Was fällt auf bei den Ergebnissen des Raiffeisen Vorsorgebarometers 2022?

Tashi Gumbatshang: Aufgrund der anhaltenden Diskussionen um eine Reform der AHV überrascht vor allem das immer noch sehr hohe Vertrauen der Befragten in die Schweizer Altersvorsorge. 
 

Ist dieses Vertrauen in die AHV unbegründet?

Tatsache ist: Angesichts der demografischen Entwicklung steht die AHV ohne Veränderungen auf tönernen Füssen, was die finanzielle Ausstattung für die Zukunft angeht. Daher stimmt die Bevölkerung im Herbst auch über notwendige Reformschritte ab. Ich bin davon ausgegangen, dass das Wissen um die AHV-Reform aktuell mehr in den Köpfen der Menschen präsent ist und eventuell für Zweifel sorgt. Daher habe ich nicht mit einer so positiven Einstellung gegenüber der 1. Säule gerechnet.

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«Eine Mehrheit befürwortet, Gewinne der Nationalbank einzusetzen, um Löcher in der AHV-Finanzierung zu stopfen.»
 

Was denken die Befragten, wo künftig das Geld herkommen soll für die Finanzierung der AHV?

Das war ebenfalls überraschend in der diesjährigen Umfrage: 57,2 Prozent der Schweizer Bevölkerung im erwerbstätigen Alter haben sich dafür ausgesprochen, Gewinne der Nationalbank einzusetzen, um mögliche Löcher in der AHV-Finanzierung zu stopfen. Diese deutliche Mehrheit hat mich etwas erschüttert, ehrlich gesagt. Bisher dachte ich, es sei nur eine Minderheit, die diese Ansicht vertritt. Neben dem Argument, wonach die Notenbank möglichst unabhängig bleiben sollte, zeigt der aktuelle Rekordverlust der SNB deutlich auf, dass dies keine nachhaltige Lösung darstellen würde.

Was steckt hinter solchen Äusserungen?

Ich nehme hier eine Haltung wahr, dass man die AHV-Finanzierung möglichst weit weg von sich selbst sicherstellen möchte. Am liebsten soll sich der Staat kümmern.

Könnten auch Themen wie Gerechtigkeit oder Fairness eine Rolle spielen? 

Das spielt sicherlich stark mit hinein. Das Thema Gerechtigkeit ist gerade in der Schweiz immer ein latentes Thema bei der Altersvorsorge. 

«Das Vorsorgewissen verharrt auf einem sehr tiefen Niveau.»

 

Was bereitet Ihnen Kopfzerbrechen bei den Ergebnissen?

Vor fünf Jahren entstand das erste Vorsorgebarometer. Das Vorsorgewissen verharrt seither auf einem sehr tiefen Niveau. Das ist für mich Anlass zur Sorge, weil ein geringes Wissen ja verschiedenste negative Auswirkungen entfalten kann.

Bei welcher Bevölkerungsgruppe ist das Vorsorgewissen besonders gering?

Das geht von Menschen, die sich kaum oder gar nicht um ihre eigene Vorsorge kümmern, auch nicht an politischen Abstimmungen zur AHV-Reform teilnehmen, bis hin zu Personen, die anfällig sind für unseriöse Angebote oder eben ungünstige Vorsorgelösungen

Gibt es auch beim Alter Unterschiede?

Tendenziell zeigt sich: Je älter die Menschen sind, desto höher schätzen sie ihr Vorsorgewissen ein und desto aktiver setzen sie sich mit den Möglichkeiten der Vorsorge auseinander, wahrscheinlich weil die Rente näher rückt. Mit 20 oder 30 Jahren ist Vorsorge eher ein abstraktes Thema, das noch weit weg ist. Also unterschätzt man gerne, wie wichtig Vorsorge ist.

Gibt es weitere Auffälligkeiten?

Ja, wir stellen Unterschiede zwischen den Geschlechtern fest. Frauen schätzen ihr Finanz- und Vorsorgewissen bisher immer tiefer ein als Männer. Interessant ist, dass diese Selbsteinschätzung zum Finanz- und Vorsorgewissen eine subjektive Frage ist. Also lässt sich aus den Antworten nach meiner Einschätzung nicht unbedingt schliessen, wie der Wissensstand tatsächlich ist. Möglicherweise trauen sich Männer an diesem Punkt einfach mehr zu als Frauen.

