Ende September herrschte in Stäfa am Sitz von Sonova noch Champagnerlaune. Der Hörgeräte-Hersteller heimste an den «Cannes Corporate Media & TV Awards» – den Oscars für Unternehmensfilme – diverse Silber-Medaillen ein. Firmenchef Arnd Kaldowski jubilierte: «Die Auszeichnungen in Cannes bestätigen, dass wir mit unserer Kommunikationsstrategie weltweit zu den Besten gehören. Die prämierten Filme illustrieren, wie Sonova ihre Vision verwirklicht, Menschen mit Hilfe innovativen Hörlösungen ein Leben ohne Einschränkungen zu ermöglichen.»

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Die gute Laune ist Kaldowski mittlerweile vergangen – und zwar gründlich. Denn sein Unternehmen hat diese Woche an der Börse satte 1,4 Milliarden Franken an Wert verloren. Die Aktie ist seit Montag um über elf Prozent eingebrochen. Dabei hatte Sonova doch erst gerade angekündigt, eigene Aktien in grösserem Stil zurückzukaufen, was Anleger normalerweise milde stimmt.

Was also ist passiert? Die Antwort ist in den USA zu suchen, genauer in Silver Spring im Bundesstaat Maryland. Dort, rund 20 Kilometer nördlich von Washington DC, hat die Food and Drug Safety Administration ihren Sitz. Die FDA ist die Zulassungsbehörde für Medikamente und medizinische Geräte in den USA. Am vergangenen Freitag hat die FDA ein Mitteilung veröffentlich – mit brisantem Inhalt für Sonova.

Bose greift Sonova an – von fünf Seiten

Konkret hat die FDA dem US-Unternehmen Bose – bislang bekannt für Lautsprecher, Kopfhörer und Heimkino-Anlagen – grünes Licht für die Markteinführung eines Hörgeräts erteilt. Es hört auf den Namen «Bose Hearing Aid». Und es hat das Potenzial, das Geschäftsmodell von Sonova gleich von fünf Seiten her anzugreifen.

Erstens ist jedes neue Hörgerät ein Konkurrenzprodukt für die etablierten Anbieter wie Sonova oder die dänischen Unternehmen William Demant und GN Store North. Die drei Unternehmen dominieren den globalen Markt zwar klar, werden aber von neuen Anbietern zunehmend unter Druck gesetzt – unter anderem vom 2015 gegründeten Startup Nuheara. Es vermarktet seine «Earbuds» (Ohrstöpsel) als Hörgeräte für Einsteiger.

Bose lässt die Audiologen links liegen

Zweitens – und relevanter – trumpft das neue Bose-Hörgerät mit einem wichtigen Vorteil auf: Es kann vom Käufer via App und Smartphone selbst ans eigene Gehör angepasst werden. Der Gang zum Audiologen oder Hörgeräte-Akustiker entfällt.

Für Sonova bedeutet das: Bose hat ein Produkt lanciert, das den im Hörgeräte-Markt üblichen Weg für Kunden oder Patienten abkürzt – und ausgerechnet die wichtigsten Verkäufer von Sonova-Produkten auslässt. Besonders bitter ist, dass Sonova in den letzten Jahren für Unsummen Audiologie-Ketten auf der halben Welt aufgekauft hat – mit dem Ziel, den direkten Kontakt zum Kunden herzustellen. Setzt sich das Do-it-yourself-Prinzip von Bose durch, werden bei Sonova ordentlich Abschreiber fällig.

«Der Marktantritt von Bose kommt einem Tabu-Bruch gleich. Erstmals wagt sich ein Unterhaltungselektroniker in den Markt der Medizinaltechniker.»

Drittens ist der Markteintritt von Bose so etwas wie ein Tabubruch. Bislang war das Hörgeräte-Business fest in der Hand von Unternehmen, die sich als Medizinaltechniker definierten. Jetzt wagt erstmals ein Unternehmen aus dem Bereich Consumer Electronics den Einstieg in der Markt. Ein ähnlicher Schritt wird von Experten auch durch den Smartphone-Giganten Samsung erwartet. Er ist jedoch bislang ausgeblieben.

