Besucher des Festivals von Cannes konnten sich bereits vor ihrer Ankunft durch ein im Internet zirkulierendes Video mit der Lage an Ort und Stelle vertraut machen. Zu sehen waren die berühmten roten Stufen des Festivalpalastes, aber darüber stöckelten nicht Angelina Jolie und Catherine Deneuve. Vielmehr stürmten vier Maskierte mit Maschinenpistolen die Treppe hinauf, Detonationen erklangen, und auf dem Vorplatz – wo sonst Autogrammjäger warten – wälzten sich Verwundete.

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Das Video war nicht das Werk eines sensationsgierigen Produzenten, der an der Angst vor Anschlägen bei dem grössten Publikumsereignis in Frankreich verdienen wollte. Es stammte von den Sicherheitskräften. Kurz vor Beginn der Festspiele hatten sie einen Überfall auf ebendiese simuliert; «von 6 bis 13 Uhr», wurden die Anwohner in einem Flugblatt informiert, «könnten Sie Explosionen vernehmen», «jegliche Aufnahmen von der Simulation in Bild oder Ton sind verboten».

Israelische Hilfe gegen Grossangriff

Vermutlich war das Video zur Beruhigung gedacht, nur die stellte sich nicht so recht ein. Die Stadt hat den israelischen Brigadegeneral Nitzan Nuriel als Sicherheitsberater engagiert, doch auch dessen Begründung für die Terrorübung lässt einen nicht besser schlafen: «Wir müssen auf ein Multi-Terror-Ereignis vorbereitet sein, nicht an einem Ort zu einer Stunde, sondern an mehreren Orten über mehrere Stunden.»

Der Palais du Film bleibt für einen auf grösstmöglichen Propagandaeffekt zielenden Anschlag das bestmögliche Ziel. Er ist eine Ikone. Er ist ein Symbol. Er ist in seiner labyrinthischen Undurchdringlichkeit auch die heimliche Hauptfigur des Kriminalromans «Mörderische Côte d'Azur» von Christine Cazon. Hätten sich dort Bewaffnete eingenistet, es würde Tage dauern, sie zu vertreiben. Sie dürfen also gar nicht erst hinein.

Sicherheitspersonal auf Undercovermission

Seit Jahren gibt es Taschenkontrollen am Haupteingang, bei denen man aber bisher den Verdacht hatte, sie dienten gar nicht der Sicherheit, sondern der Reduzierung von Reinigungskosten, weil vor allem Getränke und Lebensmittel beschlagnahmt wurden. Wer sich auskannte, kam auf Schleichwegen unkontrolliert in den Palast. Eine erste Umkreisung des Palais zeigt allerdings: Jetzt ist der Verteidigungsring wirklich geschlossen.

Die Kontrolleure sind überall. «Sollte jemand auf die Idee kommen, am Strand zu landen und den Palast von hinten zu attackieren», sagt ein Polizist: «Kein Boot kommt in die Bucht, das wir nicht auf dem Schirm haben.» Angeblich streifen Hunderte von Sicherheitsleuten undercover durch den Palast, doch müssten sie leicht zu erkennen sein: Man muss nur auf Leute achten, die nicht den derangierten Look des Kritikers zur Schau tragen.

In Sichtdistanz zu vormaligem Terrortreffpunkt

Ich beginne, die alten Wege im Palast abzulaufen. Die Holzbrücke zum Gebäude des Filmmarkts: noch begehbar. Der Kellerpassage zum Bühneneingang: noch nicht geschlossen. Die Treppen zur Dachterrasse, wo man den schönsten Blick aufs Meer hat und sich mit seinem Laptop hinsetzen und Artikel wie diesen schreiben kann: noch nicht gesperrt.

Man kann sich auch umdrehen und auf die Stadt blicken, auf den Prachtboulevard Croisette, dahinter die Einkaufsmeile Rue d'Antibes sowie die Stadtautobahn. Direkt an der Schnellstrasse liegt das Polizeirevier, und geht man davon noch 300 Meter die Avenue du Petit Juas den Berg hinauf, steht man vor der Mosquée Al Madina. Die war einmal Treffpunkt einer der gefährlichsten Terrorzellen Frankreichs.

Dschihad-Zelle im Campingwagen

Der Rektor von Al Madina heisst Moustapha Dali. Das Leben bescherte ihm eine merkwürdige Verbindung zum Schaugeschäft. Einst kam er mit Schauspielträumen aus Algerien nach Frankreich. Ein Agent forderte ihn auf, einen französischeren Namen zu wählen; als er sich weigerte, endete die Karriere, bevor sie begonnen hatte. 40 Jahre ist das nun bald her, vier Jahre liegt es zurück, dass ein Campingwagen Quartier vor seiner Moschee bezog, 40 Tage lang während des Ramadan.

