Herr Hatzius, welche Aktie haben Sie zuletzt gekauft?
Ich kaufe grundsätzlich keine einzelnen Aktien.

Und in welche Anlageklassen haben Sie jüngst investiert?
Im Moment gefallen mir Emerging-Markets-Aktien ganz gut: Die Wirtschaft in diesen Ländern sollte sich etwas besser entwickeln und die Bewertungen sind recht attraktiv. Wir sehen das zum Teil schon in den Wirtschaftszahlen, allerdings noch mit Ausnahme von China.

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Um wirklich etwas von Prognostikern zu erfahren, muss man sie nicht fragen, wie die Zukunft wird, sondern wo sie ihr Geld anlegen. Korrekt?
Das sehe ich etwas anders. Mein Ziel ist, die Wirtschaftsentwicklung richtig vorherzusagen. Die Märkte spielen dabei auch eine Rolle, aber letztlich geht es für mich um die Gesamtwirtschaft und um Zentralbankpolitik. Man kann bei der Wirtschaftsprognose richtig liegen, doch trotzdem bei der Anlagestrategie falsch – und umgekehrt. Das unterscheidet den Strategen vom Ökonomen.

Wie unterscheiden Sie das persönlich – Ihre langfristigen Erwartungen und Ihre Anlagen?
Im Wesentlichen trenne ich das. Manchmal hat man allerdings eine besonders starke Überzeugung, von der man denkt, die sollte sich im eigenen Anlageverhalten niederschlagen.
 

Jan Hatzius

Jan Hatzius, geboren 1968 in Heidelberg, ist seit 2011 Chefökonom von Goldman Sachs. Seit 2008 steht er im Range eines Managing Partner der Investmentbank. Er erhielt mehrfach Auszeichnungen für seine Arbeit, darunter den Lawrence R. Klein Award 2009 «für seine verblüffenden ökonomischen Prognosen im Vorfeld der Finanzkrise».

Hatzius ist Mitglied des Beraterbeirats der Federal Reserve Bank of New York und des Congressional Budget Office.

Wer den «Global Outlook» von Goldman Sachs für 2019 liest, der hat den Eindruck: Wir stehen vor einem paradiesischen Jahr.
Paradiesisch würde ich nicht sagen, nein.

Aber ziemlich positiv.
Ja, im Verhältnis zu den Ängsten, die man derzeit häufig hört. Wir denken, dass das globale Wachstum 2019 und 2020 zwar zurückgeht, aber dass es immer noch in der Nähe des langfristigen Trends liegt; allerdings mit ziemlich grossen Unterschieden von einem Land zum andern. In den USA sehen wir eine Abschwächung. In vielen Schwellenländern gibt es dagegen eine Erholung.

Was ist mit China und Europa?
Selbst da sollte sich im Jahresverlauf 2019 eine Stabilisierung ergeben, vielleicht sogar eine leichte Verbesserung. Das ist allerdings nur eine Vorhersage, es sind noch keine Fakten: Wir sehen es – anders als in diversen Schwellenländern – noch nicht in den Zahlen.

Wie erklären Sie sich die Abkühlung in Amerika? War die Trump’sche Steuerreform ein Strohfeuer?
In gewissem Masse, ja. Es war im Wesentlichen ein Nachfrageeffekt: Die Steuern sanken, die Staatsausgaben stiegen und dies schlug sich 2018 in mehr Wachstum nieder. Das schwächt sich dieses Jahr ab. Hinzu kommt die Straffung der Finanzbedingungen gegen Ende des abgelaufenen Jahres. Diese Straffung wird sich zumindest in den nächsten Monaten in weniger Wachstum niederschlagen.

Die Grundidee der «Trumponomics» besagt: Die USA können und sollen wieder Wachstumsraten erreichen wie zu Grossvaters Zeiten, also mehr als 3 Prozent. 
Und das nachhaltig. Damit könnten sie sich als Weltmacht halten und zugleich die Verschuldung lösen. Ist das realistisch?

Ich glaube nicht, dass sich das Potenzialwachstum vergleichen lässt mit jenem der 1950er oder 1960er Jahre. Ein Grund ist die Demografie: Die Erwerbsbevölkerung wächst einfach wesentlich langsamer. Im Schnitt lag das Arbeitskräftewachstum in der Vergangenheit vielleicht bei 1,5 Prozent, jetzt erreicht es gerade noch ein halbes Prozent. Hinzu kommt die verschärfte Einwanderungspolitik. Ausserdem war das Produktivitätswachstum in den letzten Jahren geringer als in der Vergangenheit, und wir erwarten auch da nur eine partielle Erholung. 

Wo hat Donald Trump in seiner Haltung zu China recht? Wo nicht?
Es gibt einen Konsens in den USA, dass China in der Vergangenheit unfaire Handelspraktiken gegenüber US-Firmen eingesetzt hat, aber auch gegenüber europäischen Unternehmen: Dabei geht es beispielsweise um die Überstellung intellektuellen Eigentums, wenn diese Firmen im chinesischen Markt agieren wollten. Donald Trump ist nicht der erste Präsident, der das kritisiert. Aber er ist der erste, der willens ist, eine härtere Gangart durchzusetzen.

