Mister Thaler, wir in Deutschland haben jetzt erst eine Nudging-Einheit eingerichtet. Ist das nicht ein bisschen spät?
Richard Thaler*: Ich finde es gut, dass die Bundesregierung auch auf Nudging setzt. Aber ich weiss nicht, was sie genau plant, niemand aus Deutschland hat mich bislang kontaktiert. Ich habe offensichtlich die Kontrolle über meine eigene Idee verloren, aber das zeigt, dass sie ganz erfolgreich ist. Ich bin näher an der britischen Kommission dran. Da gibt es inzwischen mehr als ein Dutzend Mini-Nudge-Einheiten in verschiedenen Ministerien. Die treffe ich aber einmal im Jahr und dann alle auf einmal.

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Wie fällt Ihre Bilanz der Nudge-Einheiten aus, die Regierungen beraten?
Sie zeigen, wie leicht der Staat mit einfachsten Mitteln politische Anliegen besser durchsetzt. In Grossbritannien zum Beispiel hatten es viele Hausbesitzer trotz Subventionen vor sich hergeschoben, ihren Dachboden isolieren zu lassen. Wie die Nudging-Leute herausfanden, hatten etliche nur nicht die Nerven, ihren Speicher aufzuräumen. Schliesslich bot man vor der Isolierung einen Entrümpelungsdienst an – das funktionierte. Häufig bringt es auch schon sehr viel, Gesetze verständlicher zu formulieren.

In den USA ist Ihr Ansatz stark umstritten. Besonders Republikaner werfen Ihnen vor, der Staat könnte mithilfe Ihrer Theorie die Bürger klammheimlich manipulieren. Was sagen Sie Ihren Kritikern?
Erstens: Es sollte keine Geheimnisse um Nudges geben, all die Anstösse sollten transparent sein. Das sind sie ohnehin oft automatisch. Die Fliege im Pissoir, die Männer zur Zielgenauigkeit verleitet, kann jeder sehen. Zweitens: Es ist unmöglich, die Leute nicht zu beeinflussen. Es ist also nur vernünftig, dass Experten sich zum Beispiel darüber Gedanken machen, mit welcher Formulierung man Bürger am effizientesten zum Steuerzahlen auffordert. Angela Merkel denkt vor einer Rede doch auch über ihre Wortwahl nach.

Die griechische Regierung muss ihren Wählern bald womöglich harte Einschnitte verkaufen, obwohl sie versprochen hatte, den Sparkurs zu beenden. Was sagt der Verhaltensökonom: Wie kann die Tsipras-Regierung die Wähler überzeugen?
Dafür gibt es sicher nicht den Königsweg. In Ländern wie Griechenland gibt es ein kulturelles Problem. Dort gilt der, der Steuern zahlt, als Trottel. Deshalb muss die Regierung von oben nach unten die Kultur und die Normen ändern. Aber das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Es braucht lange, bis Menschen ihre Gewohnheiten ändern. Das ist ja bei uns zum Beispiel bei den Football-Klubs auch nicht anders.

Inwiefern?
Die Analytiker im Management haben es ungemein schwer. Wir haben in einer Studie genau untersucht, nach welcher Strategie man Spieler einkaufen sollte. Wir haben gezeigt, dass die Vereine viel zu viel Geld ausgeben für Spieler, die sie jetzt in diesem Moment unbedingt haben wollen. Die schicken sie später sogar dann immer wieder aufs Spielfeld, wenn sie gar nicht so gut performen wie erwartet. Doch statistische Wahrheiten werden gerne ignoriert.

Gilt das auch für die Politik?
Absolut. Bleiben wir bei dem Griechenland-Beispiel. Dass die Griechen keine gute Steuermoral besitzen, ist unumstritten. Aber genauso klar ist: Das Sparprogramm in Griechenland führt zu niedrigem Wachstum. Auch die EU bräuchte also dringend eine «Nudge-Einheit»: Das heisst Experten, die Empfehlungen abgeben, die Menschen dazu bringen, ihr Handeln zu verändern.

