Wie beurteilen Sie aktuell die wirtschaftliche Situation in Italien?

Salvi: Der Wirtschaft in Italien geht es etwas besser. Nach einer langen Phase der Stagnation zeichnet sich seit zwei, drei Jahren langsam eine Verbesserung ab – etwa beim BIP, beim Konsum oder der Arbeitslosenquote. Aber es bleiben immer noch tiefe strukturelle Probleme.

Zum Beispiel?

Das grösste Problem ist der Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote ist zwar gesunken, doch es gibt ein sehr starkes regionales Gefälle. Die Beschäftigungsquote in Süditalien ist bereits sehr niedrig – im Vergleich zu Norditalien und zu Europa insgesamt – und sie nimmt weiter ab. Es gibt auch ein grosses Mismatch zwischen gesuchten und angebotenen Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt, was zu einer starken Auswanderung von hochqualifizierten Jungen geführt hat. Leider spielen diese Themen im Wahlkampf keine grosse Rolle.

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Das italienische Wirtschaft ist zwar 2017 um 1,5 Prozent gewachsen – im EU-weiten Vergleich ist das aber immer noch wenig. Als Grund werden dringend notwendige Reformen genannt, die seit Jahren nicht vorankommen.

Das stimmt nicht ganz. Es gab einige Reformen in den letzten Jahren, die erfolgreich waren, wie jene der Renten, die «Legge Fornero», die das Rentenalter schrittweise erhöht hat. So ist zum Beispiel die implizite Verschuldung des Pensionssystems in Italien nun tiefer als etwa in Deutschland oder in der Schweiz.

Gleichzeitig wurden aber andere dringenden Reformen nicht angegangen – der Arbeitsmarkt ist nach wie vor extrem verkrustet. Auch die Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung und das unübersichtliche Steuersystem bleiben grosse Problempunkte. Es wurde zwar vor allem die Steuerflucht in die Schweiz effektiv bekämpft, aber ansonsten ist nicht viel passiert.

Die Parteien locken teils mit starken Steuersenkungen – allen voran die «Cinque Stelle»-Partei, die in den Meinungsumfragen mit 28 Prozent vorne liegt. Wie realistisch sind diese Versprechen?

Auch «Cinque Stelle» hat schon Abstriche in ihrem Wahlprogramm gemacht, wie zum Beispiel beim bedingungslosen Grundeinkommen, das die Partei an einige Bedingungen, zum Beispiel die Verpflichtung zur gemeinnützigen Arbeit, knüpfen will. Doch es bleibt ein populistisches und sehr teures Vorhaben. Auch wollen die «Cinque Stelle» die «Legge Fornero» rückgängig machen.

Am teuersten sind aber die Wahlversprechen von Berlusconis Partei «Forza Italia» unter anderem mit der Idee einer «Flat Tax» von 24 Prozent. Die «Università Cattolica» in Mailandhat berechnet, was die Wahlversprechen der verschiedenen Parteien kosten würden. Die vorgeschlagenen Massnahmen im Programm der Berlusconi-Partei würden 136 Milliarden Euro kosten – gegenüber rund 103 Milliarden der «Cinque Stelle»-Partei. Am wenigsten «kostet» das Programm der «PD» mit knapp 39 Milliarden Euro.

Italien hat mit rund 134 Prozent des BIPs die zweithöchste Verschuldungsquote in der EU nach Griechenland. Stellt Italiens Verschuldung ein Problem für die Eurozone dar?

Die Verschuldung ist auf einem stabilen Niveau. Mit dem Wachstum könnte das Verschuldungsniveau voraussichtlich sogar etwas sinken. Es stimmt zwar, dass die Verschuldung noch sehr hoch ist, doch auf den Finanzmärkten scheint das kein Problem mehr zu sein, denn die Spreads sind auf dem niedrigsten Niveau seit Jahren. Ich sehe keine akute Gefahr – selbst im Falle einer erneuten Rezession wäre die Verschuldung kein unmittelbar fatales Problem, wie mehrere Studien belegen.

Viele Ökonomen in Italien meinen deshalb, dass strukturelle Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im fiskalischen Bereichen auf jeden Fall Priorität vor dem Schuldenabbau haben. Das ist auch verständlich: Es wurde ja bereits viel eingespart, der Staat investiert kaum noch, was wiederum langfristig zum Problem vor allem mit Blick auf die Infrastruktur wird.

Interessanterweise möchte ja auch keine Partei mehr aus dem Euro austreten – vor einigen Jahren hatten das die «Lega Nord» und «Cinque Stelle» vorgeschlagen. Beide Parteien sind mittlerweile davon abgerückt, einfach weil die Mehrheit der Italiener keinen Euro-Austritt will.

Halten Sie die Bankenkrise ausgelöst durch faule Kredite in Milliardenhöhe für überstanden, wie die Regierung beteuert?

Der Staat wird weiterhin für marode Banken und Bankenrettungen bezahlen müssen. Und es wird sehr lange dauern, bis die faulen Kredite abgeschrieben werden können. Auch das hängt mit strukturellen Problem zusammen – etwa beim Konkursrecht, das sehr träge ist. Denn die Unternehmen, die diese Kredite erhalten haben, können nicht rasch liquidiert werden.

Aufgrund der langwierigen juristischen Verfahren, dauert es sehr lange bis die Banken eine Sicherheit bekommen. Das heisst auch dieser Bereich ist dringend reformbedürftig. Aus meiner Sicht sind die mikroökonomischen Reformen wichtiger als die grossen Pläne zur Konjunkturbelebung. Vor allem ist es auch schwieriger die entsprechenden politischen Mehrheiten zu finden.

Marco Salvi

Marco Salvi: Der Ökonom beim Thinktank Avenir Suisse hält mikroökonomische Reformen für wichtiger als die grossen Pläne zur Konjunkturbelebung.

Quelle: avenir suisse

Welche Bedeutung hat das Wahlergebnis für die Schweiz und die bilateralen Beziehungen?

Die aktuell gute Konjunktur in Norditalien wirkt sich positiv auf die Konjunktur im Tessin aus, vor allem für die Exportwirtschaft. Ausserdem reduziert sie den Druck auf den Tessiner Arbeitsmarkt, wenn es mehr Jobs in der Lombardei gibt.

Die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien sind allerdings von jeher sehr kompliziert, vor allem im Finanzbereich. Denn es wurden in den letzten zehn Jahren kaum Fortschritte gemacht und es zeichnen sich auch keine ab. Das bleibt ein Problem – und daran wird auch das Wahlergebnis am Sonntag wenig ändern. Im Bereich der Europapolitik oder der europäischen Finanzpolitik hat sich Italien weniger als Alliierter, sondern eher als schwieriger Nachbar verhalten.

So ist beispielsweise der Marktzugang für Schweizer Banken nach wie vor nicht gegeben. Auch wenn Italien in gewissen Bereichen überraschend liberal tickt, etwa im Bahnverkehr, bei den Finanzdienstleistungen ist das Land eher protektionistisch eingestellt. Für die Schweizer Banken ist das ein Problem, denn seit das Bankgeheimnis weggefallen ist, kommen kaum neue italienischen Kunden in die Schweiz. Neue Kunden auf dem italienischen Markt zu gewinnen, wäre eine wichtige Alternative für hiesige Banken.