-Aktien.

Hintergrund seines erneuten Interesses – die BK Vision war schon einmal, von 1991 bis 1997, an der «Zürich» beteiligt – könnte das Paket der ZFS an der Bâloise sein. Die ZFS hält 30 Prozent an Aktien und Optionen der Basler Versicherung. Da Ebner selber 14 Prozent an der Bâloise hält, würde er mit dem Kauf der ZFS gleich zwei Firmen auf einen Schlag beherrschen: die «Zürich» und die Bâloise. «No comment», heisst es dazu bei der BZ Bank.

Offiziell bestätigt ist indes der Auftritt eines anderen Grossaktionärs: der Deutschen Bank. Laut Geschäftsbericht der «Zürich» hat die Deutsche Bank erstmals die eintragungspflichtige Limite von fünf Prozent überschritten. Ein einzelner Aktionär, der mindestens fünf Prozent hat, ist neu für die «Zürich», die bisher ein sehr zersplittertes Aktionariat aufwies. Dies war wohl mit ein Grund für die lange Zeit unantastbare Autorität Hüppis. Wo ein Grossaktionär fehlt, der als aktiver Investor dem Management auf die Finger klopfen kann, hat die Firmenführung oft einen Freipass.

Der designierte Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, der Schweizer Joe Ackermann, ist mit der hiesigen Finanzszene gut vertraut. Als ehemaliger Chef der Schweizerischen Kreditanstalt kennt er Hüppi auch persönlich. Seit die beiden Firmenchefs diesen Winter im Zürcher «Club Baur au Lac» beim Dinner gesichtet wurden, kursieren Gerüchte, die Deutsche Bank wolle die «Zürich» übernehmen, um die beiden Teile zum Allfinanzkonzern zusammenzuschweissen. Der weiteren Verbreitung dieses Gerüchts war es dienlich, als der Chef der Deutschen Bank, Rolf Breuer, vor zwei Wochen in der «Welt am Sonntag» die Schweiz als eines der Länder nannte, in denen man Partnerschaften suche.

Doch laut Insidern aus der Führungsriege der Deutschen Bank geht es dabei eher um den Ausbau des Retailnetzes in der Schweiz, und da hat die «Zürich»-Gruppe wenig zu bieten. So scheint es für die Deutsche Bank derzeit nicht im Vordergrund zu stehen, das ZFS-Paket zu einer strategischen Beteiligung auszubauen. Doch den Fuss haben die Deutschen so auf jeden Fall schon mal in der Türe.

Auffallend bei all diesen Manövern ist, dass die ZFS dabei als recht hilfloser Spielball in den Händen in- oder ausländischer Akteure wirkt. Die «Zürich», die in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre durch den raschen Kauf mehrerer Firmen zu einem der Taktgeber der Industrie geworden ist, scheint jetzt zur Manövriermasse verkommen zu sein.

Wer Hüppi kennt, weiss, wie ihn dies stören muss. In seinem Umfeld wird denn auch vermutet, er suche nach einer Möglichkeit, selber wieder die Zügel in die Hand zu nehmen und seinerseits auf Akquisitionskurs zu gehen. Ein solcher Befreiungsschlag hatte etwa den lange kritisierten UBS-Chef Marcel Ospel nach dem Kauf von PaineWebber mit einem Schlag wieder zum Vorzeigemanager gemacht.

Doch der Spielraum von Hüppi ist schlechter als derjenige seiner Konkurrenten. Die Allianz etwa hat Überschusskapital in Milliardenhöhe, vor allem bestehend aus Industriebeteiligungen. Dieses «excess capital» soll, so Vorstandsmitglied Helmut Perlet, «in den nächsten Jahren» investiert werden. Wofür, ist klar: «Ausbau des Kerngeschafts.» Bei vielen möglichen Akquisitionen auf dem Markt dürfte die kapitalstärkere Allianz gute Preise bieten können und so meist die Nase vorn haben. «Wir haben die finanzielle Stärke, Chancen im Markt wahrzunehmen», so Perlet. Die Generali – einer der grössten Immobilienbesitzer Italiens – hat ebenfalls ein gutes Polster. Die «Zürich» aber hat, ausser dem Bâloise-Paket im Wert von rund drei Milliarden, nur wenig in der Hinterhand.

Wie schlecht die ZFS im Vergleich mit den Konkurrenten derzeit dasteht, zeigt der Vergleich der Aktienkurse. Zwar sind in der gesamten Branche seit Anfang Jahr die Kurse gesunken, doch im Durchschnitt nur halb so tief wie bei der «Zürich». Während die Axa, die Allianz und die Generali den jeweiligen Aktienindex ihres Landes übertreffen, liegt die Zurich Financial Services darunter. Auch der Return on Equity ist im Vergleich am schlechtesten (siehe Grafiken auf Seite 45).

Von allen vier Unternehmen scheint die «Zürich»-Gruppe derzeit strategisch am schlechtesten positioniert. So sind die Schweizer nur in drei Märkten wirklich stark: in der Schweiz, in Grossbritannien und in den USA. Praktisch nicht vertreten sind sie aber in den Wachstumsmärkten, etwa in Italien oder Spanien. Schwach ist die ZFS auch in Deutschland, wo mit der Rentenreform eine wahre Kundengeldschwemme auf die Finanzhäuser zukommt. Eine Axa oder eine Allianz sind geografisch viel besser abgestützt, ihr Management gilt zudem als sehr stark.

Was sich bei der «Zürich» ebenfalls verschlechtert hat, sind die Reserven. So musste sie im Rückversicherungsbereich ausserordentliche Rückstellungen von 300 Millionen Dollar bilden, weil die Töpfe leer waren. Dies war einer der Hauptgründe für die überraschende Gewinnwarnung vom Februar. Zwar betont Hüppi, dass die Reservenposition der Zurich Financial Services immer noch gut sei und dass wegen der neuen Rechnungslegung die Flexibilität, Reserven zwischen den Bereichen zu verschieben, abgenommen habe. Aber das einst vorbildliche und überdurchschnittlich dicke Reservenpolster ist in den letzten Jahren erheblich dünner geworden.

Für den «Zürich»-Chef bedeutet das vor allem weniger Spielraum. Können die Konkurrenten in einem schlechteren Jahr Reserven und unrealisierte Gewinne auflösen und so das Ergebnis aufbessern, hat Hüppi hier nur noch wenig Möglichkeiten. Damit ist er sehr stark von der Börsenentwicklung abhängig. Nur wenn bei günstigen Aktienmärkten das Finanzergebnis für gute Erträge sorgt, kann Hüppi zeigen, dass er den Konzern wieder auf Gewinnwachstumskurs gebracht hat.

Seine Tage als Konzernchef sind aber – Börsenstimmung hin oder her – gezählt. Bei gutem Geschäftsgang dürfte Hüppi dies wohl als Comeback auslegen und die Chance nützen, sich ohne Gesichtsverlust auf den Präsidentenstuhl zurückzuziehen. Bei schlech- ter Marktentwicklung würden weder Aktionäre noch Verwaltungsräte länger zuschauen, und die Abgabe des CEO-Jobs dürfte nicht genügen. Dann würde die «Zürich» wohl einen Schlussstrich unter die Ära Hüppi machen und auch einen neuen Präsidenten wählen.
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