Seit vier Jahrzehnten kämpfen Sie dafür, dass die Wirtschaftswissenschaft menschliches Handeln realistischer abbildet. Warum war der Widerstand gegen diese scheinbar nicht so revolutionäre Forderung so gross?
Bis zum Zweiten Weltkrieg haben Ökonomen Verhaltensforschung in ihre Arbeiten einfliessen lassen. Keynes war noch ein grosser Verhaltensökonom. Dann revolutionierte die Generation um Paul Samuelson mit ihren mathematischen Modellen die Wissenschaft. Damit ging aber eine Banalisierung einher. An jeder Highschool wird nun gelehrt, wie man mit Formeln Probleme löst, bei denen jemand seinen Nutzen maximieren will. Nur wird es viel schwerer, solche Modelle aufzustellen, wenn es den Leuten wie im richtigen Leben nicht nur um das eigene Interesse geht. Menschen sind eben keine rationalen Egoisten.

Wäre «Misbehaving Economics», also die sich danebenbenehmende Volkswirtschaftslehre, nicht der noch bessere Titel für Ihr neues Buch gewesen?
Das hätte auch gut gepasst.

In Ihrem Buch lassen Sie an der alten Lehre kein gutes Haar. Ist Ihr Werk eine Art Kriegserklärung?
Ich selbst würde nicht von Krieg sprechen, aber so falsch ist das Wort gar nicht. Es gab einige aufgeheizte Diskussionen zwischen den traditionellen Wirtschaftswissenschaftlern und uns Verhaltensökonomen. Das ist aber ein gutes Zeichen. Als wir in den 1970er-Jahren mit unserer Arbeit anfingen, wurden wir erst einmal zehn Jahre lang ignoriert. Viele unserer Kollegen dachten: Warum sollen sie sich mit Leuten beschäftigen, die so offensichtlich falsch liegen?

Das änderte sich dann aber doch.
Ja, aus Ignorieren wurde Ärger, etwa als wir das Konzept der «Unsichtbaren Hand», des sich immer selbst aufräumenden Marktes, infrage stellten. Das ziemlich vage Argument der Anhänger der Idee besagt, dass Märkte Leute disziplinieren, die sich nicht an die Regeln halten. Aber es gibt eben Menschen, die, nur weil sie schon bezahlt haben, einen Nachtisch aufessen, obwohl sie längst satt sind. Und von wegen Markt-Disziplinierung: Davon wird man höchstens ein bisschen moppelig. Märkte machen uns nicht rational.

Sie haben sich besonders auf das Verhalten auf Finanzmärkten konzentriert. Warum?
In der Finanzbranche geht es um viel Geld. Höher können die Einsätze kaum sein. Und es gab einen klaren Praxisbezug. Wir haben gezeigt, dass es auf den Finanzmärkten zu Überschwang und irrationalem Herdenverhalten kommt. Damit waren unsere Theorien erwiesen. Gerade erst wieder ist mir ein herrlich absurdes Beispiel unter diese Nase gekommen.

Und zwar?
Es gibt einen Investmentfonds mit dem Namen Cuba. Der Fonds wurde lange Zeit zu keinem guten Preis gehandelt. Doch als US-Präsident Barack Obama ankündigte, die Beziehungen zu Kuba zu verbessern, schoss der Fonds durch die Decke. Bis heute liegt er weit über dem Kurs der vergangenen Jahre. Das Dumme ist nur: Der Fonds hat nicht im Geringsten irgendetwas mit dem Land Kuba zu tun.

1987 begannen Sie in einer Kolumne für ein Fachmagazin etliche solcher Anomalien zu sammeln. Die Artikel beschreiben Sie im Buch als besonders hilfreich, um der Verhaltensökonomie zum Durchbruch zu verhelfen.
Wie bei allen Über-Nacht-Sensationen hat es 40 Jahre gedauert, bis die Wirkung unserer Arbeit allen klar war. Aber die Kolumne hat sicher geholfen, etwas Psychologie zu den Wirtschaftswissenschaften beizusteuern. In den ersten zwei Folgen etwa habe ich mich mit Kalendereffekten an der Börse beschäftigt, das heisst mit dem Phänomen, dass Aktien an Freitagen tendenziell steigen und an Montagen fallen. Ich konnte das auch nicht erklären, aber es passte zu einer Untersuchung, die ich zuvor mit dem Ökonomen Werner de Bondt veröffentlichte ...