Wie wird der Streit ausgehen?
Unsere derzeitige Arbeitshypothese ist, dass es am Ende doch eine gewisse Einigung gibt …

… und keine Eskalation.
Keine Eskalation. Aber ich kann nicht behaupten, dass ich mir bei dieser Prognose besonders sicher bin. Man kann hier letztlich nur einzuschätzen versuchen, was atmosphärisch aus diesen Verhandlungen verlautet. Man sieht nie genau hinein in die Dynamik in den Gesprächen – sowohl zwischen Amerika und China als auch unter den verschiedenen Trump-Beratern. Auch da gibt es sehr unterschiedliche Meinungen.

China hat zuletzt stetig tiefere Wachstumsraten gemeldet, diverse Indikatoren zeigen dort nach unten. Müssen wir uns auf einen nachhaltigen Abschwung einrichten?
Das Wachstum in China hat sich abgeschwächt, weil das Land versucht hat, das Schuldenwachstum einzudämmen. Dieses Ziel besteht weiterhin, aber in Peking sorgt man sich jetzt, dass sich das Wachstum zu stark abschwächt. Daher werden die Banken jetzt ermutigt, ihre Kreditvergabe wieder etwas auszuweiten; es gibt auch eine gewisse fiskalische Lockerung. Das dürfte sich in den kommenden Quartalen in einer Stabilisierung des Wachstums niederschlagen.

Es gibt innerhalb China, die Debatte, ob nicht zu viele Gelder in die falschen Kanäle fliessen – in die Infrastruktur und grosse Staatsbetriebe. Und dass sich ein weiterer grosser Umbau hin zu einer moderneren Struktur aufdrängt.
In der Krise der Jahre 2008 und 2009 hatte China die Wirtschaft stark stimuliert, was mit einem enormen Schuldenwachstum einherging. Das hat die Sorge geweckt, dass man damit den Boden für eine zukünftige Finanzkrise bereitet. Um dieses Risiko zu senken, hat China schon mehrmals versucht, das Schuldenwachstum einzudämmen. Wenn sich dies aber zu stark auf das Wachstum niederschlägt, folgt wieder eine Gegenbewegung. Derzeit befinden wir uns in einer Phase, in der man sich Sorgen macht, dass das Wachstum zu stark zurückgeht. 
 

Jan Hatzius Goldman Sachs

«China wäre Risiko Nummer eins»: Jan Hatzius beim «Handelszeitung»-Gespräch in Zürich.

Quelle: Markus Bertschi

Bei allem Positiven in Ihrem Gesamtbild: Von wo könnte denn der Schwarze Schwan daherfliegen? Wo sind die Risiken, die uns auf dem falschen Fuss erwischen?
Ich halte mich in erster Linie an die Risikofaktoren, die man mit unserem Modell oder mit der Historie abschätzen kann. In der Vergangenheit gab es zwei Hauptgründe für Rezessionen: entweder inflationäre Überhitzung, welche sich in einer aggressiven geldpolitischen Verschärfung niederschlug – oder Finanzkrisen, die durch spekulative Blasen und grosse Finanzierungsdefizite im privaten Sektor ausgelöst wurden. Und derzeit sieht es bei beiden Risikofaktoren recht beruhigend aus. Inflationäre Überhitzung kann man zwar nicht völlig ausschliessen, aber für 2019 erwarte ich das nicht. Und spekulative Blasen oder Finanzierungsdefizite im Privatsektor sehen wir eigentlich auch nicht; nicht in den USA, nicht in Europa.

Und wo sehen Sie unbekannte Risiken?
Es kann Faktoren geben, die in der Vergangenheit nicht unbedingt Rezessionen ausgelöst haben, die es aber in einer veränderten Lage tun könnten. Ein Aspekt ist die stärkere internationale Verflechtung. China ist heute wichtiger für die Weltwirtschaft – wenn es dort wirklich eine harte Landung gäbe, könnte das eine globale Rezession auslösen. Es ist schon zu beobachten, dass die weltweiten Finanzmärkte tendenziell stärker korrelieren. Das heisst: In einigen Ländern, die in China stark engagiert sind, könnten die Spillover-Effekte über die Finanzmärkte am Ende schon gross sein …

… also wieder das Risiko China. Und sonst?
China wäre Nummer eins. Nummer zwei wären politische Faktoren: so die inneren Spannungen in den Vereinigten Staaten, welche sich bereits wiederholt in fiskalpolitischen Krisen niedergeschlagen haben. Oder der Populismus in Europa. Und der Brexit? Den halte ich für eine grosse Herausforderung fürs Vereinigte Königreich, aber nicht für die Weltwirtschaft. Doch Europa insgesamt könnte ein Risikofaktor sein, etwa wenn die Spannungen in Italien wieder aufflammen. 
 

«Ich halte den Brexit für eine grosse Herausforderung für das Vereinigte Königreich, aber nicht für die Weltwirtschaft.»

