Rund fünfzig Insurtechs, also voll digital aufgestellte Unternehmen mit Kernbereich Versicherungen, gibt es in der Schweiz. Zu diesem Ergebnis kommt eine Vollerhebung des Insurtech-Radars vom Beratungsunternehmen Oliver Wyman und dem Insurtech-Experten Nikolai Dördrechter. Der Gründerboom Mitte des letzten Jahrzehnts ist allerdings abgeflacht. Das Digitalbusiness hat auch im Versicherungsbereich gewisse Grenzen erreicht.

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«Die Spreu trennt sich vom Weizen. Während sich manche Insurtechs zu erfolgreichen Scale-ups hocharbeiten, wächst auch unsere Zombie-Liste», wie Nikolai Dördrechter, Co-Autor der Studie, feststellt.

Im Vergleich zu unseren Nachbarn Deutschland (2021: 149 Insurtech-Startups) und Österreich (16) hat die Schweiz allerdings ein hohes Niveau erreicht und im letzten Jahr auch wieder zugelegt: Bezüglich der Kennzahl «Insurtechs pro Million Einwohner» liegt die Schweiz deutlich vorn, «was ihren Status als wichtiger Versicherungs- und Rückversicherungsmarkt auch im Insurtech-Bereich untermauert», so Dietmar Kottmann, Partner im Versicherungsbereich von Oliver Wyman und Co-Autor der Studie.

Neocarrier dominieren die Szene

Am meisten verbreitet sind sogenannte Neocarrier, also Insurtechs, die klassische Versicherungsprodukte digital neu interpretieren. Sie dienen primär als zusätzlicher Vertriebskanal und sollen eine jüngere, digitalaffine Kundschaft ansprechen, die mit dem bisherigen System der Kundenbetreuerinnen und -betreuer eher wenig verbindet. Entsprechend hoch ist hier auch das direkte Interesse grosser Versicherungs- und Allfinanzgesellschaften.

Einige von ihnen haben sich an Neocarriern beteiligt oder sie gar vollständig übernommen. Die etablierten Mütter geben sich allerdings alle Mühe, ihre digitalen Sprösslinge an der langen Leine zu führen. Innovationskraft und Geschwindigkeit sollen keinesfalls gebremst werden. Gleichzeitig erhofft man sich digitales Know-how und Wissenstransfer.

Einigen von ihnen verleiht Oliver Wyman auch das Attribut «Scale-up». Es handelt sich dabei um Unternehmen, die bereits eine beachtliche Marktgrösse erreicht haben und auf dem Sprung zum europa- oder gar weltweit bedeutenden Player sind (in der Tabelle fett markiert). Dazu gehören in der Schweiz Dextra, Simpego, Smile Direct, Viac und Wefox. Dabei nimmt Wefox eine besondere Stellung ein. Mit der jüngsten Finanzierungsrunde gelang es Wefox, in diesem und im letzten Jahr zusammen über 1 Milliarde Franken einzusammeln.

Wefox ist mit einer geschätzten Marktkapitalisierung von über 4 Milliarden Franken das mit Abstand grösste Insurtech-«Einhorn» in der DACH-Region. In der Schweiz kommt nach Kottmanns Einschätzung lediglich noch die Swiss-Re-Tochter Iptiq auf mehr als 1 Milliarde Dollar. Ansonsten gelten nur global aufgestellte Insurtechs wie Lemonade, Shift Technologies und Tractable oder solche mit sehr grossen Heimmärkten als Unicorns. Dazu gehören namentlich Next Insurance (USA) und Zhongan (China).

Jedes zweite Insurtech für den Vertrieb

Hinzu kommen reine Vertriebsplattformen und Preisvergleicher wie Bonus.ch, die letztlich ebenfalls vor allem als Vertriebskanäle funktionieren. Und letztlich dienen auch «Enabler» wie Anivo 360 oder Vlot vorab ebenfalls der Distribution, indem sie spezielle Vertriebsmöglichkeiten eröffnen und beispielsweise im Namen der betreffenden Firmen Mitarbeitenden von Grossunternehmen speziell auf sie zugeschnittene oder besonders günstige Produkte anbieten. Das Spektrum der angebotenen digitalen Lösungen reicht von Tools zur Lead-Generierung bis zu Vergleichsrechnern und komplexen Beratungstools.