Was könnten Gründe für das Nichtwissen oder Desinteresse an Vorsorgethemen sein? 

Wir nehmen an, dahinter stecken unterschiedliche Motivationen. Zum einen hat das Thema Rente und Vorsorge mit der Lebensphase nach dem Berufsleben zu tun und wird auch mit Älterwerden und Tod assoziiert. Das blenden viele gerne aus. 

Darüber hinaus ist die ganze Schweizer Vorsorgelandschaft mit den drei Säulen und den vielen Möglichkeiten, sein Geld anzulegen, doch recht komplex. Manche Finanz- und Versicherungsberater giessen hier noch Öl ins Feuer, indem sie mit Fachbegriffen um sich werfen und die Komplexität für ihre Kundinnen und Kunden nicht anschaulich genug vereinfachen. Die Kunden sind dann weniger beeindruckt als verwirrt bis eingeschüchtert und machen dicht.

Ist Vorsorgewissen nicht Teil der Allgemeinbildung, die schon in der Jugend vermittelt werden sollte?

Eigentlich schon. Doch ein fundiertes und praktisches Grundlagenwissen zu Vorsorgethemen fehlt in breiten Kreisen der Bevölkerung oder stagniert auf tiefem Niveau. Es wird auch nicht an den Schulen gelehrt oder findet dort nur sehr wenig Eingang.

Ist Altersvorsorge in der Wahrnehmung vieler Menschen stark assoziiert mit dem Verkauf von Versicherungsprodukten?

Sicherlich macht die Wahl von verschiedenen Anlagemöglichkeiten von Fondsparen über Lebensversicherung, Aktienanlage oder Investition in Immobilien das Thema Vorsorge durchaus kompliziert. Wichtig ist daher eine gute, individuelle Beratung.

«Immer weniger Menschen wollen eine Pensionskassen-Rente beziehen.»

 

Spüren Sie zuweilen auch Frust bei jüngeren Menschen, die am Sinn einer Altersvorsorge zweifeln?

Das kann man so nicht direkt aus der Studie herauslesen. Wichtig finde ich allerdings den Trend zu Kapitalbezug oder für die Mischform Kapitalbezug und Rente bei den Pensionskassen. Immer weniger Menschen wollen also eine Rente beziehen. Möglicherweise vertrauen sie ihrer Pensionskasse nicht, dass diese die Rente sicher für den Rest des Lebens bezahlen kann. 

Auch die ständige Diskussion um die Senkung des Umwandlungssatzes kann eine reflexartige Reaktion fördern, nach dem Motto: Ich nehme das Geld heraus, dann ist es in trockenen Tüchern und erst einmal sicher.

Wie sieht es bei Kapitalbezug steuerlich aus?

Dafür fällt einmalig eine Sondersteuer an, bei der man heute nicht so schlecht wegkommt. Die Rentenauszahlung hingegen muss man wie ein monatliches Einkommen versteuern; das bleibt ein Leben lang.

Erleben Sie auch Neurentner, die sagen: Jetzt habe ich mir das Geld auszahlen lassen und möchte es noch gewinnbringend anlegen?

Ja, das gibt es immer mehr. Allerdings ist der Respekt vor dem damit verbundenen Risiko gross. Aktienanlagen zum Beispiel können sicherlich gute Rendite bringen; erforderlich ist aber meist ein langer Atem über viele Jahre. Mehr Risiko bei Geldanlagen gehen im Normalfall die Jüngeren ein, während Ältere mehr auf Sicherheit setzen sollten.

«An Aktien führt bei der Altersvorsorge kein Weg vorbei.»

 

Wie sollen junge Menschen heute ihr Geld anlegen, wenn sie anfangen zu sparen?

Für junge Leute ist die Antwort im Grunde sehr einfach. Bei einem sehr langen Anlagehorizont empfehlen wir, diversifiziert mit Aktien ein Vermögen aufzubauen und das möglichst verbunden mit einer festen automatischen Ratenzahlung pro Monat. 

An Aktien führt bei der Altersvorsorge kein Weg vorbei. Das kann ein klassischer Fonds-Sparplan mit einem aktiven Mischfonds sein oder ein nachhaltiger Indexfonds. 

