Um die Rekordinflation einzudämmen, erhöht die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen um 0,75 Prozentpunkte. Eine so starke Anhebung hat es seit Einführung des Euro-Bargelds noch nie gegeben. 

Ein Anheben der Leitzinsen wurde erwartet. Die Frage war nur, ob es 0,5 oder 0,75 Prozentpunkte sein würden. Jetzt herrscht Gewissheit: Neu liegt der Leitzins in der Euro-Zone bei 1,25 Prozent.

«Grund für den Beschluss des EZB-Rats ist, dass die Inflation nach wie vor deutlich zu hoch ist und voraussichtlich für längere Zeit über dem Zielwert bleiben wird. Aus demselben Grund geht der EZB-Rat davon aus, dass er die Zinsen weiter anheben wird», heisst es aus Frankfurt.

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Die Euro-Wächter hatten im Juli die Abkehr von ihrer jahrelangen Ära der Nullzinspolitik eingeleitet und dabei die Zinsen erstmals seit 2011 erhöht. Zwei weitere Zinsschritte werden in den kommenden Monaten erwartet, sodass der Leitzins bereits Ende Jahr bei 2 Prozent sein dürfte.

Der Druck ist da. Die Inflation in der Euro-Zone erklimmt inzwischen immer neue Höchstwerte. Im August stieg sie im Schnitt auf 9,1 Prozent. Drei Länder sind mit Inflationsraten konfrontiert, die über 20 Prozent liegen. Das vernichtet Kaufkraft. Das schafft Armut.

 

Je näher sich eine Volkswirtschaft bei Russland befindet, desto schlimmer ist die Situation. Osteuropa, wo das Geld ohnehin schon knapp ist, trifft es also am härtesten. Die Tschechen kämpfen gegen eine Inflationsrate von über 17 Prozent. In Ungarn haben die Preise um 15 Prozent angezogen.

Ausgerechnet jene Nationen, die verhältnismässig reich sind, kommen besser weg. Frankreich, Norwegen, Finnland, Schweden, Deutschland und Luxemburg haben mitunter die tiefsten Raten, wenngleich diese immer noch sehr hoch sind. 

Ein Abklingen des Teuerungsschubs ist angesichts der Energiekrise infolge des Ukraine-Kriegs nicht in Sicht. Die Rate ist mittlerweile mehr als viermal so hoch wie das Inflationsziel der EZB von 2 Prozent. Bei der heutigen Zinsentscheidung geht es daher auch um die Glaubwürdigkeit der EZB.

Notenbankchefin Lagarde erläuterte vor der Presse das Kalkül der Währungshüter in Frankfurt. Thema war auch die anhaltende Euro-Schwäche, denn dadurch verteuern sich die Importe, etwa von Öl, was die Inflation weiter anheizt. Seit Jahresbeginn hat der Euro zum Dollar bereits knapp 12 Prozent an Wert eingebüsst. Schauen Sie die Pressekonferenz hier nach:

Die EZB folgt mit ihrer Politik dem Weg der US-Notenbank Federal Reserve. Sie hat den Leitzins zuletzt zweimal in Folge ungewöhnlich kräftig um 75 Basispunkte angehoben – auf die Spanne von 2,25 bis 2,50 Prozent. Sie will an der Sitzung vom 21. September nachlegen. 

US-Notenbankchef Jerome Powell hat die Finanzmärkte bereits auf einen langen Kampf gegen die Inflation eingestimmt. An seiner Rede beim mittlerweile berühmte Treffen in der US-Stadt Jackson Hole sagte er, die Notenbank werde die Zinsen hochschrauben, «Until the job is done», «Bis die Arbeit erledigt ist». Bis die Inflation wieder unter Kontrolle ist. Selbst wenn das der Wirtschaft Schmerzen bereitet.

Fünf Grafiken zur Lage in Europa

 

Europa steckt seit Mitte der Nullerjahre in der Dauerkrise. Die Skepsis in der Bevölkerung wächst, weitere Integrationsschritte werden regelmässig an der Urne versenkt, sogar die europhilen Franzosen haben eine EU-Verfassung an der Urne abgelehnt. Es folgte eine Finanzkrise, die Schuldenkrise, der Brexit, die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg.

Europa wollte enger zusammenwachsen – und hat sich immer wieder selbst zerfleischt. Peripheriestaaten standen vor dem Bankrott. Griechenland wurde ein Spardiktat aufgezwungen. In Spanien stehen Immobilienruinen. Italien hat eine verlorene Generation und ein Bruttoinlandprodukt, das – auf die Bevölkerung heruntergebrochen – Jahr für Jahr sinkt. 

Europa ist Drama pur. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Probleme stapeln sich. Mehr lesen Sie hier.

Die Märkte reagieren gelassen auf den XXL-Zinsschritt. Der deutsche Leitindex Dax und der Eurostoxx 50 haben ihre Verluste nach dem Entscheid etwas eingegrenzt und notierten am frühen Donnerstagnachmittag jeweils rund 0,5 Prozent im Minus. Der Euro blieb schwach. 

«Der Preisdruck hat in der gesamten Wirtschaft weiterhin an Stärke und Breite gewonnen», räumte die EZB ein. «Getrieben wird die Inflation weiterhin von stark steigenden Energie- und Nahrungsmittelpreisen, vom in einigen Sektoren herrschenden Nachfragedruck infolge der Wiedereröffnung der Wirtschaft sowie von Lieferengpässen.»

«Auf kurze Sicht könnte die Inflation weiter anziehen», heisst es. Die Notenbank rechnet mit 8,1 Prozent Inflation im Gesamtjahr 2022. In ihrer Juni-Prognose hatte die EZB noch eine Teuerungsrate von 6,8 Prozent für das laufende Jahr vorhergesagt. Für das kommende Jahr rechnet die EZB mit einer durchschnittlichen Preissteigerung von 5,5 Prozent (Juni-Prognose: 3,5 Prozent). Für 2024 sagt die EZB eine Inflationsrate von 2,3 Prozent voraus (vorher: 2,1).

Ökonomen zur grössten EZB-Zinserhöhung seit 2002

 

Jörg Kramer, Chefvolkswirt Commerzbank
«Es ist gut, dass sich die EZB zu einem grossen Zinsschritt um 75 Basispunkte durchgerungen hat. Jetzt kommt es darauf an, dass sie ihre Leitzinsen in den kommenden Monaten trotz steigender Rezessionsrisiken auch tatsächlich weiter kräftig anhebt.»

Matteo Cominetta, Senior-Economist, Barings Investment Institute
«Das Signal, das die EZB den Märkten geben wollte, war laut und deutlich: Die Kontrolle der Inflation hat jetzt Priorität, die Vermeidung der Verschärfung einer Rezession, die jeden Tag wahrscheinlicher wird, ist zweitrangig.»

Ulrich Kater, Chefvolkswirt Dekabank
«Nach ihrem Spätstart nimmt die EZB Fahrt auf. Die Zinsen steigen weiter. Zuletzt hat sich die Datenlage zwar nicht mehr verschlimmert, aber die hohen Inflationsraten dauern bereits zu lange an. Das erhöht die Gefahr der Verfestigung. Die EZB hat mittlerweile Angst, dass ihr die Felle davonschwimmen und sie in ein jahrelanges Inflationsproblem hineinläuft. Die Frage lautet nur, warum dies erst so spät gesehen wurde.»