Jan Hatzius

Was ist Ihre Botschaft an Aktienanleger?
Die Lage ist nicht so schlecht. Die Bewertungen für Aktien ausserhalb der USA sind sehr attraktiv. Amerikanische Aktien sind hingegen schon sehr hoch bewertet. Anlagen im Obligationenbereich sind nicht so attraktiv, wenn man nicht eine Menge Kreditrisiko auf sich nehmen möchte.

Kann man als Anleger auch lernen, zum rechten Zeitpunkt auch wieder aus dem Markt auszusteigen?
Das kann man, allerdings kommt vieles auf den Anlagehorizont an. Für langfristige Anleger sind Bewertungen sehr wichtig – also die Frage, wie viel Gewinnpotenzial und Dividenden und Rückkaufpotenzial man sich mit einer Anlage kauft. Unsere institutionellen Kunden denken in der Regel taktischer. Es sind zum Beispiel Fondsmanager, bei denen die Bewertungen nur eine gewisse Rolle spielen und es mehr um die Antizipation von wirtschaftlichen Veränderungen geht – also etwa um eine Beschleunigung oder Verlangsamung des Wachstums oder um eine härtere oder weichere Gangart der Zentralbanken. Derzeit sieht es aus taktischer Sicht in einigen Teilen der Welt etwas positiver aus. Die Zentralbanken werden in den kommenden Monaten etwas weicher zu Werke gehen. Und es gibt einige Bereiche der Weltwirtschaft, in denen es sogar eine Wachstumsbeschleunigung geben kann.

Erwarten Sie noch mehr Angriffe des US-Präsidenten auf die Spitze der US-Notenbank Fed?
Wenn es in der zweiten Jahreshälfte wieder zu Zinserhöhungen kommt, dann dürften auch die Twitter-Angriffe wiederkehren. Richtig neu ist Druck des Weissen Hauses auf die Geldpolitik nicht. Wir haben solche Einflussversuche schon in der Vergangenheit gesehen. Aber dafür muss man schon eine Weile zurückblicken, also etwa in die 1960er, 1970er und 1980er Jahre oder in die Zeit von Präsident George H. W. Bush. Und damals lief es viel mehr hinter den Kulissen, nicht per Twitter. Im institutionellen Gedächtnis der Fed ist das alles noch enthalten. Der ehemalige Fed-Vorsitzende Paul Volcker schildert in seinen Memoiren, wie Ronald Reagans Stabschef ihm einmal gesagt haben soll: «Der US-Präsident weist Sie an, die Zinsen nicht zu erhöhen.» Volcker hat das letztlich ignoriert, aber es zeigt die Debatten.

In der Schweiz gibt es auch einen gewissen Unmut über die Schweizerische Nationalbank SNB: Die Negativzinsen werden zunehmend eifrig kritisiert. Was sagt der Chefökonom von Goldman Sachs dazu?
Mein Eindruck ist, dass es bei den aktuellen Unsicherheiten in der Euro-Zone nicht Zeit ist, eine Normalisierung der Nationalbankpolitik zu erwarten. Selbst für die Europäische Zentralbank ist es unklar, ob man schon im Jahr 2019 mit der Zinsnormalisierung anfangen sollte. 

«Mein Eindruck ist, dass es bei den aktuellen Unsicherheiten in der Euro-Zone nicht Zeit ist, eine Normalisierung der Nationalbankpolitik zu erwarten.»

Jan Hatzius

Bloss erwachsen nun zunehmend drängende Kosten für den Schweizer Finanzplatz und die Pensionskassen.
Negativzinsen schaffen aus mikroökonomischer Sicht Verzerrungen. Ich kenne die Debatte in der Schweiz nicht im Detail, aber grosse makroökonomische Probleme sind deswegen nicht zu erwarten. Das zeigen jedenfalls die Erfahrungen bei anderen Notenbanken. Negativzinsen können grundsätzlich Teil eines expansiveren Massnahmenpakets sein. Expansion braucht man, wenn die Inflation unter dem langfristigen Ziel liegt. Negativzinsen sind dann sicherlich nicht das ideale Mittel. Es wäre allen lieber, wenn man mit konventionellen Mitteln der Geldpolitik das gleiche Ziel erreichen könnte. Aber wenn der Zins schon bei null ist und Massnahmen der quantitativen Lockerung genutzt wurden, dann sind Negativzinsen oft das Einzige, was einer Notenbank noch an Mitteln zur Verfügung steht.

Sie sind ein in Deutschland ausgebildeter Ökonom. Wie wirkt sich das an der Wall Street aus?
In Amerika sind Herkunft, Nationalität oder Akzent kein Thema. Es zählt mehr, was man sagt.

Und was erkennen Sie von New York aus in Europa, was wir hier nicht bemerken?
Nach der Finanzkrise hat man sich insbesondere in Deutschland zu sehr aufs Sparen konzentriert. Das wirkte kurzfristig kontraproduktiv. Insbesondere in der Krise der Jahre 2011 bis 2012 musste man einfach alles tun, um das Feuer zu löschen. Und da war geld- und fiskalpolitische Expansion das richtige Mittel, nicht Sparen.
 

Tim Höfinghoff
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