Entwöhnt von den Lieferungen aus Russland, auf die es lange Zeit angewiesen war, hat sich Europa beeilt, verflüssigtes Erdgas aus der ganzen Welt zu importieren, um seine Speicher aufzufüllen. Jetzt bedeutet eine Kombination aus ungewöhnlich warmem Wetter und erfolgreichen Ausschreibungen für LNG-Ladungen, dass die Anlagen fast voll sind, bevor die Europäer überhaupt die Thermostate aufgedreht haben. Auch die Gaspreise sind stark zurückgegangen und liegen bei weniger als einem Drittel ihres Höchststandes im Sommer.

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Doch es gibt noch Risiken: Vieles hängt vom Wetter ab, und ein Kälteeinbruch würde Europa schnell zwingen, seine Vorräte anzuzapfen. Die Regierungen sind auch besorgt über die Gefahr weiterer Sabotageakte gegen Energieanlagen, die den Markt ins Wanken bringen könnten. Doch Ende Oktober ist der Kontinent in besserer Verfassung, als die Politiker zu hoffen wagten, was die Aussichten für Inflation und Wirtschaftswachstum verbessert.

Gasschwemme hält wohl bis Dezember an

Die Lieferungen aus Russland sind seit letztem Jahr rückläufig. Die Nord Stream-Pipeline wurde in diesem Sommer zugedreht, bevor sie durch mehrere Explosionen beschädigt wurde. Das milde Wetter trägt dazu bei, die Nachfrage vorerst zu begrenzen, aber europäische Politiker sind besorgt, dass die im Vergleich zum Sommer niedrigeren Gaspreise den Verbrauch ankurbeln werden, wenn die Temperaturen sinken.

«Die europäische Gasschwemme wird voraussichtlich mindestens bis Dezember anhalten», sagte Giacomo Masatto, leitender Analyst und Meteorologe beim italienischen Energieunternehmen Illumia. «Es ist unwahrscheinlich, dass Europa im November einen längeren Kälteeinbruch erlebt.»

Der Gaspreis ist auf den niedrigsten Stand seit Juni gefallen, aber die Gefahren sind immer noch in den Marktpreisen enthalten. Die Februar-Terminkontrakte werden mit einem Aufschlag von 44 Prozent gegenüber November gehandelt, und auch die Kosten für den nächsten Winter sind höher, was zeigt, dass die Versorgungsprobleme voraussichtlich anhalten werden.

All dies bedeutet, dass eine Reduzierung der Nachfrage trotz der Verlockung niedrigerer Preise weiterhin unerlässlich ist.

«Die Fähigkeit Europas, eine parallele Strom- und Gaskrise in den nächsten zwei Jahren zu bewältigen, hängt stark von seiner Fähigkeit ab, die Nachfrage zu senken», so die Analysten von Timera Energy in einem Blog. «Wir glauben, dass die Krise noch lange nicht vorbei ist.»

Gas-Speicher bis zu 97,5 Prozent gefüllt

Die Bemühungen Europas, die Reserven zu erhöhen, haben dazu geführt, dass die europäischen Speicher zu 93,6 Prozent, die deutschen sogar zu 97,5 Prozent gefüllt sind, wie Gas Infrastructure Europe mitteilt. Das beruhigt zwar den Markt, reicht aber in Deutschland nur aus, um die Nachfrage für zwei Monate mit kälterem Wetter zu decken, so dass Europa weiterhin LNG-Ladungen anlocken muss.

Dem Bloomberg-Wettermodell zufolge wird das Wetter jedoch bis weit in den November hinein milder als gewöhnlich bleiben.

Bis dahin kommen weiterhin Schiffe an. Nordwesteuropa wird in diesem Monat voraussichtlich 82 Tanker mit LNG erhalten, 19 Prozent mehr als im September. Nach Angaben des Schiffsmaklers Fearnleys A/S bleiben mehr Schiffe in Erwartung höherer Preise und angesichts begrenzter Aufnahmekapazitäten für den Brennstoff länger in sogenannten schwimmenden Lagern. Diese Situation könnte laut Oystein Kalleklev, Geschäftsführer des LNG-Reeders Flex LNG Ltd. in Oslo, bis Mitte Januar andauern.

Russland kann Gasflüsse jederzeit stoppen

Der Bloomberg-Index für beladene Tanker, die 20 Tage oder länger auf dem Wasser sind, ist auf den höchsten Stand seit mindestens 2017 gestiegen. Letzte Woche warnte das spanische Unternehmen Enagas SA, dass es möglicherweise die Anzahl der Tanker begrenzen müsse, da es kaum Platz habe, um überschüssige Importe aufzunehmen.

Während die Preise derzeit fallen, könnte die Nachfrage aus Asien anziehen, und Russland könnte immer noch die Gasflüsse durch die Ukraine stoppen, entweder absichtlich oder aufgrund von Infrastrukturschäden, solange die Kämpfe andauern. Beides würde die Preise weiter in die Höhe treiben und auch das Auffüllen der Speicher im nächsten Jahr erschweren.

Unterdessen diskutieren die europäischen Energieminister auch über eine vorübergehende Begrenzung der Benchmark-Gaspreise. Eines der Hauptargumente gegen diese Maßnahme ist, dass sie es Europa erschweren könnte, weiterhin das in diesem Winter benötigte Flüssiggas zu beziehen.

«Wenn die Temperaturen zu sinken beginnen und die Speicher geleert werden, wird die Marktrealität des Missverhältnisses zwischen Angebot und Nachfrage zu höheren Preisen führen, was sich in einem weiteren Inflationsdruck niederschlägt», so Katja Yafimava, Senior Research Fellow am Oxford Institute for Energy Studies. «Dieses Problem wird sich im nächsten Winter wahrscheinlich noch verschärfen.»

(Bloomberg/bsc)