Ein paar junge Männer wohnten darin, kamen zum Beten in die Moschee. Dali entging nicht, dass die Polizei eine Überwachungskamera aufstellte, und er wunderte sich, dass die beim Abschleppen sonst scharfen Flics den im Parkverbot stehenden Wagen ignorierten.

Späte Information der Öffentlichkeit

Man kann vom Dach des Palasts auch die Küste entlangschauen, zu einem Vorort namens Mandelieu. Dort wurde 2013 einer der Camper festgenommen, die Polizei fand einen USB-Stick mit einer Datei namens «Wie man im Namen Allahs eine Bombe baut» sowie drei Büchsen Red Bull mit Sprengstoff. Der Verhaftete soll Mitglied einer 22-köpfigen Dschihad-Gruppe gewesen sein, für die Polizei die «Cannes-Torcy-Zelle».

Auch bei einem von Dalis Predigern pochte die Polizei an der Tür, eine der inzwischen berüchtigten 8.30-Uhr-Razzien ohne Durchsuchungsbefehl: Afif Lattar wurde eröffnet, er fördere den Extremismus und dürfe nicht mehr predigen; inzwischen hat Lattar vor Gericht eine Entschuldigung und eine Entschädigung erfochten.

All das erfuhr man erst Monate später, hier in Cannes sind sich Politik und Medien einig, ihren Touristen ängstliche Grübeleien zu ersparen. Gibt es noch die «Yacht Girls», die auf den in der Bucht ankernden Schiffen russischer und arabischer Millionäre bis zu 40'000 Dollar pro Nacht verdienen können? Hat man je den Mann gefasst, der vor drei Jahren mit Motorradhelm und Pistole ins Nobelhotel «Carlton» marschierte und Juwelen im Wert von 100 Millionen Euro einsackte? Cary Grant, der Juwelendieb in Hitchcocks «Über den Dächern von Nizza», im «Carlton» gefilmt, wäre vor Neid erblasst.

Unterschiedliche Verteidigungsstrategien

Plakate weisen uns stattdessen darauf hin, dass das Wegwerfen einer Getränkebüchse eine Ordnungswidrigkeit darstelle, belegt mit 180 Euro Strafe. Muss man sich nun, nach Terrorwarnungen für Mittelmeerstrände, auch vor Red-Bull-Blech im Sand fürchten? In der Rue du Canada, einer Nebenstrasse am «Carlton», stehen die schwarzen Limousinen, die die Stars zum Teppich chauffieren. Im Vorbeilaufen sehe ich, dass sie von Sprengstoffhunden umkreist werden; zum Glück bin ich erst auf dem Weg zum Markt, sonst wäre auch der Rosmarinschinken in meiner Umhängetasche beschnüffelt worden.

Er wünsche sich, dass auch im «Carlton» Hunde patrouillierten, hat dieser Tage Tom Bernard gesagt, Präsident von Sony Pictures Classics. Doch dort gibt es keine Hunde, Tascheninspekteure, Metallscanner. Das Majestic hingegen kontrolliert streng. Es gibt einen gemeinsamen Sinn fürs Gefährdetsein, aber keine gemeinsame Verteidigung.

Feigheit vor dem Feind

Alle hier teilen die Gewöhnung an die Gefahr, das achselzuckende Sich-dem-Schicksal-Überlassen. Ein paar Cannes-Veteranen erinnern sich noch des Festivals vor 30 Jahren. Im Vorfeld hatte Präsident Reagan Libyen bombardiert, daraufhin liessen Terroristen eine Bombe auf dem TWA-Flug 840 über Griechenland explodieren und wiederum kurz darauf wurde die bei amerikanischen Soldaten beliebte Diskothek «La Belle» in West-Berlin Ziel eines Anschlags.

Auch damals verschärfte das Festival die Sicherheit – umsonst, die Stars blieben aus. Sylvester Stallone, Burt Reynolds, Richard Gere und Whoopi Goldberg sagten ab, ebenso Regisseure wie Woody Allen und Steven Spielberg. Drei Jahrzehnte später haben Allen und Spielberg neue Filme an der Croisette, und obwohl der Terror Cannes viel näher ist als damals, werden sie die roten Stufen erklimmen, mit ihren Stars. Alles andere wäre Feigheit vor dem Feind.

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