Entscheidungen machen uns zu dem, was wir sind. Sollen wir sie einem Algorithmus überlassen? Unbedingt! Es beginnt gleich nach dem Aufstehen - Anzug oder Jeans? – und zieht sich durch den Tag: Cappuccino oder Latte, Sushi oder Pizza, TV & Couch oder Kino & Kneipe? Und dann sind da die grossen Fragen, an die wir uns nur ungern rantrauen: Sollen wir ein eigenes Heim kaufen? Den Job wechseln? Den Partner? 

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Entscheidungen machen unser Leben aus. Sie machen uns aus. Kann man sie einem Computer überlassen? Ja, unbedingt, sagt Jonathan Jackson, der Entwickler von Choicemap, einer digitalen Entscheidungshilfe (Gratis im iStore). Entstanden ist Choicemap eigentlich, weil Jackson ein neurologisches Handikap hat: Er leidet unter Synästhesie. Betroffene nehmen Sinneseindrücke gekoppelt wahr – so sind  etwa bestimmte Buchstaben mit einer bestimmten Farbe verbunden. Lange bekannt, aber kaum erforscht, hat es Synästhesie jüngst zu einer Art Modeleiden gebracht. Hip Hop Star Kanye West und Rapper Frank Ocean haben sich als Synästhetiker geoutet, die Musiknoten als Farbe wahrnehmen.

Frag die App - von der Form der Geburtenkontrolle bis zur Dissertation

Jackson behauptet, den internen Entscheidungsprozess als dreidimensionales Diagramm wahrzunehmen. Die Dicke der verschiedenen Linien darin kennzeichne die Wichtigkeit der verschiedenen Faktoren. Damit Normalmenschen eine ähnliche Transparenz erreichen, wenn sie über ihre Möglichkeiten nachdenken, hat Jackson einen Algorithmus entwickelt, der seinen Denkprozess nachahmt.

Wenn man so will, ist es die Smartphone-Variante der Listen mit Vor- und Nachteilen. Jackson hat bereits eine beachtliche Auswahl an Alltagsentscheidungen einprogrammiert – von B wie Babynamen, über Geburtenkontrolle, dem passenden Dissertationsthema bis hin zum Lebenspartner. Wer will kann aber Choicemap für individuelle Fragen nutzen – dann müssen allerdings alle gewünschten Faktoren selbst formuliert werden. Das erfordert einiges an Vorbereitung und Zeit.

76 Prozent für den historischen Thriller?

Ich teste erst einmal mit etwas Unverfänglichem: Welches Buch soll ich als nächstes lesen? Zunächst fordert Choicemap den Nutzer auf, die verschiedenen Optionen einzugeben. Also gebe ich die drei Bücher ein, die zuoberst auf dem Stapel neben meinem Bett liegen: den jüngsten Krimi aus einer Serie, die ich bisher verschlungen habe, den zweiten Teil einer napolitanischen Familiengeschichte (Elena Ferrante, vom Buchhändler empfohlen) oder Wolf Hall, den preisgekrönten Historienthriller, den ich mir so dringend von meinem Liebsten gewünscht, aber bisher nicht angefangen habe.

Nachdem die Optionen festliegen, fragt mich Choicemap nach meinen Prioritäten. Wie wichtig ist es mir, ob das Buch heiss empfohlen wurde? Die Skala geht von «Ignorieren» bis «Oberste Priorität». Weitere Fragen sind: Ob es mich mitreisst? Ob ich etwas daraus lerne? Lege ich wert darauf, dass das Werk auf der Bestsellerliste steht? Das sind alles Prioritäten, die Choicemap mir schon vorgibt. Wer will, kann aber beliebig viele eigene Faktoren hinzufügen. Ich ergänze die Liste um den Faktor «Geschenkt bekommen, schlechtes Gewissen».

Bessere Denkprozesse mit Hilfe vom Nobelpreisträger

Dann bewerte ich jede Option – den Krimi, die Familiensaga und den Historienthriller – anhand der einzelnen Prioritäten: Wie gut erfüllt das Buch jeweils die Prioritäten: Ist es ein Bestseller, voller interessanter Informationen, Spannung und so weiter. Dann muss ich nur noch auf „Ergebnis“ klicken – und der Algorithmus sortiert und gewichtet meine Antworten in Sekundenschnelle. Und der Gewinner ist: Wolf Hall mit 76 Prozent, hauchdünn vor der Familiensaga (ausschlaggebend war wohl mein Geschenk-Faktor: So wichtig nehme ich liebevolle Gesten!).

Die App erziehe zur Ehrlichkeit, glaubt Jackson. Und zu durchdachteren Entscheidungen. Der Choicemap-Erfinder ist von den Entscheidungstheorien des US-Wirtschaftsnobelpreisträgers Daniel Kahneman beeinflusst. Kahneman, von Haus aus Psychologe, unterscheidet zwei grundsätzliche menschliche Entscheidungsprozesse. Der eine ist schnell, unbewusst und emotionsgesteuert - der zweite dagegen bewusst, langwierig und überlegt. Jacksons App versucht, bessere Entscheidungen zu ermöglichen, in dem er den Prozess bewusst macht, aber durch den Algorithmus beschleunigt.

Alltags-Narzissmus für die gute Sache

Mehr auf die emotionale Komponente geht derweil eine App namens Feels ein. Zugeschnitten auf die Texting-Generation, können Nutzer die verschiedenen Faktoren ihrer Entscheidung mit Emoticons bewerten – vom Stirnrunzeln bis zum breiten Grinsen. Feels (2,99 Dollar iStore), entwickelt als Projektarbeit von Studenten des College for Art and Design in Savannah, hat im Gegensatz zu Choicemap keine Kategorien vorgegeben. Alles (die einzelnen Optionen und alle Faktoren, nach denen sie bewertet werden sollen) muss vom Nutzer selbst formuliert und eingegeben werden. Dafür bietet Feels nette Extras: Die einzelnen Optionen etwa können mit Fotos bebildert werden.

Beide Apps beruhen letztlich darauf, Entscheidungen in kleine Schritte zu zerlegen. Und sie kommen unserem Alltags-Narzissmus entgegen, Tests über sich selbst auszufüllen. Jackson behauptet, sich im Zweifel an die kalkulierte Empfehlung seines Codes zu verlassen und nicht auf seinen Instinkt. So habe er auch seine heutige Frau geheiratet. Ich habe Wolf Hall immerhin griffbereit. Aber jetzt lese ich noch schnell einen Roman, der mich im Buchladen angelacht hat.

 

 

Dieser Artikel erschien zuerst auf Bold Economy – das umfassende Nachrichtenportal zur digitalen Revolution.