Attraktiv sind für jüngere Menschen zudem die heutigen digitalen Möglichkeiten, etwa über eine App, die eigene Geldanlage nach persönlichen Prioritäten zu gewichten. Also zum Beispiel einen Fokus auf alternative Energien, Recycling, Biodiversität oder nachhaltige Wasserwirtschaft zu setzen.

Haben junge Menschen denn heute überhaupt genug Geld zur Verfügung, um jeden Monat etwas zurückzulegen für die Altersvorsorge?

Wir erleben in unserer täglichen Praxis als Vermögens- und Anlageberater Kundinnen und Kunden mit sehr unterschiedlichen Biografien. Auf der einen Seite sind nicht wenige, auch junge Menschen, verschuldet. Sie schaffen es nicht, einen Sparfranken in die dritte Säule einzuzahlen. Und viele glauben, dass kleine Sparbeträge nichts bringen. Dabei unterschätzen sie den Zeit- und Zinseszinseffekt. Auf der anderen Seite gibt es auch junge Menschen mit beträchtlichen Vermögen. Ihre Herausforderung ist es eher, wie sie ihr Geld möglichst so anlegen, dass es gute Erträge bringt.  

Was wünschen sich Kundinnen und Kunden heute im Bereich Vorsorge?

Convenience ist hier das entscheidende Stichwort. Ein wichtiger Wunsch von Kundinnen und Kunden ist ein gewisser Komfort. Altersvorsorge ist für viele eine Art notwendige Pflicht. Daher möchte man das Ganze komfortabel, einfach, individuell begleitet und schnell erledigt haben. Und Fragen sollen möglichst rasch und einfach beantwortet werden.

Die Lebenssituationen der Menschen sind heute sehr unterschiedlich. Müsste daher nicht auch die Altersvorsorge individueller werden?
Das ist so. Wir beobachten bereits einen Trend zu Teilpensionierungen, der in einen zunehmend flexiblen Rentenbeginn mündet. Zum Beispiel mit 60 die Führungsaufgabe abgeben und als Experte weiterarbeiten, mit 63 Teilzeit vereinbaren und erst mit 67 ganz aufhören mit dem Beruf.

«In der AHV gibt es noch viel Potenzial zu mehr Flexibilisierung.»

 

Die regulatorischen Vorgaben sehen aber bisher weitgehend eine Pensionsplanung nach einem relativ festgefügten Schema vor. Hier gibt es noch viel Potenzial zu mehr Flexibilisierung – zum Beispiel mehr Möglichkeiten zur Nachzahlung in die AHV.

Und von Seiten der Vorsorgeberatung? Braucht es mehr spezifische Produkte, angepasst an die jeweilige Arbeitssituation?

Ich sehe nicht spezielle Produkte, die es künftig braucht, sondern die Beratung muss mithalten können mit der zunehmenden Flexibilisierung und mögliche Optionen für die vielen Arbeits- und Lebensmöglichkeiten abbilden können. Das erfordert eine komplexe Beratungsleistung und spezifisches Wissen. Auch hier sehen wir noch Potenzial.

«Viele Menschen bevorzugen eine persönliche Ansprechperson in der Beratung zur Altersvorsorge.»

 

Werden die vielen digitalen Möglichkeiten bereits genutzt, um sich zu informieren über Altersvorsorge und auch Verträge abzuschliessen?

Wir erleben, dass viele Menschen bei der Altersvorsorge weiterhin eine persönliche, physische Ansprechperson bevorzugen, die sie berät. Sie informieren sich zwar im Internet über Angebote, aber um verschiedene Anlagemöglichkeiten zu vergleichen, muss man sich tiefer einarbeiten und stösst dabei auf Fragen. Diese sollten möglichst unmittelbar von einer vertrauenswürdigen Fachperson per Telefon, Chat oder persönlich beantwortet werden. 

Was bringt in diesem Fall eine Omnichannel-Strategie?

Kundinnen und Kunden auf dem für sie passenden Kanal anzusprechen, ist bei Raiffeisen schon jetzt und in Zukunft noch stärker Teil der Beratungspraxis. Wir bauen die technischen Systeme so, dass der Wechsel zwischen unterschiedlichen Kanälen der Kundenkommunikation reibungslos und quasi unbemerkt verläuft. Zum Beispiel, indem Erkenntnisse aus dem persönlichen Gespräch gespeichert werden und die Kundinnen und Kunden dann zuhause wieder nahtlos per Computer da weitermachen, wo das Gespräch beendet wurde. Das ist der hybride Ansatz, den wir technisch anstreben. Das ist für uns die Zukunft.