... und die für einiges Aufsehen sorgte.
Wir wollten zeigen, dass viele Aktienbesitzer ihre Kaufentscheidung aufgrund unsolider Daten treffen. Wir nahmen an, dass Menschen in irrationalem Mass solche Firmen bevorzugen, die an der Börse jahrelang gut performten und umgekehrt andere vernachlässigten, deren Aktienkurs sich nicht so prächtig entwickelte. Die Annahme überprüften wir anhand der New York Stock Exchange. Wir betrachteten die Entwicklung der dort gelisteten Aktien über eine mehrjährige Periode und teilten sie dann in Gewinner und Verlierer ein. Und siehe da: Die Kursentwicklungen legten nahe, dass unsere Hypothese stimmte. Klingt trivial, aber das Ergebnis schockierte einmal mehr diejenigen, die behaupteten, Finanzmärkte arbeiteten effizient.

Waren Sie auch mal selbst überrascht über die Ergebnisse Ihrer Studien?
Meine Forschung beruht meist darauf, Menschen zu beobachten, und oft hatte ich vorher eine Ahnung, was ich herausfinden würde. So ging es mir beim Endowment-Effekt, also dem Phänomen, dass Menschen ein Gut höher schätzen, wenn sie es besitzen. Ich ahnte diesen Effekt, aber die Aufgabe war, ihn durch ein Experiment – in diesem Fall mit Tassen – auch zu belegen.

Also keine Überraschungen?
Doch, doch. Wir haben mal eine Gameshow untersucht, in der sowohl geschicktes Lügen als auch Kooperieren belohnt wurde. Nun weiss ich: Wenn ich jemandem trauen möchte, muss ich ihn dazu bringen, sich ausdrücklich festzulegen, in dem Fall: «Ich verspreche zu kooperieren.» Die Studie belegte übrigens noch etwas eigentlich Bekanntes: Traue keinem Mann unter 30.

Wie nutzen Sie denn Ihr Wissen in Ihrem Privatleben?
Meine Frau ist immun gegen Nudging. Sie ist zu clever und hat mein Buch gelesen. Aber wir alle nutzen Nudge-Techniken täglich. Wir erstellen To-do-Listen, wir stellen uns Wecker. Und es motiviert uns, wenn wir einen teuren Personal-Trainer buchen. Das funktioniert bei mir auch, meine Frau meint allerdings, ich solle es öfter machen.

Manchmal sind Sie aber doch ganz traditioneller Ökonom. Etwa, wenn Sie raten, das Kind nicht zu zwingen etwas anzuziehen, das es nicht mag, nur weil es besonders teuer war.
Solche Ausgaben fallen laut traditioneller Schule unter versunkene Kosten und sind vernachlässigbar. Echte Menschen quälen sich aber natürlich mit Tennisarm zum Tennisspielen, wenn sie den Platz vorher schon bezahlt haben. Ich predige meinen Studenten immer als Lebensregel: Ignoriert versunkene Kosten und geht davon aus, dass jeder andere es nicht tut.

Gibt es trotz aller Streitigkeiten so etwas wie eine gemeinsame Wahrheit unter Ökonomen?
Wir können uns auf eine Menge einigen. Zum Beispiel darauf, dass wir mehr Freihandel brauchen. Und es gibt durchaus eine Übereinstimmung darüber, wie Märkte prinzipiell funktionieren. Wir Verhaltensökonomen wollen die traditionelle Theorie ja nicht auf den Müllhaufen werfen, sie dient auch uns als Grundlage für unsere Modelle, wir dürfen sie nur nicht für absolut wahr halten.

Ihr Buch enthält auffallend häufig das Wort Nobelpreis. Sind Sie bereit?
Sagen wir so: Stockholm ist ein entzückender Ort, nur im Dezember würde ich da nicht unbedingt hinfahren. Aber man kann eine Ausnahme machen.

*Richard Thaler ist ein US-Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Universität von Chicago. Er gilt als einer der führenden Verhaltensökonomen und berät unter anderem Barack Obama.

Dieses Interview ist zuerst in unserer Schwester-Publikation «Die Welt» erschienen.