Sonova und Co. verfolgen Boses Ambitionen schon länger

Boses Ambitionen, die eigene Akustik-Kompetenz nicht nur in Geräten der Unterhaltungselektronik zu kommerzialisieren, wurden in der Hörgeräte-Branche schon länger wahrgenommen. Vor rund zwei Jahren haben die Amerikaner etwa einen Kopfhörer lanciert, der Unterhaltungen in lauten Umgebungen technisch erleichtert. Nun aber erfolgt der direkte Angriff auf das Kerngeschäft von Sonova und Co.

Nicht zu unterschätzen ist viertens, dass es für Konsumenten leichter sein könnte, ein Hörgerät der Marke Bose zu tragen als ein Produkt von Sonova und Co. Bereits heute sind die Bose-Kopfhörer, welche Umgebungsgeräusche reduzieren, bei Vielfliegern und Geschäftsreisenden äusserst beliebt. Die Geräte werden vielleicht nicht gerade als cool wahrgenommen, sie sind aber akzeptiert und etabliert. Demgegenüber kämpfen Hörgeräte-Hersteller seit Jahrzehnten mit dem gesellschaftlichen Stigma, das ihren Produkten nach wie vor anhaftet. Demnach sind Hörgeräte so etwas wie Rollatoren fürs Ohr. Bose könnte das ändern – und gerade deshalb Marktanteile erobern.

«Die Hörgeräte-Hersteller kämpfen mit dem Stigma, das ihren Produkten anhaftet. Demnach sind Hörgeräte so etwas wie Rollatoren fürs Ohr.»

Fünftens schliesslich verfügt Bose – im Unterschied etwa zum Startup Nuheara – über ein weltweit ausgebautes Distributionsnetz von eigenen Läden und Händlern, online und stationär. Es ist für das Unternehmen also ein Leichtes, die neuen Hörgeräte in den Markt zu bringen. Auf den Goodwill von Audiologen und Audiologie-Ketten ist Bose nicht angewiesen.

Die Anleger nehmen die neue Konkurrenz sehr ernst

Sicher: Noch ist das Bose-Hörgerät nicht auf dem Markt. Und noch ist nicht bekannt, über welche Features das Produkt genau verfügen wird und wie leicht es Kunden fallen wird, es selbst anzupassen. Zudem wird es noch rund zwei Jahre dauern, bis Bose sein Hörgerät in seinen eigenen Läden in den USA verkaufen darf. Denn bis 2020 hat die FDA Zeit, entsprechende Regeln für den so genannten Over-the-counter-Markt zu definieren. Bis sie stehen, ist auch Bose auf Audiologen angewiesen. Schliesslich ist auch die technologische Expertise von Sonova und Co. in diesem Segment nicht zu unterschätzen. Diese Firmen haben über Jahrzehnte nichts anderes getan, als ihre Produkte zu verbessern.

Aber die Reaktion der Anleger auf die FDA-Zulassung für Bose zeigt: Die Aktionäre von Sonova, William Demant und GN North Store – alle drei Titel haben seit Wochenbeginn rund 10 Prozent eingebüsst – nehmen die neue Konkurrenz ernst.

Ergo ist Sonova-Chef Kaldowski gut beraten, am Investorentag vom kommenden Dienstag nicht nur über Aktienrückkäufe und technische Weiterentwicklungen zu informieren. Sondern eben auch auf die neue Situation einzugehen, die mit den «Bose Hearing Aids» im Hörgeräte-Markt entstanden ist.

Untenstehendes Youtube-Video von Cliff Olson, einem amerikanischen Audiologie-Arzt und Gründer der Audiologie-Kette Applied Hearing Solutions in den USA, kann Sonova-Chef Kaldowski – und Investoren – helfen, die neue Situation richtig einzuschätzen.

Marcel Speiser Handelszeitung
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