Wie gross ist die Herausforderung, so etwas technisch umzusetzen?

Auf jeden Fall ist es kein Kinderspiel. Es stellen sich tatsächlich viele Fragen, wie man verschiedene Kanäle steuert, koordiniert und mit Informationen bestückt, so dass sie von Kundinnen und Kunden als Mehrwert wahrgenommen werden und das Ganze transparent und einfach zu benutzen ist.

Ist Omnichannel nicht auch eine Kostenfrage? Auf allen Kanälen gleichzeitig kommunizieren muss man sich leisten können ...

In diesem Punkt ist die genossenschaftlich organisierte Raiffeisen Gruppe ein spezieller Fall. Zu unserem Markenkern gehört die physische Nähe mit über 800 Geschäftsstellen in der Schweiz. Diese physische Kundennähe bleibt und wir sind nicht irgendwann nur noch digital verfügbar. 

Omnichannel und digitale Möglichkeiten sind auch nützlich, um die Beraterinnen und Berater vor Ort zu entlasten, damit sie mehr Zeit für die Kundinnen und Kunden haben. 

Wie können digitale Tools helfen, mehr Wissen zu teilen und Vorsorgewissen attraktiver zu präsentieren?

Unsere Expertinnen und Experten im «User Experience»-Bereich forschen und arbeiten intensiv mit den Fachabteilungen und konnten mittlerweile schon viel Erfahrungen sammeln. Zum Beispiel, wie die Bedienungsführung in einem Online-Angebot aufgebaut sein muss, damit die Menschen dranbleiben. 

Wie geht das genau?

Ein einfaches Beispiel ist, in einzelnen Bedienungsschritten «Educational Elements» einzubauen mittels Fragezeichen, die erscheinen, sobald ein bestimmter Knopf gedrückt wird. Geht man auf das Fragezeichen, erscheint eine kurze Erklärung. Oder es taucht ein Avatar auf, der gezielt die Möglichkeit bietet, Fragen zu stellen oder einen Chat zu beginnen.

«Beim Sparen gilt: Je früher, desto besser.»

 

Wie früh sollten Jugendliche an das Thema Vorsorgesparen herangeführt werden?

Beim Sparen gilt: Je früher, desto besser. Wer eher beginnt, hat umso mehr Freiheiten im späteren Leben. Raiffeisen Schweiz hat ein Digitalmagazin entwickelt, das in einfacher Sprache Wissen vermittelt und Einblicke gibt in die Vorsorgewelt – so, dass es Spass macht, sich mit Finanzthemen zu beschäftigen. Ein Beispiel ist unsere «Do it yourself»-Anleitung für Altersvorsorge; es ist nicht komplizierter, als Tomaten auf dem Balkon selbst zu ziehen.

Ausserdem arbeiten wir mit der Lernplattform Evulpo zusammen, die kostenlos digitale Hilfe bei wichtigen Schulthemen gibt. Schulen können die Plattform zum Beispiel nutzen, um mit Schülerinnen und Schüler ein Budget für das eigene Taschengeld auszurechnen. 
 


 

Dieser Text ist erstmals erschienen im Vorsorge Guide 2022/2023.

Die komplette Ausgabe des Vorsorge Guides 2022/2023 können Sie hier bestellen: https://shop.handelszeitung.ch/vorsorge-guide-2022-2023

Vorsorge Guide 2022/2023

Der «Vorsorge-Guide» untersucht aktuelle Trends mit Blick auf die Digitalisierung, gibt Tipps zum sinnvollen Sparen für das Alter und zeigt auf, weshalb die junge Generation anders für die Rente plant.

Infos zum Produkt

Mit dem Vorsorge Guide 2022/2023 bieten wir umfangreiche Hintergrundinformationen zur Vorsorgelandschaft Schweiz. Wir sprechen mit Experten über den Zustand der beruflichen Vorsorge, zeigen kommende Herausforderungen und Zukunftsperspektiven der Pensionskassen auf, geben Tipps für den lebenslangen Sparprozess in der privaten Vorsorge und bieten Einblick in hybride Beratungsmodelle der Zukunft.

Hier der Link zum Vorsorge Guide 2022/2023