In der Schweiz wächst die Beschäftigung vor allem im staatlichen Sektor. Was geschieht hier?
Boris Zürcher: Bis 2008 war das Gesundheits- und Sozialwesen die am schnellsten wachsende Branche, an zweiter Stelle folgte die Industrie und das verarbeitende Gewerbe. Aber 2008 gab es eine Zäsur. Von da an haben die exportorientierten Branchen wieder verloren und das Gesundheits- und Sozialwesen hat sein Wachstum nochmals beschleunigt. Dazu kamen starke Zuwächse im Bildungsbereich und in der öffentlichen Verwaltung. Etwa drei Viertel des Beschäftigungszuwachses in den letzten sechs Jahren kommen aus dem staatlichen und dem staatsnahen Sektor.

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Ist das gut oder schlecht?
Da habe ich zwei Seelen in meiner Brust. Als Chef Arbeitsmarktpolitik stelle ich mit Befriedigung fest, wie viele Jobs geschaffen wurden und wie tief dementsprechend die Arbeitslosigkeit ist. Der Strukturwandel weg von den exportorientierten hin zu den binnenorienterten Branchen ging sehr geschmeidig vonstatten. Die Arbeitslosigkeit und vor allem die Kurzarbeit stiegen zwar 2009 an, gingen aber schnell wieder zurück. Wenn Beschäftigung geschaffen wird, ist das eine positive Entwicklung.

Was gefällt Ihnen daran nicht?
Das Thema führt über die enge Arbeitsmarktpolitik hinaus. Ist es nachhaltig, wenn der Staat so viele Stellen schafft? Im Gegensatz zu Industrie und Gewerbe handelt es sich ja um konsumptive Sektoren. Sie absorbieren Einkommen, das anderswo zuerst geschaffen werden musste. Wir haben eine ausgeprägt duale Wirtschaft. Der dynamische Exportsektor ist stark der internationalen Konkurrenz ausgesetzt. Die Unternehmen sind zu stetigen Rationalisierungen und Produktivitätssteigerungen gezwungen. Diese Dynamik führt dazu, dass unsere Kaufkraft ständig steigt. Die Einkommen, die hier verdient werden, werden dann in der Binnenwirtschaft, in Bildung, Gesundheit und im Bau investiert.

Aber das Gesundheitswesen macht uns gesünder, die Bildung klüger.
Natürlich. Wenn die Gesellschaft älter wird, muss auch die Pflege wachsen. Mit steigendem Wohlstand steigen die Ausgaben für Bildung und Gesundheit. Und solche Dienstleistungen sind schwierig zu rationalisieren. Nichtsdestotrotz ist der beschleunigte Anstieg doch besorgniserregend. Wir haben seit 2008 eine sehr ungleiche Entwicklung zwischen Binnen- und Exportsektor. Während die exportorientierten Bereiche stagnieren oder gar Beschäftigung verlieren, hat sich der Wachstumstrend bei den binnenorientierten Branchen nochmals beschleunigt. Wenn einseitig der konsumptive Sektor wächst, der stark administriert ist und jenseits von Marktsignalen funktioniert, kann das problematisch sein. Beim starken Wachstum des staatlichen und staatsnahen Bereichs stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit.

Warum?
Der Binnensektor kann ja nur wachsen, weil der Exportsektor so produktiv ist. Aber die Gefahr besteht, dass der dynamische Sektor erstickt wird.

Was heisst das?
Gegen die Konkurrenz aus dem staatlichen Sektor hat er beispielsweise Mühe, Fachkräfte zu finden. Dazu trägt er den Grossteil der Steuerlast und leidet unter der zunehmenden Regulierung. Wir müssen aufpassen, dass wir die Gans, die goldene Eier legt, nicht schlachten. Wenn im Gesundheitswesen die Kosten steigen, erhöht man einfach die Prämien. Das funktioniert in der Exportwirtschaft nicht.