Eng definiert gehören gemäss Branchenradar 2021 zwar nur gerade 16 Prozent der Schweizer Insurtechs in die Kategorie Vertrieb – weniger als in Deutschland und Österreich. Weiter gefasst dürfte aber mehr als die Hälfte von ihnen dem Verkauf von Versicherungsprodukten dienen. Das begründet denn auch die in der Branche oft gehörte Bemerkung, Insurtechs seien nicht mehr als digitale Versicherungsbroker.

Dagegen wehrt sich allerdings Ruth Armalé, Head of Open Innovation von House of Insurtech Switzerland, einem Hub, der bei Generali in Adliswil angesiedelt ist: Der Vertrieb sei «der Kanal, an dem die Insurtech-Revolution ihren Anfang nahm». Heute seien sie zunehmend Konkurrenten zu etablierten Versicherungsunternehmen oder sie würden helfen, deren Wertschöpfungskette zu verbessern.

Tatsächlich sind Schweizer Insurtechs auch als Spezialversicherer, bei der Rundum-Betreuung oder mit Speziallösungen, etwa im Bereich Cyberversicherungen, mit eigenen Angeboten unterwegs. Da nutzen sie beispielsweise die digitalen Möglichkeiten, auf Einzelkunden zugeschnittene Produkte zu entwickeln. Rundum-Betreuer haben sich vorgenommen, ihre Kundschaft im Schadenfall nicht nur zu entschädigen, sondern auch vor drohenden Gefahren zu schützen.

Visionär: «Embedded Insurance»

Am meisten verspricht sich die Branche aber von der sogenannten Enbedded Insurance, wo die Insurtechs ihre Stärken voll ausspielen können. Es handelt sich dabei um Bündelangebote mit branchenfremden Anbietern, beispielsweise für Premium-Occasionsautos, die mit derselben Garantie wie ein Neuwagen ausgestattet werden sollen.

In die gleiche Kategorie gehören etwa Reiserücktrittsversicherungen, die am Ende eines Buchungsprozesses abgeschlossen werden können, oder eine Haftpflichtversicherung für die Kurzfristvermietungen über Airbnb. Gross in diesem Geschäft sind in der Schweiz bisher Iptiq und Toni Digital. Im Vertriebsbereich sind Schweizer Insurtechs auch als Versicherungsmanager oder Problemlöser unterwegs. Problemlöser suchen für spezifische Kundenbedürfnisse die passende Lösung.

Ein weiterer Schwerpunkt von Schweizer Insurtechs ist die Mithilfe bei der Produktgestaltung. Ihr Kernthema ist die technologiegetriebene Unterstützung bei der Risikoannahme und Preisentscheidung, basierend auf der Auswertung grosser Datenmengen. «Schweizer Insurtechs dominieren diese Kategorie und präsentieren sich damit als Innovationstreiber im Bereich Underwriting», wissen die Branchenkenner Nikolai Dördrechter und Dietmar Kottmann.

Eine hohe Dynamik in diesem Bereich sehen die Experten beim Scale-up Dacadoo, das ursprünglich als Healthtech-Firma gegründet wurde. Im Bereich Schadenabwicklung hat sich Jarowa den Ruf eines vielversprechenden Scale-ups mit hohen internationalen Wachstumschancen erarbeitet.

Engere Kooperation mit Etablierten

Insurtech-Experte Kottmann gibt den Schweizer Startups gute Chancen für die Zukunft. Womöglich aber auf Kosten ihrer Eigenständigkeit. Kottmann geht davon aus, dass der Prozess zur fixen Zusammenarbeit mit einzelnen Versicherern weitergeht und sich sogar beschleunigt. Solche Übernahmen müssen sich aber nicht zwangsläufig negativ auswirken. Im Gegenteil: Er erwartet, «dass mit fortschreitender Reife der Insurtechs die Abgrenzung zu den etablierten Versicherern an Bedeutung verliert».

Die von Insurtechs getriebene Digitalisierung werde immer mehr «in der insgesamt stattfindenden digitalen Transformation der Branche aufgehen», erwartet Kottmann.